Am 9. April 2009, kurz vor Amtsantritt der ersten Regierung Barack Obamas, nahm Paul Wolfowitz an einer bescheidenen Feier auf dem Nationalfriedhof Arlington teil. Es war der sechste Jahrestag des Falls von Bagdad, und der ehemalige Vizeverteidigungsminister der USA hatte sich in Abschnitt 60 des Friedhofs, wo die Toten des Irakkriegs begraben liegen, mit kaum fünfzig Leuten versammelt, um des 9. Aprils 2003 zu gedenken, als amerikanische Panzer in die Innenstadt von Bagdad ratterten und auf dem Firdos-Platz die Statue Saddam Husseins vom Sockel stürzten.
Wolfowitz und die glühenden Befürworter der Irakinvasion begingen den 9. April als Tag der irakischen Befreiung, und es scherte sie wenig, dass nun, im Jahr 2009, die meisten Amerikaner vom Irak die Nase voll hatten und am liebsten vergessen hätten, dass ihr Land dort je einen Krieg geführt hatte.
Wolfowitz lauschte den Reden der Veteranen der Amerikanischen Legion, der Mutter eines gefallenen Soldaten vom Gold Star Mothers Club, des irakischen Botschafters und einer betagten Gesellschaftsdame aus dem feinen Washingtoner Stadtteil Georgetown namens Viola Drath, die das feierliche Gedenken organisiert hatte.
Was machte es schon, dass sich die Invasion, die Saddam Hussein in nur drei Wochen gestürzt hatte, zu einem endlosen Zermürbungskrieg ausgewachsen hatte; oder dass sich die irakischen Massenvernichtungswaffen, die zur Begründung der Invasion hatten herhalten müssen, als Fantasiegespinst entpuppt hatten; oder dass an eben jenem sechsten Jahrestag des Falls von Bagdad geschätzte 30.000 Iraker auf dem Firdos-Platz der Stadt zusammenströmten, um wütend gegen die fortdauernde amerikanische Besetzung des Iraks zu protestieren, während der Jahrestag in den Vereinigten Staaten, von dieser kleinen Zusammenkunft in Abschnitt 60 abgesehen, weitgehend unbeachtet blieb.
Nichts davon zählte. Wolfowitz, einer der Architekten des Irakkriegs, war guten Mutes. Als wir nach der Feier zum Friedhofsausgang schlenderten, tauschten wir Nettigkeiten aus und kamen ein wenig ins Plaudern. Wolfowitz war ohne Frage froh darüber, dass sich der Irakkrieg, zumindest aus seiner Sicht, so gut entwickelt hatte und der neue Präsident alle Anstalten machte, den globalen Krieg gegen den Terror energisch weiterzuführen und dabei viele der umstrittenen Maßnahmen der Regierung Bush zu bestätigen und zu verlängern.
Und ein Ende des Kriegs war — obwohl die Republikaner bei den Präsidentschaftswahlen 2008 von den Wählern aus dem Amt gefegt worden waren und Wolfowitz längst seinen Stuhl im Pentagon geräumt hatte — nicht in Sicht.
Vielleicht bestand Barack Obamas größte politische Stärke darin, dass er als Kandidat so völlig anders wirkte als George W. Bush. Sein Wahlkampf verhieß Licht nach acht Jahren, in denen Bushs Vizepräsident Dick Cheney nichts lieber getan hatte, als auf der, wie er es nannte, „dunklen Seite“ zu Werke zu gehen.
Aber Regierungsmacht lässt sich, einmal angehäuft, nur schwer wieder aufgeben, und Obama erlag rasch der Versuchung. Er verkündete, er wolle „nach vorn blicken, nicht zurück“, und sprach sich gegen umfassende neue Untersuchungen des Einsatzes von Folter, der rechtswidrigen Gefangenenüberstellungen, der geheimdienstlichen Ausspähung amerikanischer Bürger im Inland und anderer möglicher strafbarer Handlungen des Regierungsapparats unter George Bush aus.
Nachdem er an seinem ersten Tag im Amt einen Präsidentenerlass zur Schließung des Gefängnisses von Guantánamo Bay unterzeichnet hatte, änderte Obama seinen Kurs wieder und ließ die Anstalt in Betrieb. Er umgab sich mit Beratern, die tief in die umstrittensten sicherheitspolitischen Maßnahmen der Bush-Administration verstrickt waren.
Er weitete den Einsatz von Drohnen für „gezielte Tötungen“ auf der ganzen Welt aus, setzte die Praxis der Anklage von Terrorverdächtigen vor Militärtribunalen fort, erlaubte den Strafverfolgungsbehörden, solche in den USA gefangenen Verdächtigen ohne Verlesung ihrer Rechte zu verhören, und billigte die außerjustizielle Tötung amerikanischer Bürger, die sich al-Qaida angeschlossen hatten. Er unternahm praktisch nichts, um verbreitete Missbräuche externer Vertragspartner der US-Administration im Irak, Afghanistan oder im umfassenderen globalen Krieg gegen den Terror einzudämmen.
Er forderte und erhielt für die National Security Agency (NSA) die Befugnis, die Amerikaner weiterhin flächendeckend elektronisch zu überwachen, und ging noch weiter, indem er der NSA die Verantwortung für die Cybersicherheit übertrug, wodurch er der Spionagebehörde einen umfassenden neuen Zugriff auf das Internet verschaffte. Senatoren aus seiner eigenen Partei warnten bald, dass Obama die Macht staatlicher Überwachung heimlich noch über die von Bush autorisierten Befugnisse hinaus ausweitete.
Obama ließ zu, dass der Ausschuss für Freiheitsrechte, der den Krieg der Regierung gegen den Terror beaufsichtigen sollte, untätig und jahrelang unterbesetzt blieb. Seine Administration ging drakonisch gegen die Presse vor, spionierte Journalisten aus und verfolgte mehr Whistleblower und Hinweisgeber, die staatliche Missbräuche enthüllten, als jede vorangehende Administration zusammengenommen.
Es machte sich für Obama bezahlt, dass er dem alten Vorwurf der Republikaner, die Demokraten seien bei der nationalen Sicherheit zu weich, den Stachel zog. Obama glückte ein politisches Kunststück: Den nationalen Sicherheitsstaat, den Bush zu solch gewaltiger Größe aufgebläht hatte, nahm er und machte ihn sich zu eigen. Unter ihm wurden die planlosen Notfallmaßnahmen, die Bush nach den Anschlägen vom 11. September verhängt hatte, zur Normalität. Obamas größte Leistung — oder größte Sünde — war, dass er den nationalen Sicherheitsstaat in eine Dauereinrichtung verwandelte.
Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Präsident Dwight Eisenhower vor einem neuen „militärisch-industriellen Komplex“ gewarnt; nun wurde unter Bush und Obama ein paralleler „industrieller Heimatschutzkomplex“ aus der Taufe gehoben. Der Aufstieg des militärisch-industriellen Komplexes war von der Furcht vor dem Kommunismus getrieben.
Jetzt trieb eine andere abstrakte Furcht jedes Jahr Hunderte von Milliarden Dollar in den Aufbau der notwendigen Infrastruktur, um einen permanenten Krieg gegen den Terror zu führen; und diese Infrastruktur umwucherte CIA, FBI, Heimatschutz- und Finanzministerium, das Pentagon und Dutzende von anderen größeren und kleineren Ämtern und Bundesbehörden bald wie Urwaldlianen.
Die Panik nach dem 11. September brachte den Kongress dazu, FBI, CIA und andere Behörden schneller mit Geld zu überhäufen, als diese es ausgeben konnten. Eine Schätzung aus dem Jahr 2012 kam zu dem Schluss, dass die Dekade des Kriegs die Amerikaner beinahe vier Billionen Dollar gekostet hatte.
Gier und Macht sind stets eine gefährliche Mischung. Zu Kriegszeiten dehnt sich die Macht aus, und leicht folgt ihr die Gier auf dem Fuße. Je mehr die amerikanische Infrastruktur zur Terrorbekämpfung wächst, desto schwerer ist es geworden, sie unter Kontrolle zu halten.
Der traditionelle militärisch-industrielle Komplex war für Außenstehende zumindest teilweise sichtbar; er bestand aus gewaltigen Rüstungskonzernen, die Flugzeuge, Schiffe und Raketen bauten, aus Hightechfirmen, die der Computertechnologie und modernster Elektronik neue Wege bahnten.
Häufig kam es über die Ausgaben für große neue Waffensysteme zu heftigen öffentlichen Debatten im Kongress, und mächtige Rüstungskonzerne sahen sich regelmäßig genötigt, Anzeigen in Zeitungen und Fernsehspots zu schalten, um Unterstützung für ihre Projekte einzuwerben.
Der neue industrielle Heimatschutzkomplex ist von anderer Art. Er besteht zum großen Teil aus einem Netz von Geheimdienstbehörden und ihren privatwirtschaftlichen Kooperationsfirmen: Unternehmen, die vor allem geheime Dienste bereitstellen statt große Waffensysteme und Ausrüstung. Diese externen Auftragsnehmer werden angeheuert, um Washington dabei zu helfen, Umfang und Ausmaß terroristischer Bedrohungen zu beurteilen; sie verdienen kein Geld, wenn sie zu dem Schluss kommen, dass die Bedrohung übertrieben wird oder, Gott bewahre, der Krieg gegen den Terror jemals ein Ende findet.
Das Wachstum des industriellen Heimatschutzkomplexes ereignet sich just zu einer Zeit, in der Schlagwörter, wie Auslagerung von Dienstleistungen und Privatisierung, den Ton angeben, ausgestreut von Unternehmensberatern, die sowohl für die Wirtschaft wie den Staat tätig sind. Heute erfüllen externe Auftragsfirmen in den Vereinigten Staaten Funktionen, die einst als ureigenstes Refugium des Staates angesehen wurden, besonders im Nachrichtendienst- und Verteidigungssektor. Die Zahl der Söldner und Mitarbeiter anderer externer Auftragsfirmen war im Irak und in Afghanistan am Ende höher als die der amerikanischen Soldaten.
Heute verlässt sich die CIA in solchem Maß auf externe Kräfte, dass viele Agenten begriffen haben, dass man am besten vorankommt, wenn man kündigt — um dann in der nächsten Woche denselben Job als externer Auftragnehmer zum doppelten Gehalt zu erledigen.
Wenn die Bürokraten neue Programme zur Terrorbekämpfung ersinnen, um das Geld auszugeben, wenden sie sich an neue Firmen, die in den Büroparks rund um die Dulles Toll Road und andere Geschäftszentren in Nordvirginia in der Nähe des CIA-Hauptquartiers und des Pentagons mysteriös aus dem Boden schießen.
Es gibt über 1.200 staatliche Stellen, Ämter, Behörden und Ministerien und beinahe 2.000 Privatunternehmen, die in den Bereichen Terrorbekämpfung, Heimatschutz und Geheimdienstprogramme tätig sind, fand die Washington Post 2010 heraus, und über 850.000 Menschen in Amerika verfügen über die Zugangsberechtigung für Verschlusssachen höchster Geheimhaltungsstufe und produzieren jährlich 50.000 Geheimdienstberichte. Allein das US-Geheimdienstbudget hat sich seit 2001 mindestens verdoppelt und betrug für das Jahr 2013 über 70 Milliarden Dollar für zivile ebenso wie für militärische Geheimdiensttätigkeit.
Es ist kein Zufall, dass sieben der zehn reichsten Verwaltungsbezirke der USA in der Hauptstadtregion von Washington liegen. Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters von 2012 ist dank der massiven Geldbeträge, die an Lobbyisten, Auftragsfirmen und andere direkte oder indirekte Nutznießer der Bundesausgaben fließen, die Einkommensungleichheit in Washington größer als in nahezu jeder anderen Stadt.
Amerika hat sich an einen permanenten Kriegszustand gewöhnt. Nur eine kleine Schicht der Gesellschaft — darunter viele arme Jugendliche vom Land, die zur Armee gehen — kämpft und stirbt, während eine fest etablierte nationale Sicherheitselite zwischen hohen Posten in Staatsapparat, Auftragsfirmen, Denkfabriken und Fernsehstudios rotiert; Karrierechancen, mit denen es vorbei wäre, wenn die Vereinigten Staaten plötzlich im Frieden lebten. Für einen Großteil Amerikas ist der Krieg nicht nur erträglich, sondern profitabel geworden, und daher gibt es keinen großen Anreiz mehr, ihn zu beenden.
So hat die Schaffung eines Heimatschutzkomplexes in Zeiten endlosen Kriegs den Amerikanern eine Realität beschert, die als zentrales Narrativ den Krieg gegen den Terror unterfüttert — moderne Geschichten von Gier gepaart mit Machtmissbrauch. Es konnte nicht ausbleiben, dass die Findigen und Gewieften nach Washington strömen würden, um in diesem Goldrausch des Kriegs gegen den Terror ordentlich Kasse zu machen. Und das haben sie. In diesem Buch finden sich lediglich einige ihrer Geschichten. Aber diejenigen, die aus Amerikas Terrorobsession Kapital schlagen wollen, sind nicht die Einzigen, die danach streben, die Attentate vom 11. September für sich auszuschlachten.
Opportunismus hat viele Gesichter und wird von mehr als nur von Gier getrieben. Auch Ehrgeiz und Hunger nach Macht, Status und Ruhm sind starke Triebfedern jenes Opportunismus, der sich im Gefolge der Terroranschläge breitgemacht hat. Die noch beunruhigenderen Geschichten in diesem Buch handeln von Missbräuchen der Macht, die sich über zwei Präsidentschaften und weit mehr als ein Jahrzehnt erstreckten. Nach dem 11. September deregulierten die Vereinigten Staaten die nationale Sicherheit und wischten die Reformen hinweg, die als Folge des Watergate-Skandals in den 1970er Jahren drei Jahrzehnte lang die Macht der Exekutive in die Schranken gewiesen hatten. Die Konsequenzen stellen unser gesundes Moralempfinden auf eine harte Probe — und dauern bis heute an.
Im Mai 2013, fast genau zwei Jahre nach Osama bin Ladens Tod, hielt Präsident Obama eine wichtige Rede zur nationalen Sicherheit, in der er bekannt gab, dass es nunmehr endlich an der Zeit sei, einen Neubewertung des Kriegs gegen den Terror vorzunehmen und zu erkennen, dass er nicht ewig währen könne. Er stellte in Aussicht, die Drohnenschläge einzuschränken und einen neuen Anlauf zu unternehmen, um das Guantánamo-Gefängnis zu schließen, aber er führte nur wenige Einzelheiten an und ließ sich selbst viel Spielraum, seine Antiterrorpolitik weitgehend unverändert fortzuführen.
Tatsächlich hielt er die Rede nur eine Woche, nachdem Vertreter des Pentagons vor dem Kongress die Einschätzung abgegeben hatten, dass der Krieg gegen den Terror wahrscheinlich noch zehn oder zwanzig Jahre weitergehen würde. Die Autorisierung von 2001 zum Einsatz militärischer Gewalt — die erste Kongressresolution, die das breite Fundament für die Antiterrorpolitik des Landes sowohl unter Bush wie Obama legte — gebe der Regierung weiterhin das Recht, den Krieg gegen den Terror an jedem beliebigen Ort zu führen, in Boston ebenso wie in Pakistan.
Obamas Rede, gespickt mit hochfliegender Rhetorik über die Gefahren eines endlosen Kriegs, bot wenig Belege dafür, dass er ernst machen und energische Schritte unternehmen würde, um seine eigene Politik zu zügeln. Sie war wohl dafür gedacht, die zunehmende Unruhe unter seiner demokratischen Basis zu besänftigen, ohne wirklich einen bedeutenden Wandel einzuleiten. Die Rede stieß bei Sicherheitsexperten unweigerlich auf Skepsis. „Wenn es ein übergreifendes Thema von Präsident Obamas Rede gab“, urteilte etwa Benjamin Wittes vom einflussreichen nationalen Sicherheitsblog Law-fare, „so war es das Bestreben, sich so öffentlich wie möglich hinter die Kritiker der Positionen seiner Administration zu stellen, ohne tatsächlich deren operationale Flexibilität zu untergraben.
Um es krass zu formulieren, versuchte der Präsident, seine eigene Administration für die Positionen zu tadeln, die sie einnimmt — aber zugleich sicherzustellen, dass sie weitermachen kann wie bisher.
In ähnlicher Weise schien Obama mit seiner Rede vom Januar 2014, in der er eine Reform der NSA ankündigte, vor allem jene Amerikaner beschwichtigen zu wollen, die von den Enthüllungen des ehemaligen externen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden über die breit angelegten Überwachungspraktiken des Geheimdienstes alarmiert waren. In Wirklichkeit jedoch unternahm der Präsident kaum etwas, um die Macht der NSA zu beschränken. Obamas späterer Vorschlag, die Sammlung inländischer Telefondaten zurückzufahren, bewerteten Datenschützer bestenfalls als halbherzig.
Dank des parteiübergreifenden Anstrichs, den er unter Bush und Obama bekommen hat, befindet sich Washingtons globaler Krieg gegen den Terror nunmehr in seinem zweiten Jahrzehnt. Es gibt keine Anzeichen, dass er sich abschwächt; Gauner und Freibeuter schlachten ihn weiter nach Herzenslust aus, und immer mehr unbeabsichtigte Konsequenzen dieses Kriegs türmen sich auf. Allzu häufig sind die Dinge nicht das, was sie scheinen.
Zwei Jahre nach Paul Wolfowitz‘ Teilnahme an der Feier zum Fall Bagdads auf dem Nationalfriedhof Arlington wurde Viola Drath, die Organisatorin der Gedenkveranstaltung, im Alter von 91 Jahren Tod in ihrem Haus in Georgetown aufgefunden. Ihr viel jüngerer deutschstämmiger Ehemann, Albrecht Muth, wurde wegen Mordes verhaftet. Muth hatte sich gebrüstet, General der irakischen Armee zu sein und trug bei öffentlichen Anlässen in Washington gern eine irakische Militäruniform zur Schau. Nach seiner Verhaftung erwies sich jedoch seine Ernennungsurkunde von Premierminister Nuri al-Maliki als Fälschung: Im Heim des Paars in Georgetown fand sich ein Kassenbon der Druckerei, die sie hergestellt hatte.
Im Januar 2014 wurde Muth des vorsätzlichen Mordes an Viola Drath schuldig gesprochen.