Die erste Fehleinschätzung der britischen Regierung bestand darin, dass sie glaubte, die Sache würde sich von ganz allein regeln, wenn nur der Zeitdruck groß genug wird. Die Zeit verstrich, doch die Probleme blieben. Der Brexit hängt seit Monaten in einer Dauerschleife fest. Grotesken Abstimmungen im britischen Unterhaus folgen kraftlose EU-Gipfel; diese wiederum haben im Regelfall noch sinnlosere Unterhausdebatten und Abstimmungen zur Folge.
Die kontinentalen Staatenlenker wirken wie Kämpfer, die sich in Schützengräben eingeigelt haben, während jenseits des Ärmelkanals die britische Premierministerin Theresa May hingebungsvoll Platzpatronen verschießt.
Fatal ist, dass dieser Stellungskrieg eine Lösung in immer weitere Ferne schiebt. Wir sind Zeugen verzweifelter politischer Versuche, immer noch ein Hintertürchen zu finden, um das Unvermeidliche ein weiteres Mal hinauszuschieben. Währenddessen wächst die Verunsicherung. Von Tag zu Tag nimmt die Zahl der Briten zu, die nicht mehr wissen, ob es eine gute Idee ist, die EU zu verlassen. Gleichzeitig steigt auch die Zahl der EU-Staaten, die sich nicht mehr sicher sind, ob sie die britischen Störenfriede unbedingt in ihrem Verbund behalten wollen.
Anfangs war es ganz einfach: Nach Art. 50 des EU-Vertrags stand fest, dass das Vereinigte Königreich zwei Jahre nach Antragstellung aus der Union austritt, also am 29. März 2019. So war es zumindest bis zum 21. März 2019. An diesem Tag stimmte der Europäische Rat einer Fristverlängerung bis zum 22. Mai 2019 zu, unter der Voraussetzung, dass das Austrittsabkommen in der nächsten Woche vom Unterhaus gebilligt wird (Option A).
Falls das nicht geschieht, gewährte der Europäische Rat eine Fristverlängerung bis zum 12. April 2019 zu; innerhalb dieser Frist muss das Vereinigte Königreich „Angaben zum weiteren Vorgehen zur Prüfung durch den Europäischen Rat“ machen (Option B). Eine Regelung für den Fall, dass Großbritannien innerhalb dieser Frist keine Vorschläge unterbreitet, wurde erstaunlicherweise nicht getroffen.
In anderen Worten: Wenn das britische Unterhaus bis 29. März dem „Deal“ zustimmt, dann verlässt Großbritannien am 22. Mai die Europäische Union. Wenn nicht, ist alles offen.
Die Chancen, dass das Unterhaus der Option A zustimmt, sind aus heutiger Sicht minimal. Denn das Parlament hat bereits bei zwei Abstimmungen am 15. Januar und 12. März das mit der EU ausgehandelte Abkommen mit großen Mehrheiten abgelehnt. Neuerdings kommt erschwerend hinzu, dass Regierungschefin Theresa May nicht mehr Herrin des Verfahrens ist. Am 25. März hat nämlich das britische Unterhaus per Abstimmung selbst die Kontrolle über den Brexit-Prozess übernommen. Außerdem lehnt der mächtige „Speaker“ des Parlaments eine dritte Abstimmung über das unveränderte Dokument ab.
Kaum besser sind die Chancen der Option B: Weder ist absehbar, ob Großbritannien innerhalb der Nachfrist überhaupt Vorschläge für das weitere Vorgehen macht, noch, welchen Inhalt sie haben; am wenigsten ist absehbar, ob sie der Prüfung durch den Europäischen Rat standhalten werden. Diese Unsicherheiten legen die Vermutung nahe, dass das Vereinigte Königreich bis auf unbestimmte Zeit in der EU bleiben wird und die Hängepartie andauert.
Eine logische Folge davon ist, dass das britische Volk bei den Europawahlen im Mai Abgeordnete für das Europäische Parlament wählen muss. Die Gewählten sind um ihren Job nicht zu beneiden, denn er erfordert ein beträchtliches Maß an Schizophrenie. Denn diese Abgeordneten sind einerseits den Werten, Zielen und Interessen der Union verpflichtet, andererseits aber auch denen der Mitgliedsstaaten (Art. 53 EU-Vertrag).
Das bedeutet: Aufgrund des bindenden Brexit-Volksentscheids ist es Aufgabe der gewählten Vertreter des Vereinigten Königsreichs, die Weichen Richtung Brexit zu stellen. Da die britischen Abgeordneten aber auch und vor allem Mitglieder des Europäischen Parlaments sind, ist es ihre Pflicht, für den Bestand der Union einzutreten.
Weit schwerer noch wiegt die fortbestehende Verunsicherung von Wirtschaft und Handel sowie der von einem Brexit betroffenen Menschen beiderseits des Ärmelkanals. So verständlich und anerkennenswert die Bemühungen der EU sind, einem Mitglied die Koffer nicht vorschnell vor die Türe zu stellen, so berechtigt ist das Interesse der Gemeinschaft, baldmöglichst Klarheit über die politischen und rechtlichen Verhältnisse zu gewinnen.
Im Abwägungsprozess spielt es durchaus eine Rolle, dass nicht die EU es war, die die Briten loswerden wollte. Vielmehr hat sich das britische Volk nach einer langen und teilweise verlogenen Diskussion für diesen Weg entschieden – und zwar entgegen warnender Stimmen aus der EU. Das heutige Chaos erklärt sich wesentlich daraus, dass Großbritannien von Anfang an nicht vorbehaltslos und aus vollem Herzen Mitglied der Europäischen Union war.
Die Briten suchten spätestens seit Margret Thatcher („I want my money back“) Sonderwege und Rabatte, sei es in Währungs-, Grenz- oder Finanzierungsfragen. Im Hintergrund lebte wohl immer die Vorstellung, ohne die Fesseln der EU zur einstigen Weltgeltung als British Empire zurückzukehren.
Angesichts dessen ist es legitim, dass die EU im Interesse des eigenen Fortbestands eine klare Haltung einnimmt. Es ist unübersehbar, dass eine zögerliche und schwache EU-Haltung im Brexit-Prozess eine Ermunterung für etwaige unzufriedene Mitgliedsstaaten ist, Austrittsgedanken näherzutreten oder zumindest damit zu drohen. In anderen Worten: Die EU tut gut daran, den bereits beschlossenen Austrittsoptionen A und B nicht noch weitere Varianten C, D und E folgen zu lassen.
Außerdem ist ein hoffnungslos zerstrittenes Großbritannien keine Hilfe für eine Union, in der einige Mitgliedsländer zunehmend den inneren Konsens aufkündigen. Es sprechen somit gute Gründe dafür, zielstrebig ein baldiges Verhandlungsende anzusteuern. Da man den EU-Verantwortlichen nicht nachsagen kann, sie hätten nicht fair und geduldig mit der britischen Regierung verhandelt, könnte ein Brexit nicht als Versagen europäischer Politik gewertet werden. Im Übrigen schließt das EU-Regelwerk nicht aus, dass ein ausgetretenes Land zu gegebener Zeit einen neuen Aufnahmeantrag stellt, etwa dann, wenn sich herausgestellt hat, dass ein Alleingang nicht die erhofften Verbesserungen bringt.
Eine solche Neubewerbung ist zwar derzeit reine Hypothese. Doch wenn es dazu käme, könnte man sicher sein, dass Großbritannien – um eine Erfahrung reicher – die Vorteile des gemeinsamen europäischen Weges mehr zu schätzen wüsste. Deshalb wäre auf längere Sicht einer endgültigen Klärung des britischen Standpunktes der Vorzug zu geben vor einer Politik des ausufernden Zuwartens und Vertagens. Das sieht die EU anders. Denn sie öffnet durch die jüngsten Beschlüsse wieder ein Hintertürchen für die erhoffte Umkehr eines austrittswilligen Mitglieds und nimmt in Kauf, dass sie als Lohn für ihr zögerliches Verhalten ein innerlich zerrissenes Land erntet.
Deshalb: Bei aller Skepsis gegen die Sinnhaftigkeit des Brexits, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Ergänzt durch die Option eines Neustarts!
Das absurde Theater rund um den Brexit ist Gift für das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Institutionen und der politischen Klasse und letztlich auch für den Glauben an die Demokratie. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts Sky Data sind sich die Briten in einem Punkt einig: 90 Prozent der Befragten empfinden es als „nationale Demütigung“, wie das eigene Land den Brexit handhabt. Auch hierzulande schwindet angesichts des Brexitchaos das Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, in angemessener Zeit zu Ergebnissen zu kommen.
Dahinter verbirgt sich der naheliegende Gedanke: Wenn die Politik schon ein überschaubares Problem wie den Brexit nicht hinkriegt, wie will sie dann die großen Menschheitsprobleme lösen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Feinde des demokratischen Prinzips dieses unübersehbare Politikversagen instrumentalisieren und zu einem Generalangriff auf Demokratie, Parlamentarismus und Europäische Union blasen.
Jenseits solcher durchschaubarer Manöver lauert eine weitere viel größere Gefahr. Es ist das Phänomen falscher Gewichtung im Verbund mit fehlgeleiteter Aufmerksamkeit.
Beim Brexit zeigt sich das darin, dass die Politik diesem Thema außerordentlich viel Kraft und Zeit gewidmet hat; es sind dies Ressourcen, die zur Lösung viel wichtigerer – weil existenzieller – Probleme fehlen.
Wer den Aufwand für das Thema Brexit als Maßstab nimmt, kommt nicht umhin feststellen, dass die politische und mediale Aufmerksamkeit für die echten Überlebensfragen der Menschheit – wie etwa Klimawandel, Zerstörung der Ökosphäre, Rohstoffverschwendung, Bevölkerungsexplosion, weltweite Migration, Genmanipulation, Risiken der künstlichen Intelligenz – beängstigend gering ist. Kontrollfragen: Wieviele EU-Gipfel gab es zu diesen Themen? Wieviel Sendezeit bekamen sie von den TV- und Rundfunkanstalten?
So bedauerlich der Austritt Großbritanniens für die Europäische Union auch sein mag, zumal in einer historischen Phase, in der die Gewichte in der Welt neu verteilt werden, so überschaubar ist dieser Verlust im Vergleich mit den Versäumnissen bei den erwähnten globalen Problemen.
Deshalb zum Schluss ein Appell an alle verantwortlichen Politiker: Durchschlagt endlich den gordischen Knoten beim Brexit und stellt euch den wirklichen Herausforderungen der Zukunft!