Neulich stellte mir Twitter Wilfried vor: Einen Rentner und Herzpatienten, der es getan hat — nämlich sich impfen zu lassen. Mehrfach wahrscheinlich. Wilfried ist ein Senior, den das Bundesgesundheitsministerium in seiner aktuellen Impfkampagne präsentiert. Nach seiner Herzklappen-OP wollte er sichergehen. Um sich zu schützen. Unter dem Tweet mit dem kurzen Einspieler gab es natürlich viel Gezeter. Einen Selbstschutz gäbe es gar nicht. Und ob Wilfried als Herzpatient nun sicherer ist — man weiß es nicht, man hofft es bloß. Wenn dieser Wilfried überhaupt so existiert, denn vielleicht ist er ja auch nur ein Mime.
Zu wünschen wäre es dem älteren Herrn, so seine Geschichte stimmt, auf jeden Fall. Was die Kritik an dem Werbevideo betrifft: Die ist nachvollziehbar. Aber mir stach etwas anderes ins Auge, nicht der zweifelhafte Inhalt — was daran liegen könnte, dass mich Behauptungen ohne Evidenzen gar nicht mehr beeindrucken, man ist ja mittlerweile Haarsträubendes gewohnt. Aber warum zum Teufel stellt uns ein Ministerium einen Mitbürger nur unter seinem Vornamen vor? Man nenne mich kleinlich, aber das ist nicht nur unseriös, es gaukelt fälschlicherweise vor, dass wir an sich eine harmonische Gesellschaft sind.
Der hymnische Irrtum
Seit etlichen Jahren ist es Usus einer jeden Bundesregierung, das Land als einen an sich harmonischen Ort zu zeichnen. Man beschwört den Zusammenhalt, die Einheit und warnt dringend davor, die notwendige Partnerschaft nicht durch Abseitigkeit zu untergraben. Die Gesellschaft kommt in solchen Aufrufen als Ausbund des Konsenses vor, als potenzielle Homogenität und einvernehmliche Masse.
Diese Betrachtung aus der PR-Abteilung der Regierung ist von Grund auf falsch, denn Staat und Gesellschaft sind eben nicht auf der Grundlage zu verstehen, dass da eine dem Wesen nach einmütige Ansammlung von Bürgerinnen und Bürgern zu verwalten sei — sondern ganz im Gegenteil: Regieren bedeutet, die Disharmonien zu verwalten, die innerhalb einer Gesellschaft ganz natürlich entstanden sind und auch weiterhin entstehen werden.
Einigkeit und Recht und Freiheit: In dieser Zeile der Nationalhymne schwingt etwas mit, was der Staat gar nicht leisten kann, ja gar nicht leisten soll. Er soll Recht garantieren und Freiheiten gewähren. Aber Einigkeit? Menschen, die aus verschiedenen Milieus stammen und ganz verschiedene Interessen verfolgen, zu vereinen? Das führt zu weit, weil es nicht realistisch ist. Der Staat ist gewissermaßen nicht mehr als ein Kompromiss, ein Abwägen zwischen Interessen. Einigkeit kann dieses staatliche Naturell gar nicht erzeugen, es widerspricht seiner Aufgabe, denn am Ende beugt sich immer jemand dem Ausgleich der Partikularinteressen und ist damit nicht ganz so glücklich.
Das ist an sich auch in Ordnung, der demokratische Prozess setzt das voraus. Ebenso wie den Umstand, dass eine etwaige Einigkeit gar keine Grundvoraussetzung ist. Seit geraumer Zeit machen uns aber diverse Bundesregierungen etwas anderes vor: Sie tun so, als sei es ein Verfassungsauftrag, ein Land vereinter Bürgerinnen und Bürger zu kreieren. Die PR simuliert eine Gesellschaft, in der wir so einträchtig zusammenstehen, dass am Ende der geimpfte Senior nicht der Herr Meier oder der Herr Soundso ist, sondern der Wilfried — einer von uns allen. Einer aus der Einigkeitsmasse.
Der distanzlose Staat
Seitdem staatliche Institutionen Bürger nicht mehr nur informieren, sondern in einer nie dagewesenen Art und Weise auch animieren, fehlt es an Distanz. Der Staat rückt dem Souverän auf die Pelle, mischt sich ein, glaubt immer ein Wörtchen mitreden zu wollen. Seitdem das Virus die Exekutive übernommen hat, verschlechterte sich die ohnehin schon jahrelang praktizierte Distanzlosigkeit beträchtlich.
Der Körper der Bürger wurde betatscht, zur öffentlichen Angelegenheit, die den schamlosen Zugriff der staatlichen Instanzen zuließ. Flankiert wurde die rigide Politik nicht etwa durch Slogans der Härte: Nein, man vermittelte den Bürgern, dass man das tue, weil wir zusammenhalten müssen.
Dieses Wir ist eine der wohl beliebtesten Floskeln der letzten Jahre. Es hat einen fulminanten Aufstieg von einem stinknormalen, eher biederen Personalpronomen, zum Synonym für Souverän hingelegt. In diesem Wir schwingt die brutale Einigkeit mit, es suggeriert das einzig denkbare Interesse, das im Volk, unter den Bürgern zirkuliert. Denn dieses Wir wird gemeinhin paternalistisch vom Staat gebraucht: Er sagt, was wir denken, was wir fühlen, wie wir handeln sollten — oder besser gesagt: müssen — weil es ja in der Natur des vermeintlich kollektiven Konsenses liegt, den man uns vorgaukelt.
Die staatliche Gewalt begreift sich hier nicht mehr als Mittler, als Ordnungsrahmen, der verschiedene Interessen gegeneinander abwägen und auf einen Kompromiss setzen sollte, sondern als Beschwörer eines Geistes, der eine nationale Einheit und Einigkeit geradezu zelebriert. Staat heißt demnach: Nicht mehr diskutieren, nicht mehr Meinungen, Ansichten und Vorstellungen vergleichen und sich zu einem Ausgleich und Mittelweg „herablassen“, sondern so tun, als sei staatliches Handeln einem Kollektiv geschuldet, das das Volk sein soll.
Die PR von Ministerien oder der Bundesregierung wirbt nicht mit demokratischen Prozessen, mit dem Ringen um Lösungen etwa, die auf Kompromisse bauen, sondern sie gibt in geglätteter Sprache eine Leitlinie vor, die so tut, als würde sie ja im Sinne aller entschieden worden sein. Sie simuliert die tiefe Verbundenheit aller mit allem im Lande — und übergeht so, dass wir eigentlich ein gespaltenes Land sind. Übrigens nicht erst seit gestern.
Und dass Spaltung bis zu einem gewissen Grade Normalität ist. Sie ist es, die den Staat erst nötig macht: Denn dort, wo traute Einigkeit herrscht, würde man auch keine Interessensvertretung — als die die Parlamente einst ja mal antraten — mehr benötigen.
Ein Zeichen von Respektlosigkeit
Dass nun die Propaganda der Stunde anfängt, auf Du und Du zu seinen Bürgern zu gehen, den lieben Wilfried vorzustellen, weil wir als Mitglieder eines vorgeblich kollektiven Volkes uns ja alle kennen, mögen, schätzen und wie Brüder und Schwestern ansprechen, mag man als lockere Werbesprache begreifen. Dahinter steckt aber mehr: Respektlosigkeit.
Der Staat gibt sich von oben herab, er duzt die oberste Kraft im Lande: Den Souverän. Wer hätte Könige geduzt? Der Hofnarr sicherlich. Wollen dieser Staat und seine exekutiven Kräfte närrisch sein oder uns zum Narren halten?
Die Masche, uns alle als Brüder und Schwestern zu betrachten, als Harmoniemasse, ist natürlich ein gelungener Rückgriff auf christliche Wurzeln. Nur dass man die eigentliche christliche Urmotivation, nämlich auf Grundlage des Zusammenstehens auch Gerechtigkeit zu schaffen, Fairness und Sittlichkeit zu verwirklichen, übersehen hat. Um diese Werte geht es dem PR-Staat nicht. Er gibt seine elitäre Agenda vor und legt sie dem simulierten Kollektiv in den Mund.
Das mit der Respektlosigkeit ist ja nun auch nicht einzigartig, an allen Ecken und Enden spürt man eine gewisse Verrohung. Staatsmedien, in Deutschland noch immer euphemistisch als öffentlich-rechtliche Sendeanstalten bezeichnet, gönnen sich einen ganz neuen, verächtlichen Ton. Auch sie rücken den Bürgern auf die Pelle, erklären dem Souverän, was wir alle zu wollen haben. Wer das anders sieht, gehört zu diesem Wir nicht mehr dazu. Wird als Bürger degradiert. Vorgeführt. Der Lächerlichkeit preisgegeben. Seht genau hin, liebe Brüder und Schwestern, wie es euch ergeht, wenn ihr am Kollektiv zweifelt!
Rentner Wilfried sieht freilich wie ein netter älterer Herr aus, Impfwerbung hin oder her. Einer, vor dem man Respekt hätte, weil man annimmt, er hat viel erlebt in seinem langen Leben. Vielleicht komme ich ja noch aus sehr spießigen Zeiten, denn mir hat man beigebracht, ältere Menschen zu siezen. Aus Gründen der Hochachtung. Dass staatlich organisierte Werbung sich über diese Grundelemente der Höflichkeit, über die Basics des Knigge hinwegsetzt, sagt viel über Werbekniffe aus — aber auch über eine Bundesregierung, die solche Werbeclips absegnet. Sie will dem Souverän nicht distanziert begegnen, sie will Tuchfühlung aufnehmen und wichtig werden in seinem Leben.
Henry David Thoreau meinte mal, dass die beste Regierung jene sei, welche am wenigsten regiert. Man könnte diese Einsicht erweitern und sagen: Die beste Regierung ist die, die man am wenigsten im Alltag spürt — und die sich nicht ständig aufdrängt.