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Der endlose Krieg

Der endlose Krieg

Die US-Politik verachtet die Menschenrechte und die Souveränität anderer Länder. Exklusivabdruck aus „Die Weltbeherrscher“.

Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems und der Auflösung der Sowjetunion war der Kalte Krieg zu Ende gegangen. Vorübergehend erkoren die Washingtoner Haudegen den internationalen Drogenhandel zum neuen Hauptfeind und schickten Truppen nach Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien mit dem Auftrag, die Cocafelder abzubrennen und den Drogenbaronen in Cali, Medellín, Santa Cruz, Tijuana oder Guadalajara das Handwerk zu legen. Der 11. September 2001 jedoch, als 3.000 Menschen drei Terroranschlägen in New York, Washington und Pennsylvania zum Opfer fielen, lieferte der US-Regierung neue Argumente für Interventionen im Ausland: den Terrorismus.

Seither führen die USA — zusammen mit der NATO und anderen — weltweit ihren Krieg gegen den Terror, der sich derzeit überwiegend gegen die sogenannten „Islamisten“ (1) richtet. Und so wie Franklin D. Roosevelt einst den feinen Unterschied zwischen „Hurensöhnen“ im Allgemeinen und „unseren Hurensöhnen“ hervorhob, so unterscheiden die USA auch heute zwischen Islamisten und „unseren Islamisten“. Während Islamisten, wie Mitglieder von al-Qaida oder dem Islamischen Staat (IS), Feinde sind, die aufs Erbittertste bekämpft werden müssen, werden „unsere Islamisten“ gehegt, finanziert, trainiert und ausgerüstet. So etwa Abdul Rasul Sajaf, ein Warlord in Afghanistan, der für seine Massaker an schiitischen Hazara in Kabul berüchtigt wurde. Bei Abdul Sajaf hatte unter anderem der Filipino Abdurajak Janjalani seine militärische Ausbildung erfahren.

Später baute Janjalani auf den südphilippinischen Inseln eine Terrororganisation auf, die er nach seinem afghanischen Lehrer Abu Sajaf nannte und auf Entführungen spezialisierte (2). Oder im Iran die Volksmudschahedin sowie die Separatistengruppe Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK), die zwar beide seit Jahren vom US-Außenministerium als Terrororganisationen eingestuft, gleichzeitig jedoch von den USA unterstützt werden.

Im Gegensatz zu der Rivalität zwischen den USA und der UdSSR birgt dieser Krieg, in dem jeder militante Widerstand gegen eine etablierte Ordnung zu Terrorismus erklärt werden kann, die Gefahr, nie zu enden.

Da der Begriff Terrorismus nur sehr vage definiert wird (3), kann jedes Verbrechen als terroristischer Akt interpretiert werden, der Staaten, Regierungen oder Behörden veranlasst, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Da es also keine Welt ohne Terrorismus geben kann, ist die unendliche Fortsetzung des Kriegs gegen den Terrorismus garantiert. „Vergessen Sie Ausstiegsstrategien“, tönte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zwei Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001. „Wir sprechen hier von einem dauerhaften Waffengang ohne Befristung“ (4). Der Krieg werde neue Terroranschläge provozieren und eine kaum zu bremsende Gewaltspirale erzeugen.

Ex-Präsident Jimmy Carter sprach in einem Interview die Ursachen an, die zu Hass und Terrorismus führen können:

„Wir schickten die Marines in den Libanon, und Sie müssen nur in den Libanon, nach Syrien oder Jordanien gehen, um selbst Zeuge des immensen Hasses zu werden, den viele Menschen gegen die Vereinigten Staaten hegen, weil wir sie in diesen Dörfern um Beirut mit Bomben und Granaten beschossen und gnadenlos völlig unschuldige Dorfbewohner getötet haben — Frauen und Kinder, Bauern und Hausfrauen. Darum wurden wir in den Köpfen dieser Menschen, die sehr nachtragend sind, eine Art Satan. Das ging den Geiselnahmen voraus, und das war es auch, was einigen Terroranschlägen vorausging“ (5).

Schon Ronald Reagan hatte diese Feindkategorie bei seinem Amtsantritt eingeführt: „Wir müssen uns gegen diese Plage des modernen Zeitalters, gegen diese Rückkehr in die Barbarei, gegen diese teuflische Geißel des Terrorismus verteidigen“ (6). Bill Clinton brachte 1994 den neuen Begriff „Schurkenstaaten“ (rogue states) in die Diskussion, gegen die sich die USA verteidigen müssten. Wenig später warnte er vor den „gescheiterten Staaten“, die ebenfalls eine Gefahr für die eigene Sicherheit darstellten, weshalb er noch im selben Jahr die State Failure Task Force gründen ließ.

Nicht dass Bill Clinton sich damit etwas Neues hatte einfallen lassen. Die amerikanische Außenpolitik war schon lange dominiert von einem „kaum verdeckten Rassismus, dem die Vorstellung zugrunde lag, dass die Angelsachsen verpflichtet seien, den rückständigen Rassen zu helfen, die unfähig waren, sich selbst zu regieren“ (7). Dieser Vorstellung entspricht auch Theodore Roosevelts berüchtigte Ergänzung zur Monroe-Doktrin aus dem Jahre 1904:

„Chronisch falsches Handeln oder ein Versagen, das in der allgemeinen Auflösung der Bindungen einer zivilisierten Gesellschaft resultiert, mag letztendlich in Amerika wie auch anderswo die Intervention eines zivilisierten Staates erforderlich machen und in der westlichen Hemisphäre in Befolgung der Monroe-Doktrin die Vereinigten Staaten — wie widerstrebend auch immer — in flagranten Fällen solch fehlgeleiteten Handelns oder solchen Versagens zwingen, die Aufgaben einer internationalen Polizeimacht zu übernehmen“ (8).

Die Brookings Institution veröffentlicht jedes Jahr einen Index of State Weakness in the Developing World, die Zeitschrift Foreign Policy und der Fund for Peace publizieren ebenfalls jährlich eine Liste der „gescheiterten Staaten“ — Staaten, in denen die öffentliche Sicherheit, die Rechtsstaatlichkeit und ein funktionierendes Gemeinwesen nicht oder nur in sehr unzureichendem Maß gewährleistet sind. In dieser Debatte wird der Staatszerfall ohne Berücksichtigung historischer Entwicklungen als ein intern verursachtes Problem definiert, das externe Lösungen erfordert.

Dabei wird axiomatisch von einer Hierarchie zwischen Staaten ausgegangen, in der die Staaten der Ersten Welt beispielhaft als „erwünschter Endpunkt der Entwicklung“ (9) angesehen werden. Kritiker sehen in diese Konzept deutlich „undemokratische Untertöne von Kontrolle und Unterordnung“ (10). Es hat sich nichts geändert in den vergangenen hundert Jahren. Diese Sprache der Überlegenheit pflegten schon die Vertreter der Kolonialmächte.

Dem „Index gescheiterter Staaten 2013“ zufolge, der 178 Länder auflistete, waren die als „kritisch“ eingestuften, also besonders unsicheren und risikoträchtigsten Staaten: Somalia, die Demokratische Republik Kongo, Sudan, Südsudan, Tschad, Jemen, Afghanistan, die Zentralafrikanische Republik, Simbabwe, Irak, Elfenbeinküste, Pakistan, Guinea, Guinea-Bissau und Nigeria. Neunzig weitere Staaten befanden sich angeblich in einem kaum besseren Zustand und wurden der Kategorie „in Gefahr“ zugeordnet, auch wenn sie gemeinhin als ziemlich stabil angesehen werden: Philippinen, Indonesien, Israel, Indien, Volksrepublik China, Bosnien-Herzegowina oder Iran. Keinen einzigen afrikanischen Staat hielten die Verfasser der Liste für „stabil“.

Diese Kategorie blieb einer Reihe europäischer sowie zwei arabischen Staaten (Oman, Katar) und drei asiatischen Ländern (Japan, Singapur, Südkorea) vorbehalten. Unter den Siegern, den „stabilsten“ Staaten, schnitt Finnland mit der Nummer 178 am besten ab, gefolgt von Schweden, Norwegen, der Schweiz und Dänemark. Irland kam in der respektablen Position 170 ins Ziel, und sogar Belgien, das ständig in seine flämischen und wallonischen Teile zu zerbrechen droht, war an Position 164 besser platziert als etwa die USA (159), Singapur (158) oder Japan (156) (11).

Seit dem 11. September 2001 wird der Zerfall von Staaten in der westlichen Welt als unmittelbare Bedrohung der eigenen nationalen Sicherheit wahrgenommen, weil „gescheiterte Staaten“ als territoriale Basis für Terrornetzwerke gelten.

Die Verfasser der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA kamen 2002 denn auch zu dem Schluss, dass Amerika heute weniger durch expandierende und erobernde als durch scheiternde Staaten bedroht werde. Von dort war es dann nur ein kleiner Schritt, um solchen Staaten nur noch eine „eingeschränkte Souveränität“ zuzugestehen.

Nicht erst nach dem Beginn des Afghanistankrieges, als Washington auch Deutschlands eingeschränkte Souveränität strapazierte und zahlreiche tatsächliche wie angebliche al-Qaida-Mitglieder sowie Taliban in geheimen Flügen von deutschen Flughäfen aus in ägyptische, afghanische, jordanische, marokkanische, pakistanische, polnische, rumänische, syrische, saudische oder usbekische Folterkammern brachte — darunter auch deutsche Staatsbürger —, beanspruchte Washington das Recht, Gesuchte aus fremden Ländern entführen zu dürfen.

Wie oben erwähnt (siehe: 1961–1966 Dominikanische Republik) hatten die USA bereits 1962 mehr als hundert angebliche „Castro-Kommunisten“ aus der Dominikanischen Republik ausgeflogen. 1989 verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz, das es den Behörden erlaubte, unter Umgehung der üblichen Auslieferungsverfahren ausländische Staatsbürger in die USA zu entführen. Noch im selben Jahr entführten Agenten der Drug Enforcement Administration (DEA) einen Honduraner, den sie als Drogenhändler verdächtigten, aus seinem Heimatland, weil die honduranische Verfassung die Auslieferung eines Staatsbürgers an ein fremdes Land untersagt.

Wenige Monate später organisierte die DEA die „Operation Legend II“ und heuerte Kopfgeldjäger an, um den mexikanischen Arzt Humberto Álvaréz Machain aus seiner Praxis in Guadalajara in die texanische Grenzstadt El Paso zu verschleppen. Álvaréz, dessen Auslieferung die mexikanische Regierung abgelehnt hatte, wurde beschuldigt, an der Ermordung eines DEA-Agenten beteiligt gewesen zu sein. 1992 wurde der zyprische Geschäftsmann Hossein Alikhani, der unter Verdacht stand, gegen die US-Sanktionen gegen Libyen verstoßen zu haben, von Agenten des US-Zolls von den Bahamas nach Miami entführt.

Mitte der 90er Jahre unterzeichnete Bill Clinton eine „präsidentiale Anweisung“, die es der CIA und Special Operations Forces in Absprache mit dem FBI erlaubte, Terrorverdächtige in aller Welt aufzuspüren und ohne Berücksichtigung bilateraler Auslieferungsabkommen oder internationaler Übereinkünfte in die USA zu entführen. Diese Direktive erlaubte den Agenten zudem, Terrorverdächtige nach Ägypten zu bringen, wo sie — weit entfernt von amerikanischem Recht und unbehindert von amerikanischen Folterverboten — von Angehörigen der ägyptischen Geheimpolizei verhört werden konnten. Allerdings musste in jedem Fall die Genehmigung des Präsidenten eingeholt werden, der sie über siebzig Mal erteilte.

Im Dezember 1997 erzwang Washington von der Regierung in Bogotá die Abschaffung eines Verfassungsartikels, der die Auslieferung kolumbianischer Staatsbürger an fremde Staaten untersagte. Alleine in den folgenden acht Jahren wurden auf diese Weise 239 des Drogenhandels bezichtigte Kolumbianer in die USA verschifft. Als im Jahr 2000 die Frau eines amerikanischen Obersten (siehe: 1992 Kolumbien) und im Jahr 2005 fünf amerikanische Soldaten, die im Rahmen des Antidrogenkrieges in Kolumbien stationiert waren, beim Heroin- und Kokainhandel ertappt wurden, schafften die USA die Verdächtigen heimlich auf dem schnellsten Weg aus dem Land.

„Tatsächlich begingen diese Soldaten das Verbrechen in Kolumbien, und gemäß unserem bilateralen Auslieferungsabkommen müsste hier gegen sie verhandelt werden“, beklagte sich ein kolumbianischer Abgeordneter. Der US-Botschafter jedoch behauptete, die fünf Soldaten genössen diplomatische Immunität (12).

Nachdem der Supreme Court am 29. Juni 2006 festgestellt hatte, dass für die von Präsident Bush am 13. November 2001 eingesetzten militärischen Sondergerichte keine Rechtsgrundlage bestand, wurden die des Terrorismus Verdächtigen von der CIA in zahlreichen Flügen in Geheimgefängnisse in aller Welt geflogen, wo sie außerhalb jeder juristischen Kontrolle und ohne die Rechte, die Verdächtigen gemeinhin zustehen, verhört und verurteilt werden konnten.

Mit Einwilligung der europäischen Regierungen und NATO-Partner, die sich hinter dem Rücken ihrer Wähler wie Satellitenstaaten der USA verhielten, entführten Agenten des US-Geheimdienstes zahlreiche Verdächtige in afghanische, ägyptische, jordanische, marokkanische, syrische, polnische oder baltische Gefängnisse, wo sie oftmals gefoltert wurden.

Der „Nichtständige Ausschuss des Europäischen Parlaments zur behaupteten Nutzung europäischer Staaten durch die CIA“ dokumentierte alleine für die Zeit zwischen dem 11. September 2001 und Ende 2005 1.080 Flüge der CIA und bewies, dass „die illegalen Transporte über 14 Länder gelaufen sind, darunter Deutschland, Schweden, Italien, Belgien und Spanien“, schrieb Giulietto Chiesa, ein italienischer Abgeordneter des Europaparlamentes.

„Zwei Länder (Polen und Rumänien) hatten — für einen noch nicht eindeutig geklärten Zeitraum — illegale Gefängnisse für mutmaßliche Terroristen zur Verfügung gestellt (…) Für mindestens dreißig Entführungsfälle mit anschließender rendition liegen inzwischen Beweise vor“ (13).

Der Bush-Doktrin zufolge sind terroristische Staaten Länder, deren Regierungen Terroristen Unterkunft und Schutz gewähren oder selbst terroristische Anschläge durchführen. Mit diesem Argument hatte schon Reagan seine Bombardierung Libyens begründet. Dass die USA selbst dieser Definition gefährlich nahe kommen, wird tunlichst ignoriert.

Allerdings unterscheiden die USA auch hier zwischen guten und schlechten Terroristen. So durften beziehungsweise dürfen etwa Orlando Bosch oder Posada Carriles — um nur zwei zu nennen —, die beide sowohl von der CIA als auch dem FBI als „führende Terroristen“ beschrieben wurden, unbehelligt in Florida leben, weil sie kubanische, mithin feindliche, Flugzeuge entführten und kubanische, also feindliche, Einrichtungen bombardierten. (Bosch starb Anfang 2011 friedlich in seinem Haus in Florida, Posada lebt ebenso friedlich in Miami.) Zudem führten die USA selbst zahlreiche terroristische Aktionen etwa in Kuba, Chile, Nicaragua oder Europa durch.

Washington unterstützte die Einrichtung internationaler Gerichte, vor denen Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten verhandelt wurden, die in Jugoslawien, Ruanda, Sierra Leone und Kambodscha begangen worden waren. 2002 behauptete der damalige Außenminister Colin Powell, die USA zeigten „mehr Verantwortung als alle Nationen der Welt“ und seien auch „führend in Bezug darauf, Verbrecher vor Gericht zu bringen“ (14) — ein beinahe weltfremd klingender Anspruch angesichts der guten Chancen, möglicher Strafverfolgung zu entkommen, die etwa in Irak des Mordes angeklagte Mitglieder der Söldnerfirma Blackwater Worldwide (die erst in Xe Services umgetauft wurde und nun unter dem neuen Namen Academi firmiert) hatten (15).

Oder die Zehntausenden Soldaten, die „Zehntausende Soldatinnen vergewaltigten“ (16), ohne jemals vor Gericht zu kommen. Oder die CIA, deren Agenten selten bestraft wurden, selbst wenn der Tod Unschuldiger das Ergebnis ihrer Operationen war. Elf Soldaten, die sich in dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib schuldig gemacht hatten, Gefangene misshandelt zu haben, wurden öffentlich verurteilt, aber nicht ein einziger CIA-Agent. Agenten aber waren in der Regel bei Verhören anwesend. Und wenn der eine oder andere von ihnen gelegentlich doch wegen grober Rechtsverstöße gefeuert wurde, beschäftigte die CIA ihn oftmals nur allzu gerne wieder als freien Mitarbeiter.

Darüber hinaus unternimmt Washington alle Bemühungen, eigene Täter vor möglicher Strafverfolgung durch internationale Gerichte zu schützen.

Der Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) widersetzten sich die USA vehement. Zunächst stimmten sie 1998 gemeinsam mit China, Israel und vermutlich Libyen, dem Irak und dem Jemen gegen das Rom-Statut, mit dem der ICC eingerichtet wurde. Nachdem er einige Änderungen durchgesetzt hatte, um die Befugnisse des Gerichts einzuschränken und es politisch kontrollieren zu können, unterschrieb Präsident Bill Clinton schließlich das Statut.

Doch im Mai 2002 kündigte sein Nachfolger George W. Bush an, die Unterschrift unter dem Dokument zurückzuziehen. Drei Monate später verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das dem Präsidenten die Möglichkeit gibt, „jede notwendige Maßnahme“ zu ergreifen, um die Freilassung gleich welchen amerikanischen Bürgers zu erzwingen, der vom ICC verhaftet wurde. Zudem verbietet dieses Gesetz, das „Haager Invasionsgesetz“, wie es genannt wird, den Einsatz amerikanischer Truppen bei UN-Friedensmissionen, es sei denn, dass den US-Soldaten völlige Immunität vor Strafverfolgung durch den ICC garantiert wird. Es verbietet ebenfalls jede amerikanische Militärhilfe für Staaten, die dem ICC angehören (ausgenommen sind die NATO-Mitglieder sowie Ägypten, Israel, Jordanien und Taiwan).

Inzwischen hat die US-Regierung mit über 75 Ländern bilaterale Abkommen geschlossen, unter keinen Umständen ohne Washingtons Zustimmung einen amerikanischen Staatsbürger an den ICC auszuliefern. (Ungefähr 45 Staaten haben es abgelehnt, derartige Abkommen zu unterzeichnen, und die EU hat sich sehr deutlich gegen diese Verträge ausgesprochen.) Mit dem Plan, diese Immunität auf alle Teilnehmer an UN-Friedensmissionen auszudehnen, scheiterte Washington letztendlich. Niemand, mit Ausnahme Großbritanniens, unterstützte den Antrag. Unter starkem Druck zogen die USA ihn schließlich zurück.

Im Jahr 2005 versuchten die USA einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats zu blockieren, Kriegsverbrecher aus Darfur dem ICC zu überstellen. Bei der Abstimmung im April 2005 enthielten sie sich schließlich der Stimme — gemeinsam mit Algerien, Brasilien und China. Oft enthielt sich Washington aber nicht bloß, sondern brachte als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat mit seinem Veto Beschlussanträge zu Fall und vereitelte die Verabschiedung von Resolutionen. So wollten die USA als einziger Staat in der UNO einer Resolution nicht zustimmen, in der das Recht auf Bildung, Gesundheitsvorsorge, Arbeit sowie ausreichend Nahrung garantiert werden sollte (16. Dezember 1983, Resolution 38/124).

Einsam blieb auch Washingtons Gegenstimme bei der Verabschiedung des Berichts des Komitees zur Eliminierung rassistischer Diskriminierung (23. November 1984, Resolution 39/21) oder zur Resolution 39/62, die ein Verbot der Entwicklung und Herstellung neuer Massenvernichtungswaffen vorsah.

Am 13. Dezember 1985 stimmten die USA und seltsamerweise Israel als einzige Staaten gegen die Resolution 40/148, mit der Maßnahmen gegen nationalsozialistische, faschistische und neofaschistische Aktivitäten eingeführt werden sollten.

Tatsächlich blockierten die USA seit 1970 nicht weniger als 86 Resolutionen des UN-Sicherheitsrates mit ihrem Veto, „mehr als alle Vetos der anderen Mitglieder des Sicherheitsrats zusammen“, wie Stephen Zunes, Politikwissenschaftler und Koordinator für Nahoststudien an der Universität von San Francisco, nach umfangreichen Studien über das Veto-Verhalten der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats (neben den USA: Russland, die VR China, Großbritannien und Frankreich), die als Einzige berechtigt sind, ein Veto einzulegen.

Auch in den anderen multinationalen Agenturen, wie dem Internationalen Währungsfonds (IMF), der Weltbank oder der Welthandelsorganisation (WTO), bestimmen die USA weitgehend die Politik und vor allem die Geschäfte. Eine Untersuchung der Vereinten Nationen bezeichnete die WTO als „Alptraum“ für Entwicklungsländer. Ihre Tätigkeiten “dienen ausschließlich der Förderung der Interessen dominierender Unternehmen, die den internationalen Handel ohnehin schon monopolisieren“ (17). Und sogar der konservative Economist warf dem „Fonds und der Bank“ (IMF, Weltbank) vor, „unverhüllte Instrumente der westlichen und besonders der amerikanischen Außenpolitik geworden“ zu sein (18).

Im Rahmen der von den USA durchgesetzten Tradition gehen die Spitzenpositionen bei diesen Organisationen an Amerikaner und Europäer. Als 1999 zum ersten Mal mit dem Thailänder Supachai Panitchpakdi (19) eine Person aus einem Entwicklungsland als aussichtsreicher Kandidat für den Vorsitz in der WTO auftauchte, inszenierte Washington ein Höllenspektakel. Präsident Clinton drohte, die WTO zu blockieren, wenn die Mitglieder nicht den amerikanischen Kandidaten akzeptierten. „Bei der Prüfung der Kandidaten“, so erklärte Clinton seine hartnäckige Ablehnung des thailändischen Kandidaten, habe er sich „auf ihre Haltung in Fragen, die für uns wichtig sind, konzentriert“. Dabei gehe es vor allem darum, „was den Bedürfnissen der WTO am besten dient“.

Monatelang sträubte sich Clinton, nachzugeben. Ein Brief, den Thailands Premierminister Chuan Leekpai an Clinton schrieb, blieb unbeantwortet. Sir Leon Brittan, der EU-Handelskommissar, sowie europäische und thailändische Diplomaten fürchteten, Washington werde gegen jede Entscheidung zugunsten Supachais ein Veto einlegen. „Das ist der Kampf meines Lebens“, gestand Supachai, „ich hätte nie geglaubt, dass er so lange und so hart geführt werden würde (20). Schließlich einigte man sich auf eine Art Jobsharing: Clintons Kandidat, Mike Moore, übernahm die erste Hälfte der sechsjährigen Amtsperiode, Supachai trat das Amt am 1. September 2002 für die restlichen drei Jahre an.

John R. Bolton, den George W. Bush 2005 zum Botschafter bei den Vereinten Nationen ernannte, war nicht der erste, der die UNO verachtete, wenngleich die meisten zurückhaltender waren als der einstige Kolumnenschreiber: „Es gibt keine Vereinten Nationen. Es gibt eine internationale Gemeinschaft, die gelegentlich von der einzigen wirklichen Supermacht geführt werden kann, den Vereinigten Staaten, wenn es ihren Interessen dient und wir andere auf unsere Seite bekommen“ (21), hatte er einst geschrieben.

Den Vereinten Nationen, 1945 in San Francisco auf Betreiben Präsident Harry Trumans gegründet, misstrauten die USA schon früh. Bereits 1949, vier Jahre nach ihrer Gründung, unterschrieb Trygve Lie, ihr erster Generalsekretär, ein Geheimabkommen mit dem US-Außenministerium, „welches in Verletzung fundamentaler Grundrechte und der UN-Charta vorsah, dass Dienstanwärter und Bedienstete des UN-Sekretariats ohne ihr Wissen von US-Beamten ‚durchleuchtet’ werden sollten“ (22). Ende 2010 sorgten Kabel amerikanischer Diplomaten, die Wikileaks an die Presse weitergeleitet hatte, für Aufregung in den Medien.

Demnach hatten sowohl US-Außenministerin Hillary Clinton als auch ihre Vorgängerin Condoleezza Rice ihre Diplomaten angewiesen, Angestellte und Mitglieder der Vereinten Nationen, einschließlich des Generalsekretärs Ban Ki-moon ,auszuspionieren und alles über sie in Erfahrung zu bringen. Die Aufregung war ein wenig verfehlt. Die beiden Damen hatten tatsächlich nur das Abkommen von 1949 sozusagen aktualisiert und modernisierten die Liste der zu sammelnden Daten.

Vor sechzig Jahren gab es weder biometrische Daten (DNA- oder Iris-Scans) noch Kreditkarten oder E-Mails mitsamt Passwörtern und Kodifizierungsschlüsseln. Die Liste der auszuspähenden Ziele wird jährlich von einer Abteilung der CIA neu zusammengestellt. Im Anschluss an die Veröffentlichung waren die USA um Schadensbegrenzung bemüht. Ihre Diplomaten seien keine Spione — ein Etikett, das lebensgefährlich werden könnte.

„Sie sind Diplomaten“, versicherte ein Sprecher des State Department. „Sie sammeln Informationen, die bei der Planung und Ausarbeitung unserer Politik hilfreich sind (…) Die Außenministerin weist ihre Diplomaten nicht an, Spionage zu betreiben“ (23).

Im Kern sehen sich die USA als den Vereinten Nationen übergeordnet an und blockieren oder ignorieren UN-Beschlüsse ganz nach Gusto. So sprach Washington dem Haager Gerichtshof jede Zuständigkeit ab, als dieser die Verminung von Häfen und Flüssen in Nicaragua durch amerikanische Agenten verurteilte. Kaum weniger gebunden sieht sich Washington durch UN-Verträge. Die USA, die den Irak angriffen, weil Saddam Hussein dort angeblich chemische und biologische Massenvernichtungswaffen herstellen ließ, schlossen sich nicht der „Konvention zum Verbot der Entwicklung, Herstellung, Anhäufung und des Einsatzes von chemischen Waffen und deren Zerstörung“ (1992) an und hatten schon 1972 einem UN-Abkommen gegen biologische Kriegführung ihre Unterschrift verweigert.

Nicht erst George W. Bush lehnte ein „Abkommen gegen Folter und andere grausame, inhumane und entwürdigende Behandlung oder Bestrafung“ ab. Diese UN-Konvention war schon 1984 verabschiedet und von der damaligen Reagan-Administration abgelehnt worden. 1996 widersetzte sich die Clinton-Regierung einem umfassenden Versuchsstopp von Atombomben. 1997 war es abermals Bill Clinton, der sich der „Konvention zum Verbot des Einsatzes, der Lagerung, Herstellung und Verbreitung von Anti-Personen-Minen und deren Zerstörung“ nicht anschließen wollte. Bei solch eigenwilliger Rechtsauffassung verwundert es nicht, dass die USA heute kaum noch reguläre Truppen bekämpfen.

Die heißen heute etwa in Afghanistan illegale Kombattanten und anderswo schlicht Terroristen. Und kaum ein Monat nachdem die UN-Generalversammlung in einer Resolution das Verbot militärischer Angriffe auf nukleare Einrichtungen im Nahen Osten bestätigt hatte (24), ließ General Colin Powell 1991 Iraks Atomkraftwerke bombardieren. „Die beiden in Betrieb befindlichen Reaktoren, die sie hatten, gibt’s nicht mehr, sie sind weg, ausgelöscht“ (25), jubelte Powell. In dieser Weise bomben und kämpfen die USA weiter für eine demokratische Welt. Inzwischen führten die USA nach Auffassung des ehemaligen ISAF-Kommandeurs Stanley McChrystal „den großen Kreuzzug gegen den Islam (…), in dem jede Kampfhandlung gegen Muslime damit gerechtfertigt wurde, dass man gegen das Kalifat kämpfte“ (26).

Die letzten der tödlichen Waffen im Arsenal der USA sind unbemannte Luftfahrzeuge wie die MQ-1-Predator oder MQ-9-Reaper, allgemein als Drohnen bekannt, die aus sicherer Höhe Ziele ausspähen und Hellfire- oder neuerdings Scorpion-Raketen abfeuern können. Das sind sogenannte Small Smart Weapons von der Größe eines Geigenkastens und mit einem Gewicht von 16 Kilogramm. Weltweit wurden bisher mindestens sechzig Stützpunkte für Drohnen eingerichtet. Eine Reaper-Drohne kann knapp 2.000 Kilometer weit fliegen und bei einer maximalen Last an Hellfire-Raketen oder GBU-12- und GBU-30-Bomben von 1.700 Kilogramm an Bord zwischen 16 und 20 Stunden in der Luft bleiben. Ein Bericht des Budgetbüros des US-Kongresses erwähnte 2011, dass das Verteidigungsministerium im Laufe der kommenden Dekade etwa 730 neue mittelgroße unbemannte Flugzeuge, also Drohnen vom Typ Reaper, anschaffen wolle.

Zum ersten Mal kamen Drohnen im Jemen zum Einsatz. Mitte 2002 hatten Spezialisten des United States Joint Special Operations Command (JSOC) Abu Ali al-Harithi, einen der Drahtzieher des Anschlags auf die USS Cole, in der zentraljemenitischen Stadt Marib aufgespürt. Die CIA startete von Camp Lemonnier in Dschibuti eine MQ-1-Predator-Drohne, die eine panzerbrechende Hellfire-Rakete auf al-Harithis Toyota-Geländewagen feuerte. In dem Angriff starb auch der US-Bürger Ahmed Hijazi alias Kamal Derwish aus Buffalo, New York. Auf die Präsenz amerikanischer Soldaten im Jemen angesprochen, wiegelte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ab: „Wir haben ein paar Leute in dem Land … Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“ (27).

Am häufigsten jedoch kamen Drohnen zunächst in Pakistan zum Einsatz. Gesteuert wird das geheime Programm entweder aus Langley (von der CIA) oder aus Orten in Texas, Nevada und anderswo in den USA (vom JSOC). Vor Ort sucht die CIA gemeinsam mit ihren pakistanischen Verbündeten die Ziele aus, deren Koordinaten dann an die Steuerungszentrale in den USA gegeben werden. Die Drohnen werden auf ihrem Stützpunkt gestartet und anschließend aus den Zentralen in den USA ins Ziel gelenkt. Von Wikileaks im November 2010 veröffentlichte Kabel amerikanischer Diplomaten bewiesen schließlich, dass kleine Teams von US-Sonderkommandos im Geheimen in die pakistanische Armee integriert (embedded) sind und in den Stammesgebieten helfen, Taliban oder al-Qaida-Kämpfer aufzuspüren und Drohnenangriffe zu koordinieren.

Ob nun Special Forces oder der Geheimdienst, grundsätzlich werden keine Auskünfte über die Einsatzorte, die Kriterien der Zielauswahl, die Zahl der Opfer oder darüber gegeben, wer das Programm kontrolliert. Kritiker sagen, das Programm verstoße gegen die Executive Order 11905, die Präsident Gerald Ford 1976 unterzeichnet hatte, die es amerikanischen Spionageorganisationen ausdrücklich untersagt, „politische Morde“ zu verüben. Fords Nachfolger Jimmy Carter hatte den Befehl noch erweitert: „Niemand, der in Diensten der Regierung der Vereinigten Staaten steht oder in deren Namen handelt, darf sich an Mord oder an Planungen hierzu beteiligen (28).

„Aber mechanisiertes Töten ist auch Mord“, sagte Vicki Divoll, eine ehemalige CIA-Anwältin, die heute an der US-Marineakademie in Annapolis lehrt. „Die aktuellen Angriffe mit Drohnen könnten dahingehend interpretiert werden, dass Mord akzeptabel ist“, schloss sich ein anderer Ex-Anwalt der CIA 2002 in einem Interview mit der Washington Post der Meinung seiner Kollegin an (29).

Acht Jahre später gab es keine Zweifel mehr, dass „gezieltes Töten inzwischen Routine geworden ist“. In seiner ersten Amtszeit „institutionalisierte Obama die hochgeheime Praxis des gezielten Tötens und transformierte Ad-hoc-Elemente (aus der Amtszeit seines Vorgängers George W. Bush) in eine Antiterrorimus-Infrastruktur, die einen offenbar permanenten Krieg führen kann (30).

Kaum ein paar Tage vergehen seither, ohne dass tödliche Drohnenangriffe publik werden. JSOC-Teams, die sich selbst mit der legendär-berüchtigten Murder, Inc., der Prohibitionsära vergleichen, mordeten und morden Tausende Schuldige, Verdächtige und Unschuldige in Afghanistan, Pakistan, Somalia, Kenia, dem Irak, Jemen und neuerdings auch in Syrien. Sie führen Namenslisten von Verdächtigen. Ob in Afghanistan, Pakistan, Jemen oder Somalia, so mancher Zwist zwischen den Clanhäuptlingen um die Familienehre oder ein Stück Land konnte so ebenfalls gelöst werden, indem der Nachbar bei den US-Truppen als Mitglied von al-Qaida, der Taliban oder sonst einer terroristischen Vereinigung diffamiert wurde. Gegen Ende 2009 führten JSOC-Kommandos monatlich nicht weniger als achtzig, neunzig solcher Mordaufträge aus.

Die ersten beiden CIA-Luftangriffe in Barack Obamas Amtsperiode fanden in den Morgenstunden des 23. Januar 2009 statt. Da war der neue Präsident gerade drei Tage im Amt. Die Angriffe kosteten etwa zwanzig Menschenleben. Im ersten Schlag starben vier Araber, die angeblich mit al-Qaida in Verbindung standen. Im zweiten Schlag jedoch hatte die Drohne das falsche Haus im Visier und traf etwa sechs Meilen außerhalb der Stadt Wana in Südwasiristan den Wohnsitz eines Stammesführers, der die Regierung unterstützte. Bei dem Angriff starb die ganze Familie, darunter drei Kinder. „Seither wurden die CIA-Bombardierungen in Pakistan in rascher Folge fortgesetzt“ (31), berichtete The New Yorker.

Einer Studie der New America Foundation zufolge ist die Zahl der Drohnenangriffe seit Obamas Amtsantritt dramatisch angestiegen. In den ersten zehn Monaten seiner Regierungszeit autorisierte er mindestens 41 Raketenangriffe in Pakistan, denen je nach Quelle 326 oder 538 Menschen zum Opfer fielen. Das waren mehr Drohnenangriffe, als George W. Bush in den gesamten letzten drei Jahren seiner Amtszeit genehmigt hatte.

Schon nach dem ersten Drohnenangriff im Jemen, bei dem neben al-Harithi und Kamal Derwish vier weitere Männer getötet worden waren, kritisierte Amnesty International: „Wenn dies die vorsätzliche Tötung von Verdächtigen anstelle einer Festnahme war, und zwar in einer Situation, in der sie keine unmittelbare Bedrohung darstellten, waren diese Tötungen außergerichtliche Exekutionen unter Verletzung internationaler Menschenrechtsgesetze“ (32).

Mehrfach beklagte der United Nations Human Rights Council (UNHRC) die hohe Zahl ziviler Opfer amerikanischer Militäroperationen, einschließlich der Drohnenangriffe. In seinem Buch Obama’s Wars behauptete Bob Woodward von der Washington Post: „CIA-Drohnen töteten viele Westler, einschließlich einiger US-Bürger“ in den pakistanischen Stammesgebieten. Im Oktober 2009 forderte der UNHRC-Ermittler Philip Alston die USA dringend auf, bei ihrem Drohneneinsatz Menschen nicht einfach aufs Geratewohl zu töten.

Er kritisierte, dass die USA auf die Sorgen der Vereinten Nationen nicht eingingen, und hielt es für „problematisch, dass die Central Intelligence Agency ein Programm steuert, in dem eine beträchtliche Anzahl von Menschen getötet wird, und dabei die relevanten internationalen Gesetze missachtet“ (33). Dagegen argumentierte der US-Vertreter vor dem UNHRC, amerikanische Militäraktionen lägen nicht im Zuständigkeitsbereich des UN-Ermittlers zur Untersuchung außergerichtlicher, summarischer oder willkürlicher Hinrichtungen (34).

Nach internationalem Recht muss die US- wie jede Regierung eine Terrorgruppe als eine Gruppe definieren, die den bewaffneten Kampf führt, und den Einsatz von Gewalt als „militärisch unumgänglich“ begründen, um terrorverdächtige Zivilisten im Ausland ins Visier nehmen zu können. Dabei müssen angemessene Alternativen, wie Gefangennahme, unmöglich sein.

Um den Tod der Zielpersonen zu rechtfertigen, müssen sie „direkt an feindseligen Handlungen“ beteiligt sein. Der Einsatz von Gewalt muss „verhältnismäßig“ zur Bedrohung sein. Und schließlich muss der Staat, in dem derart gezielte Tötungen stattfinden, seine Genehmigung dazu geben.

Tatsächlich aber unterscheidet sich die Vorgehensweise dieser amerikanischen Schattenkrieger kaum von den Praktiken der lateinamerikanischen Todesschwadronen der 1980er Jahre. Den JSOC- oder CIA-Agenten, die für die Auswahl der Ziele zuständig sind, kommt praktisch jeder verdächtig vor, der in den von ihnen überwachten Gebieten in der Lage ist, eine Waffe zur Hand zu nehmen.

„Die CIA meinte, Männer im wehrfähigen Alter, die in einer bestimmten Region großen Versammlungen beiwohnten oder Kontakte mit anderen mutmaßlichen Militanten hätten, könne man mit Fug und Recht als Ziele für Drohnenangriffe betrachten. Eine eindeutige Identifizierung sei nicht nötig, nur einige ‚Signaturen‘, die die CIA selbst entwickelt hatte, um Terrorverdächtige zu erkennen“ (35).

Nach offiziellen Angaben fliegen über Pakistan „so viele Drohnen herum, dass unter den Agenten, welche diese Drohnen fernsteuern, schon mal Streit ausbrach, wer den Ruhm für sich in Anspruch nehmen kann, ein bestimmtes Ziel ausgemacht zu haben“ (36).

Weil das Programm geheim ist, gibt es kein erkennbares System der Verantwortlichkeit, obwohl die CIA zahlreiche Zivilisten in einem Land getötet hat, mit dem sich die USA nicht im Krieg befinden. Kritiker sagen, viele der Opfer seien unschuldige Zuschauer gewesen: Alte, Frauen und Kinder. Washington behauptet, das internationale Recht erlaube es den USA, Verdächtige auch in Staaten, mit denen man sich nicht im Krieg befinde, ohne Gerichtsverfahren zu töten. Folgerichtig hat die Obama-Regierung derartig verabscheuungswürdige Maßnahmen, die von der Bush-Regierung noch als Ausnahmen dargestellt wurden, inzwischen als normales Vorgehen abgesegnet.

Das britische Bureau of Investigative Journalism zählte seit 2004 alleine in Pakistan 402 Drohnenangriffe, 351 davon von Obama angeordnet. Dabei starben nach Schätzungen (weil die Angaben teilweise ungenau sind) zwischen 2.387 und 3.865 Menschen, darunter zwischen 168 und 202 Kinder. 1.127 bis 1.698 weitere Opfer wurden verletzt. Insgesamt kamen durch die von Obama angeordneten Drohnenangriffe in Pakistan, Jemen und Somalia über 3.000 Menschen, darunter mindestens 500 Zivilisten, ums Leben (37). Tatsächlich aber „kennt niemand wirklich die Zahl der Toten durch Drohnenangriffe in diesen entfernten, manchmal unregierten Ländern“ (38), schränkte Michael Boyle, der ehemalige Obama-Berater und Professor an der La Salle University in Philadelphia, die Treffgenauigkeit aller Angaben ein.

Um sich die pakistanische Kooperation zu sichern, beteiligten die USA Islamabad an der Auswahl der Ziele. Doch weil viele der von Pakistan benannten Ziele unter den amerikanischen Antiterror-Kriegern unbekannt waren, wuchsen die Zweifel, ob diese angeblichen pakistanischen Taliban tatsächlich legale Ziele für Predator-Angriffe waren. Einer Studie der New America Foundation zufolge hatten nur sechs der 41 Drohnen-Angriffe, die in den ersten zehn Monaten der Obama-Regierung in Pakistan geflogen wurden, tatsächlich al-Qaida-Mitglieder im Visier.

18 richteten sich gegen mehrere Taliban, und bei 15 der Attacken war Baitullah Mehsud das Ziel der USA, der als einer der Führer der pakistanischen Taliban galt und von der Regierung in Islamabad für zahlreiche Terrorangriffe im Land verantwortlich gemacht wurde. „Die Bemühungen, Mehsud zur Strecke zu bringen, stellen eine ernüchternde Fallstudie über die Risiken der Kriegführung mit Robotern dar (39).

Nicht weniger als 16 Raketen in 14 Monaten benötigten die Antiterrorkrieger, ehe es gelang, ihn zu töten. Diese 16 Raketen rissen neben Mehsud 207 oder 321 unbeteiligte Menschen in den Tod, je nachdem, welche Quelle zugrunde gelegt wird.

Zudem dehnte die Regierung Barack Obamas den Geltungsbereich und den Rahmen genehmigter Drohnenangriffe in Afghanistan aus. Ein Bericht des amerikanischen Senatskomitees für Auslandsbeziehungen vom August 2009 enthüllte, dass die Gemeinsame integrierte Liste der vordringlichsten Ziele (Joint Integrated Prioritized Target List) — eine Liste genehmigter Terrorziele des Pentagon, die bis Mitte 2009 (als die Politik geändert wurde) 367 Namen enthielt — um fünfzig afghanische Drogenhändler erweitert worden war. D

iese fünfzig Drogenhändler standen zwar im Verdacht, zur Finanzierung der Taliban beizutragen, aber der Senatsbericht hatte nicht den geringsten Hinweis gefunden, „dass ein signifikanter Teil aus den Drogenerlösen an al-Qaida geht“ (40). Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche hochrangige Beamte und Offiziere der damaligen Regierung Hamid Karzais in den Heroinhandel verwickelt waren, musste sich die Aufnahme afghanischer Drogenhändler in die amerikanische Zielliste als problematisch und peinlich erweisen. Karzais Halbbruder Ahmad Wali Karzai, der 2010 von einem seiner Leibwächter erschossen wurde, war ebenfalls in korrupte Geschäfte und den Drogenhandel verwickelt.

Niemand weiß genau, wer wo in Pakistans abgelegener Provinz Wasiristan den amerikanischen Drohnen zum Opfer gefallen ist. Die pakistanische Regierung hat nicht nur der Presse den Zutritt zu der Region untersagt, sie hat auch internationale humanitäre Organisationen, wie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes oder die Ärzte ohne Grenzen, ausgeschlossen.

Und inzwischen operieren die US-Streitkräfte offiziell in insgesamt sechs Ländern mit diesen „Roboter-Mördern“: in Afghanistan, Pakistan, dem Irak, Jemen, Libyen und Somalia. „Das ist kein Kriegs-, sondern ein Mordprogramm“, wetterte die Washington Post (41).


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Quellen und Anmerkungen:

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