Armut im Überfluss
Denis Cuspert und Ele Shah haben viel gemeinsam, mehr, als der konvertierten Muslimin lieb sein kann. Eine Kindheit am Rand der Gesellschaft, schwierige Familienverhältnisse, Drogen – das kennt Ele auch. In West-Berlin gab es in den Achtziger Jahren viele Familien, die vom Wirtschaftswunder der Bundesrepublik profitierten und richtig wohlhabend waren.
Zwei Jobs, zwei Autos, zweimal im Jahr Urlaub war in der Mittelschicht normal. Neben dieser Normalität gab es aber auch Armut, meistens in Familien mit arbeitslosem Vater. Oder in Familien ohne Vater. Das hatte Denis Cuspert erlebt und auch Ele wurde so groß. Es gab Bezirke, in denen sich die Armut eher konzentrierte als in anderen.
In Moabit wuchs Ele auf, einem Stadtteil, der bis Anfang der Zweitausender Jahre wie Cusperts Kreuzberg zu den Problemkiezen zählte. Als eines von fünf Kindern einer alleinerziehenden Mutter kam Ele aus armen Verhältnissen. »Vom unteren Rand der Gesellschaft«, wie sie selbst sagt. Sie weiß, wie es ist, kein Geld zu haben, aber ständig Dinge zu sehen, die man gerne hätte. Vielleicht wäre das alles nicht so schlimm gewesen, wenn Ele immer in ihrem Kiez, unter Gleichgesinnten, geblieben wäre.
Spätestens auf dem Gymnasium aber traten die Parallelwelten deutlich hervor. Die Familie lebte von Sozialhilfe, weil die Mutter mit ihren fünf Kindern nicht mehr arbeiten konnte. Auf Unterstützung von den Großeltern, von der weiteren Verwandtschaft oder von Freunden konnte Eles Mutter nicht setzen. Das hieß für die Kinder vor allem eines: funktionieren müssen.
Von klein auf mussten sie sich selbst und gegenseitig versorgen, Verantwortung übernehmen und die Abläufe einhalten. Entfaltung der Persönlichkeit, Selbstfindung, eigene Wünsche, alles Begriffe, die Ele erst später lernte, denn dafür war kein Raum in ihrer Kindheit. Vielmehr ging es darum, Lösungen für ganz praktische Fragen zu finden, die sich Menschen ohne Geld täglich stellen. Wie bezahlen wir die nächsten Schulbücher? Wie die nächsten Schulausflüge? Wo kann man sich eventuell etwas leihen, welche Anträge stellen, wie beim Essen sparen?
Für jede Klassenfahrt musste eine Kostenübernahme durch das Amt beantragt werden, jedes Kleidungsstück getragen werden, bis es auseinander fiel. Kamen die anderen Kinder in der Klasse aus den Ferien zurück und unterhielten sich über die Reisen, die sie mit ihren Eltern unternommen hatten, war Ele außen vor. Einen Urlaub konnte sich die Familie niemals leisten.
Auch in Sachen Markenklamotten konnte sie in ihrer abgetragenen Kleidung von C&A nicht mithalten: »Die Unterschiede waren, dass ich Klamotten von der Stange von C&A hatte, während die anderen Klamotten von der Stange vom KaDeWe hatten«, vergleicht Ele den Unterschied, der ihr heute nicht mehr so groß vorkommt. Früher aber lagen Welten zwischen dem Outfit der Schülerin und dem ihrer Mitschüler.
Eigentlich legte sie gar keinen großen Wert auf Kleidung, selbst wenn sie es sich hätte leisten können. Aber ihr war natürlich klar, dass das markenbewusste Outfit für das soziale Standing unabdingbar und für manche Freundschaft ausschlaggebender war als Loyalität, Ehrlichkeit oder Respekt. Dinge, die Ele hingegen sehr wichtig waren und die sie oft vermisste.
Wer zu einer coolen Clique auf dem Schulhof gehören wollte, musste sich dem Diktat der Oberflächlichkeit fügen und jede neue Mode mitmachen, so empfand es die Jugendliche damals. Worüber viele Kinder zu der Zeit gar nicht nachdenken mussten, das wurde für Ele zum ständigen Thema. »Deshalb fühlte ich mich oft nicht wohl in meiner Kleidung«, so Ele.
Obwohl sie immer in einer der Schulhofcliquen dabei stand und keine Außenseiterin war, fühlte sie sich ausgeschlossen, als würde sie nicht dazugehören und irgendwie nicht richtig teilhaben an der Gesellschaft. Und das, obwohl sie eigentlich viele Freunde hatte. »Ich bin immer anders gewesen. Und dadurch irgendwie nie ich selbst«, aus der Perspektive der Erwachsenen fällt ihr das heute auf.
Auf diese Weise entwickelte sich bei Ele schon früh ein Problem mit ihrer eigenen Identität, denn spätestens auf dem Gymnasium gab es kaum Gleichgesinnte, mit denen sie über ihre Probleme hätte sprechen können: »Ich bin damals aufs Gymnasium geschickt worden, weil meine Patentante Lehrerin dort war. Dadurch bin ich überhaupt nur auf die Schule gekommen, egal welches Zeugnis ich hatte.«
Die allermeisten Schüler kamen aus gutbürgerlichen Familien mit entsprechendem finanziellen Hintergrund. Das war der Maßstab für Ele, das war normal. Deshalb fiel es ihr schwer, sich selbst nicht als merkwürdig und irgendwie fehl am Platz zu fühlen.
Eigentlich hatte sie nie verstanden, was daran so toll war, an Nike oder an Tommy Hilfiger. Und trotzdem musste sie es haben. Der Zwang zum Konsum hatte Ele ihr Leben lang unter Druck gesetzt. Sie ordnete sich unter, obwohl sie anders dachte und ihr andere Dinge wichtig waren.
Sie war damals aber nicht stark genug, sich dem zu widersetzen oder sich überhaupt bewusst zu machen, dass sie eigentlich etwas anderes wollte. »Ich war eine richtige Mitläuferin«, kritisiert sie aus heutiger Sicht. Sie jobbte nach der Schule, und irgendwann sogar während der Schulzeit, in einem Café, um sich das leisten zu können, wofür auch die anderen ihr Geld ausgaben: Zigaretten, Drogen und Partys. Vor allem Marihuana war teuer und davon brauchte Ele immer mehr.
Es hätte andere Möglichkeiten gegeben: Auf ihrer Schule waren immer auch welche, die sich bewusst gegen den Trend stellten und gegen den Strom schwammen. Ele gehörte nicht zu ihnen und zog es auch nie in Betracht. Dafür war sie als Jugendliche zu unreflektiert, wie sie heute zugibt. Trotz ihrer begrenzten Möglichkeiten war sie einfach zu sehr an ständigen Konsum gewöhnt, fand ihn vielleicht sogar erstrebenswert, gerade weil es für sie nicht so einfach war, das alles zu haben.
Heute aber, als Muslimin, kann sie sich selbst nicht mehr verstehen. Wie sie damals so leichtfertig sein konnte, ist ihr ein Rätsel. »Früher hätte ich einen Rock mit Loch einfach weggeschmissen«, schüttelt sie den Kopf. Heute wird er genäht, so wie sie ohnehin inzwischen alle Kleidung für sich und ihre Kinder selbst näht. »Ich kann es nicht ganz verhindern, auch mal Kleidung für mich zu kaufen, aber meistens gehe ich dann zum Second-hand-Laden.
Und wenn diese Kleidung ausgetragen ist, dann kann daraus noch etwas Tolles für meine Kleinen entstehen«, beschreibt sie ihren bewusst genügsamen Lebensstil. So trägt sie immer Unikate, die sie schön findet, ganz ohne dass eine berühmte Marke dahinter steht. Und sie ist auf nichts mehr angewiesen, weder auf die immer neuen Moden, die bei ihr ohnehin schlecht sitzen, noch auf »Massenware von der Stange«.
Und am wichtigsten: Es macht sie unabhängiger von Marken, die in Ländern wie Pakistan oder Bangladesch unter schlechten Arbeitsbedingungen produzieren und Frauen in großem Stil ausbeuten und unterdrücken, so sieht sie es.
Man könnte dies natürlich auch anders sehen, denn ob die Frauen dort nur ausgebeutet werden oder sich nicht auch gerade durch Lohnarbeit gewisse Freiräume schaffen können, ist zumindest umstritten.
Für Ele aber steht fest: »Ich möchte später so wenig wie möglich zur Rechenschaft gezogen werden, weil Blut an der Kleidung klebt, die von Frauen aus der Dritten Welt genäht wurde. Sowohl als Mensch, aber auch ganz besonders als Muslime tragen wir Verantwortung unseren Mitmenschen gegenüber«, betont die Konvertitin.
In ihrer muslimischen Community ist sie mit diesem Standpunkt allerdings die einzige. Denn obwohl in Pakistan und Bangladesch muslimische »Schwestern« die lebensunwürdigen Bedingungen ertragen müssen, wollen in Eles Umfeld die allerwenigsten viel Geld für Kleidung ausgeben, wenn man sie auch billiger haben kann. Muslimische Frauensolidarität hin oder her.
Der Islam allein sorgt also noch nicht für ein nachhaltiges Weltbild, das automatisch eine konsumkritische Haltung bewirken würde. Nur für Ele war er ein Mittel, sich von der konsumorientierten Lebensweise zu trennen.
Allerdings ist Ele mit dieser Einstellung auch wiederum nicht ganz allein. In Deutschland gibt es seit fast zwanzig Jahren eine Strömung von Muslimen, die sich sehr bewusst mit Fragen der Mode und des Konsums auseinandersetzen. Die Journalistin und Islamwissenschaftlerin Julia Gerlach geht diesem Phänomen bereits im Jahr 2006 in ihrem Buch Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland auf den Grund.
Ähnlich wie Ele ist diesen jungen Leuten Kleidung nicht einfach egal, sondern auch Ausdruck ihrer Persönlichkeit, und da gehört der Islam dazu. Sie möchten sich einerseits modisch anziehen, sich gleichzeitig aber auch als Muslime zu erkennen geben und ethisch und islamisch korrekt kleiden.
So gründeten Studenten in Deutschland eigene islamische Modelabels, für Streetwear mit Schriftzügen wie »Mecca« oder »Medina«. Die Stücke versahen sie mit Beipackzetteln, auf welchen aufgeführt ist, welcher Gebrauch der Jacke oder Hose erlaubt ist und welcher verboten, denn immerhin tragen sie ja einen heiligen Aufdruck.
Clubs oder Partys beispielsweise sind laut Gebrauchsanweisung keine geeigneten Orte für die islamische Sportjacke. Mit der Mode wurde gleichzeitig ein ganzer Habitus geschaffen, ein Bewusstsein dafür, dass Muslime sich anständig im Sinne ihrer Religion verhalten sollen. Mindestens jedenfalls, wenn sie islamische Symbole am Körper tragen. Popkultur und strenge Gläubigkeit, das geht durchaus zusammen. Aus der eigenen religiösen Kleiderordnung eine Mode machen, kam dabei heraus, wie Julia Gerlach zeigt.
Ele geht mit ihrer Haltung zur Kleidung aber einen Schritt weiter. Sie setzt sich nicht nur mit der Frage auseinander, wie man sich islamisch korrekt kleiden kann, sondern hinterfragt Konsum als solchen. Muss man überhaupt so viel haben und verbrauchen? Die Frage treibt Ele um, ganz unabhängig von ethischen Grenzen des Konsums. Auch deshalb näht sie lieber selbst, denn so bleibt ihr eher im Bewusstsein, wieviel Arbeit in jedem einzelnen Rock steckt.
Entsprechend sorgsam geht sie mit ihren Dingen um. Dass sie als Jugendliche so konsumorientiert und verschwenderisch mit existenziellen Dingen wie Kleidung war, kommt ihr heute absurd vor. Inzwischen hat sie gelernt, dankbar zu sein für das, was sie hat. Sich zufrieden zu geben mit den einfachen Dingen, dass sie und ihre Kinder ein Dach über dem Kopf haben, etwas zu Essen auf dem Tisch und gesund sind. Nähen ist für Ele so auch ein Mittel, sich selbst jeden Tag zu islamischem Bewusstsein und zur Frömmigkeit zu erziehen.
Aus einer säkularen Perspektive scheint Eles Hinwendung zum Islam auch eine Ausflucht gewesen zu sein aus einem Leben, das sie sich weder ausgesucht noch wirklich gewollt hatte und dennoch lebte.
Die Kleiderordnung im Islam legt Ele eher streng aus, sie hüllt sich von Kopf bis Fuß bis über die Gelenke in weite Stoffe und lässt nur ihr Gesicht bis knapp unter dem Kinn frei. Dennoch wirkt sie nicht gefangen oder beengt in ihrer Kleidung.
Trotz der hohen Temperaturen bei unserem Gespräch scheint sie kein bisschen zu schwitzen, die Stoffe wirken leicht und luftig. In Debatten um die Verschleierung von Musliminnen wird von Islamgegnern aber häufig als Argument gegen islamische Kleidung angeführt, dass diese die Trägerin einengen würde.
Von Musliminnen in Deutschland selbst hört man das nicht. Natürlich wird es auch Frauen und Mädchen geben, die das Kopftuch nicht freiwillig tragen, sondern weil sie sich durch ihr Umfeld unter Druck gesetzt fühlen. Manche von ihnen werden sicherlich auch gegen ihren ausdrücklichen Willen dazu gezwungen.
Wenn diese Frauen sich durch die Verhüllung behindert und beengt fühlen, ist das verständlich. Das hat aber wenig mit dem Tuch an sich zu tun, sondern eher mit dem Zwang, der dahinter steht. Den Zwang beseitigt man wiederum nicht, indem man den Hijab beseitigt, im Gegenteil. Der Druck auf die Frauen wird dadurch nur größer.
All diese Diskussionen um den muslimischen Frauenkörper kennt Ele. Sie hat das Gefühl, dass Musliminnen dabei nicht gefragt werden und zu Wort kommen. Deshalb findet Ele solche Vereinnahmungen verletzend und müßig. Früher empfand sie dasselbe, wenn es um die Zurschaustellung von Frauenkörpern ging.
Meistens waren es Jungs auf dem Schulhof oder die Werbung, die darüber diskutierten und entschieden. Mädchen konnten die Schönheitsideale umsetzen, aber nicht selbst mitbestimmen. Dennoch akzeptiert Ele solche gesellschaftlichen Debatten, auch wenn es sie ärgert, dass die Deutungshoheit beim Thema Frauenkörper nicht auch bei denjenigen liegt, die von den Phänomenen, über die diskutiert wird, direkt betroffen sind.
Im Gegensatz zu Cuspert hat sich Ele aber nicht auf den Islam besonnen, um sich auf anderem Wege zu holen, was ihr die Mehrheitsgesellschaft verweigerte, Reichtum und Status zum Beispiel.
Im Gegenteil:
Weil sie sich nicht länger den Werten der neoliberalen Konsumgesellschaft unterordnen wollte, mit denen sie sich gar nicht wirklich identifizieren konnte, hat sie ihrem alten Lebenswandel abgeschworen.
Sie wollte selbstbestimmt leben. Die Entscheidung Muslimin zu werden, war für sie folglich wie ein Befreiungsschlag. »Man lebt durch den Islam eindeutig freier von diesem ganzen Zwang, ich muss dies haben, ich muss das haben«, erklärt sie.
Das dürfte viele Feministinnen der alten Schule überraschen: Die Konvertitin fühlt sich nicht nur individueller mit ihrem Schleier, sondern auch freier. Alice Schwarzer beispielsweise erklärte das Kopftuch zur »Flagge des Islamismus«, zum Zeichen der männlichen Unterdrückung, das Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradiere und ihnen durch die Einschränkung der Wahrnehmung, Kommunikation und Bewegungsfreiheit eine schwere soziale Behinderung zufüge.
Hier zeigt sich, wie weit die Debatte über den Islam und die Realitäten von Muslimen in einem europäischen Land wie Deutschland auseinanderklaffen. Die einen verdammen den weiblichen islamischen Habitus als freiheitsberaubend, für die anderen bietet er genau das: Freiheit. Wie kann das sein? Irren sich Musliminnen und merken gar nicht, was ihnen angetan wird? Oder sind Islamkritikerinnen zu wenig empathisch und können sich eben doch nicht vorstellen, wie es ist, muslimisch zu sein?
Dass beide Positionen mit Freiheit argumentieren und sich dennoch ausschließen, dieser Widerspruch lässt sich leicht auflösen: Sie sehen die Freiheit von jeweils unterschiedlichen Dingen bedroht. Die einen von der männlichen Herrschaft, die Frauen bevormundet. Die anderen von der männlichen Herrschaft, die Frauen zu Objekten macht.
Beiden gemeinsam ist die Form der Unterdrückung durch männliche Herrschaft, die das Weibliche abwertet und auf bestimmte Eigenschaften reduziert. Im ersten Fall wird die Frau auf ihre Qualitäten innerhalb der Familie reduziert, auf das Ehefrau- und Mutterdasein, über das der männliche Part wacht.
Im zweiten Fall sind es die Qualitäten des Sexobjekts, über die Männer und die Unterhaltungsindustrie wachen. Wovon sich Frauen nun mehr eingeschränkt fühlen, entscheiden sie selbst. Was den Feministinnen der alten Schule nicht bewusst zu sein scheint, ist das Dilemma, vor welches sie muslimische Kopftuchträgerinnen mit der Forderung stellen, den Schleier abzulegen.
Musliminnen haben dann die Wahl, sich von Männern beherrschen zu lassen oder von anderen Frauen.