Man steht da und bekommt den Mund vor Staunen nicht mehr zu: Da singt ein Kinderchor eine umgedichtete Version von „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“. Eine fiktive Oma darin wird zur Umweltsau erklärt, die mit ihrem SUV Opas überfährt, täglich Discounterfleisch isst und Kreuzfahrten unternimmt. Wohl war es — das ging aus dem Zusammenhang hervor — gerade als Parodie auf individualisierte Kritik mancher „Fridays for Future“-Kids an den Älteren gemeint. Man muss das nicht gut finden, man kann sich aufregen. Aber alles, was in den Wochen danach geschah, bis hin zu Aufmärschen und Morddrohungen gegen Redakteure und freie Journalisten, gleicht einer wahnhaften kollektiven Entgleisung, die jeder Beschreibung des Alltags in psychiatrischen Akutstationen spottet.
Wie kam es dazu, zumal das Lied schon einmal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorgetragen worden war und nichts dergleichen ausgelöst hatte? Gut ausgewertet ist, dass rechtsextreme „Influencer“ die Parodie verbreitet und für ihre Zwecke ausgeschlachtet hatten. Nur etwa 500 Twitter-Accounts, allesamt aus diesem Spektrum, waren extrem aktiv dabei, den Volkszorn zu erwecken. Teilweise wohl verabredet, fabrizierten sie zunächst einen Shitstorm auf der Seite des WDR, um dann ihre Hassbotschaften inklusive Video wie irre zu teilen. Aus der fiktiven Oma wurden alle Omas. Des menschlichen Geistes unwürdig ist, was dann geschah.
Auch Blödsinn gehört zur Meinungsfreiheit
Noch am selben Abend nach der Veröffentlichung knickte WDR-Chef Tom Buhrow vor dem virtuellen rechten „Angriff“ ein. Wenig souverän ließ er das Quatschlied entfernen. Dabei hätte ihm wie jedem anderen beteiligten Journalisten folgendes bekannt sein müssen:
Erstens gehört auch Blödsinn zur Meinungsfreiheit, selbst dann, wenn er von überregten Gemütern falsch verstanden werden kann. Zweitens findet ausnahmslos jeder Beitrag eines Journalisten seine Hater, ganz egal, ob es um einen Bericht über Hartz-IV-Sanktionen oder einen Meinungsbeitrag zur Altersarmut geht. In Zeiten des Internets wird das eben sichtbarer. Insbesondere bei diesem Ulk war damit rechnen.
Drittens wurde nicht erst gestern aufgedeckt, wie rechte „Influencer“ einige Hundert oder Tausend Anhänger um sich scharen und sie zu Shitstorms animieren. Jeder kritische Journalist dürfte damit in den vergangenen Jahren konfrontiert gewesen sein. Viertens musste den Verantwortlichen klar sein, dass das Einknicken die Grüppchen nur bestätigt in ihrem Hass. Etwas erreicht zu haben, spornt an.
Fünftens, und das ist besonders wichtig, verzerren derlei mindestens teilweise koordinierte Shitstorms massiv die Wirklichkeit. „Viele Zuschauer“ hätten sich massiv beschwert, ist so ein Ausdruck für verzerrte Wahrnehmung. Dazu müsste man schauen: Wie viele Zuschauer hat der WDR und wie viele haben sich tatsächlich aufgeregt? Und wie kam es überhaupt dazu? Dass wenige Accounts massiv Bambule machen können, ist bekannt. Und wenn tatsächlich die eine oder andere „Oma“ angerufen hat beim WDR: Wurde sie nicht erst von den Hatern, die im Gros wohl keine Omas waren, dazu animiert?
Oma-Protest in Springerstiefeln
Nach dem Entfernen des Videos ging es jedenfalls erst richtig los: Empörte „Omas“ — nicht wenige von ihnen mit Springerstiefeln, Glatzen und einem Aufnäher der rechtsradikalen „Bruderschaft Deutschland“ an der Jacke oder angehörig der sogenannten Identitären Bewegung — marschieren vor der WDR-Zentrale auf. Journalisten werden mit Morddrohungen bombardiert. Eine Sondersendung wird produziert. Hinz und Kunz aus der Politik geben ihren Senf dazu. Wochenlang! Zum Thema Oma, Hühnerstall, SUV und so.
Wird es bald einen Brennpunkt zu „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ geben, weil sich alle Schwiegermütter dadurch beleidigt fühlen? Man fasst sich an den Kopf.
Aber damit nicht genug: Im neuen Jahr folgte auch noch ein Brandbrief von WDR-Redakteuren, die ebenso wie sämtliche rechte Grüppchen — aus völlig anderen Gründen freilich — die Absetzung Buhrows forderten. Öffentlich! Emotional ist das sicher verständlich: So unprofessionell wie Buhrow sollte sich ein Intendant nicht verhalten. Es ist ein mieses Zeichen an freie Mitarbeiter, die ohnehin schon die wirtschaftlich schwächsten Glieder sind, ihre Beiträge erst einzustellen, dann wieder zu entfernen. Trotzdem hätte man sich an dieser Stelle des bereits zum Wahnsinn eskalierten Pseudokonfliktes beherrschen können.
Individualisierte Symptome
Die neurotische „Oma-Gate-Hysterie“, mit der Deutschland in die 2020er Jahre gestartet ist, spiegelt indes genauso beispielhaft den entfremdeten Zustand unserer Gesellschaft wider, wie der Inhalt der WDR-Dichtung, den man auch einfach hätte ignorieren können.
Tatsächlich wird im Text — zumindest oberflächlich — in bekannter kleinbürgerlicher Manier die gigantische Umweltzerstörung durch die profitgetriebene kapitalistische Produktionsweise individualisiert. Es ist ein berühmtes Muster der Herrschenden: Die Lohnarbeitskraft-Verkäufer sollen bitteschön die Schuld bei sich selbst suchen.
Das ist so falsch, wie es trotzdem Wahrheiten enthält. Denn die Profitmaschine wird am Laufen gehalten durch eben diese Mitläufer. Die stecken freilich in Widersprüchen fest: Man braucht einen Arbeitsplatz zum Überleben, auch wenn er Umweltsau-Konzernen dient. Man muss Grundbedürfnisse befriedigen, auch wenn die Produkte dafür umweltschädlich produziert werden. Andererseits nahmen es die meisten Omas und Opas, Mütter und Väter widerspruchslos hin, als Plastiktüten und unsinnige Schrottwaren den Planeten überschwemmten, und so weiter — nur zum Beispiel.
Die Jugend gegen träge Bewahrer
Fakt ist doch: Viele Erwachsene haben sich eingerichtet. Sie sehen ungeniert zu, wie die Müllberge wachsen, wie Kriege um Öl und andere Ressourcen, woran auch die Rüstungsindustrie hängt, den Planeten überziehen. Sie wehren sich nicht gegen den Zerstörungsfeldzug der Großkonzerne, blicken teilnahmslos auf die vom Kapital vorangetriebene Klimakatastrophe, die schon jetzt zu Wasser- und Nahrungsmangel, Verteilungskriegen, Hungerkatastrophen, Verelendung und Flüchtlingen führt. Sie laufen einfach mit.
Es ist nicht zu leugnen: Viele Ältere sind einfach zu trägen Bewahrern eines immer unhaltbareren Ist-Zustandes mutiert. Auch ehemalige 68er. Der Staat versorgte sie mit Pöstchen und sie lernten zu schweigen. Hinzu kommt: Schon immer hat sich die Jugend gegen ihre Eltern in der einen oder anderen Weise aufgelehnt.
Aber dieser Konflikt aktuell ist tatsächlich mehr und wird von zwei Parteien ausgetragen:
Die einen haben sich noch nach Kriterien des 20. Jahrhunderts eingerichtet. Ihnen ging und geht es um einen sicheren Arbeitsplatz, eine hübsche Wohnungseinrichtung, das Auto und den jährlichen Familienurlaub — ohne einen Blick auf den ökonomischen Wahnsinn dahinter. Nun kommen — meistens! — junge Menschen daher und erdreisten sich, ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen: Dass die Menschheit global gewaltig etwas unternehmen muss, um die Ausrottung ihrer Lebensgrundlage zu bremsen.
Das führt zu Abwehrkämpfen. Und zwar zu massiven Abwehrkämpfen derer, die sich im oder nach dem Muster des 20. Jahrhunderts eingerichtet haben und jetzt die eingeforderte Anerkennung ihrer „Lebensleistung“ nicht erhalten. Kaum jemand gesteht sich gern ein, Fehler gemacht zu haben — schon gar nicht, wenn es das gesamte bisherige eigene Leben betrifft. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo schreibt auch manchmal Quatsch, aber er brachte es Anfang Januar auf den Punkt: Die 2020er Jahre würden gekennzeichnet sein durch Abwehrkämpfe derer, die all ihre Mühen in die überholte Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gestellt haben, schrieb er sinngemäß.
Die Hilflosigkeit hinter dem Durchdrehen
Das kollektive panische Ausrasten, animiert von interessierten rechten Gurus, hat seinen Ursprung wahrscheinlich in den Widersprüchen, die das System erzeugt.
Im Kapitalismus geht es nicht ums Sein. Es geht ums Haben, wie schon der Psychoanalytiker Erich Fromm einst bemerkte.
„Haben“ mittels Aufsteigen im Job, Aufsteigen durch Anpassen, Anpassung an fremdbestimmte Lohnarbeit, mag sie einem auch unsinnig oder schädlich erscheinen. Groß ist die Angst vor Verlust. Verlust heißt heute Abstieg.
Die Widersprüche sind so immanent, so symptomreich, so krisendynamisch zunehmend, dass sie kaum stillschweigend ignoriert werden können. Ein Ausweg aber scheint nicht in Sicht. Die hilflose Psyche wehrt sich. Man flüchtet in jene kollektive Verantwortungslosigkeit, die die Herrschenden vorleben. Man schreit, tobt, blockiert, wütet, projiziert. Feindbilder liefern die politischen Fraktionen, die um die Macht ringen.
Verdrängung des Sichtbaren
Die völlig abstruse Hysterie um ein Kinderchorlied ist letztlich der Ausguss verdrängter und bekämpfter Widersprüche in einem System, wo von sich selbst entfremdete Statusakrobaten verzweifelt und immer rabiater um die Futtertröge drängen. Und nicht zuletzt steckt darin auch der Kampf um Deutungshoheit in Sachen Klimakrise. Dort zeigt sich das gleiche Bild:
Die einen warnen, präsentieren so schnöde wie beängstigende Forschungsergebnisse, die alles andere als eine rosige Zukunft versprechen. Und die Gefahr ist schon lange zu sehen: Die Temperatur steigt, die Gletscher schmelzen, reiche Küstenstädte erhöhen ihre Dämme wegen der wachsenden Flutgefahr, arme können das nicht. Wüsten breiten sich aus, die Zahl der Hungernden und an Wasserknappheit Leidenden nimmt bereits jetzt zu. Hitzewellen mit Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius überziehen ganze Landstriche, aktuell Australien. Doch während dort Buschbrände nie dagewesenen Ausmaßes immer mehr Opfer fordern, sorgt Premierminister Scott Morrison für mehr Arbeitsplätze in gigantischen Kohleminen. Es ist verrückt.
Morrison gehört zur Fraktion der anderen, der wütenden Ignoranten, die tagein, tagaus „Klimakirche!“ schreien. Wilde Verschwörungstheorien, ausgedacht von Thinktanks der Ölgiganten mit Namen wie Heartland Institute oder EIKE, kursieren im Netz. Wer darauf anspringt, glaubt offenbar, dass es im Kapitalismus erst seit gestern darum geht, Profite einzutreiben.
Vielleicht weiß er aber einfach nicht, dass es bei den allermeisten Kriegen der letzten 100 Jahre um Öl ging, keineswegs um Windräder und CO2-Zertifikate. Und dass die Waffenschmieden ohne Öl nichts produzieren könnten. Zu vermuten ist zudem nicht nur ein fehlendes Verständnis dafür, wie Wissenschaft funktioniert. Viele können schlicht nicht trennen zwischen Analyse und dem politischen Umgang damit. Es ist allerdings einigermaßen irrational, aus der seit langem bekannten Tatsache, dass Lohnabhängige im Kapitalismus von Kapitalisten ausgebeutet werden, nun eine Riesenverschwörung der Umweltindustrie zu konstruieren.
Den Widersprüchen stellen
Es verwundert daher nicht, dass die sogenannten „Klimaskeptiker“ viel lauter, viel hysterischer sind als die angeblichen Panikmacher der angeblichen „Klimakirche“. Da ihre „Argumente“ teils seit Jahren widerlegt sind und sie null Beweise außer Bauchgefühle bringen, muss hinter dem Geschrei was anderes stecken.
Es wäre gut, wenn wir uns einfach mal den Widersprüchen stellen würden. Beide Seiten. Die menschengemachte Klimakrise ist genauso wahr wie Mikroplastik in den Ozeanen und die Tatsache, dass Kapitalismus von Kapital kommt. Kapital ist investiertes Geld zum Zweck der Profitmaximierung. Sonst nichts. Dem folgend, ist es nichts neues, dass Kapitalisten im Kapitalismus alles zu Geld machen, was ihnen zwischen die Finger kommt. Natürlich gehören dazu auch Windräder und CO2-Zertifikate. Daraus zu schließen, man solle sich dann einfach der Zerstörung ergeben, ist praktisch Selbstmord auf Raten.
Wer die Ausbeutung beenden will, muss rationalerweise den Kapitalismus bekämpfen, statt der Ölindustrie das Wort zu reden.
Es ist auch so schwer nicht zu verstehen: Ein System, dessen einziger irrationaler Selbstzweck es ist, Maximalprofit für die Eigentümer der Wirtschaft zu generieren, muss irgendwann die Umwelt für uns Lebewesen irreparabel zerstören. Wir sind ein Teil dieser Umwelt, und kollabiert sie, gehen wir mit drauf. Wollen wir erhalten, was uns zerstört? Das wäre Wahnsinn.
Nur eins ist sicher: Ein Wandel wird nicht von den Mächtigen und ihren gut bezahlten Fürsprechern kommen. Er kann nur kollektiv von unten durchgesetzt werden. Er wird für die einen mit Gewinn, für andere mit Verlust einhergehen. Bei gutem Management vor allem mit dem Verlust an Macht und Illusion.