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Der Blick von unten

Der Blick von unten

Das Leben und Wirken der Journalistin Martha Gellhorn zeigt, dass vieles, was wir heute erleben, nichts Neues ist, und inspiriert uns, ihrem Vorbild zu folgen.

„Die Menschen sagen oft mit Stolz: ‚Ich interessiere mich nicht für Politik.‘ Sie könnten genauso gut sagen: ‚Ich interessiere mich nicht für meinen Lebensstandard, meine Gesundheit, meine Arbeit, meine Rechte, meine Freiheiten, meine Zukunft oder irgendeine Zukunft.‘ Wenn wir die Kontrolle über unsere Welt und unser Leben behalten wollen, müssen wir uns für die Politik interessieren“ (Martha Gellhorn).

Es ist jene Rigorosität, die aus diesen Zeilen spricht, die Bereitschaft, sich einzumischen in Angelegenheiten, die sie vermeintlich nichts angehen, als Amerikanerin, als Modejournalistin, als Frau, die Gellhorn zu einer Ikone des westlichen Journalismus macht. Die kompromisslose Professionalität, mit der sie ihre Arbeit betreibt, wirkt umso faszinierender in einer Welt, in der gestandene Profijournalisten davon sprechen, sie würden „recherchieren“, wenn sie etwas in eine Suchmaschine eingeben oder die Meldungen zweier Nachrichtenagenturen zusammenschreiben. Gellhorn würde diese Art zu arbeiten wahrscheinlich noch nicht einmal als wirklichen Journalismus bezeichnen.

Wir leben in einer Welt, in der wir daran gewöhnt sind, ein scheinbar äquivalentes Bild der Wirklichkeit innerhalb eines Wimpernschlags abrufen zu können. Dass dieses Bild vorher von irgendjemandem konstruiert worden sein muss, dass es per Definition nie komplett mit der Wirklichkeit übereinstimmen kann und dass man, um kompetent über ein Ereignis berichten zu können, entweder dabei gewesen sein oder aber sich in der realen Welt tief in das Geschehene vertieft haben muss, ist in Zeiten des aktualitätsgetriebenen Online- und Anzeigenjournalismus nicht mehr selbstverständlich.

Martha Gellhorn war immer vor Ort. Und immer heißt in ihrem Fall wirklich immer. Zwischen 1935 und 1990 berichtete sie aus nahezu jedem Krieg, der die Welt in dieser Zeit erschütterte. Sie schlug sich teils mit waghalsig schlechten Sprachkenntnissen durch komplexe Gemengelagen und wusste — auch wenn ihre Perspektive mit Sicherheit subjektiv geprägt war — zumindest immer, wovon sie sprach. Ein journalistisches Ideal, das sie schon früh verinnerlichte.

Die 1908 geborene Tochter eines Gynäkologen und einer Frauenrechtlerin, die aus Breslau vor dem antisemitischen Klima in die USA geflohen waren, und ihre drei Brüder hatten bei den zahlreichen Tischdiskussionen im Elternhaus einige Regeln zu befolgen, wie Gellhorn später konstatierte:

„Kein Klatsch, keine Gerüchte. Alles, was man sagte, musste selbst erlebt oder beobachtet sein. Und keine Voreingenommenheit, keine Vorurteile“ (1).

Ihr eigener Weg

Marthas größter Traum ist die Schriftstellerei. Auf gut gemeinte Ratschläge und Anweisungen insbesondere von Männern gibt sie dabei nicht viel. Anfang der 1930er-Jahre lebt sie kurzzeitig im Haus des berühmten englischen Schriftstellers Herbert George (H.G.) Wells. Dieser nimmt sich ihrer Ausbildung an. Zumindest versucht er es, wenn auch Gellhorn seinen Unterricht im Nachhinein als sehr irritierend beschreibt.

Wells legt der jungen Martha nahe, sie könne niemals schreiben, wenn sie nicht auf eine Fachhochschule gehe und dort Naturwissenschaften studiere. Er weckt sie jeden Morgen, „zwingt sie“ — wie Gellhorn es später beschreibt — aufzustehen, weil er davon ausgeht, es könnte nur dann etwas Brauchbares entstehen, wenn sie sich genau wie er von 9.30 bis 13 Uhr dem Schreiben widmet. Die junge Martha legt sich meist sofort wieder hin, schließlich verbrachte sie natürlich die Abende damit, unten im Dorf mit den Gentlemen zu tanzen.

1930 ist Martha Gellhorn 22 Jahre alt und bricht das College nach dem ersten Semester ab, um mit lediglich zwei Koffern, 75 Dollar und einer Schreibmaschine nach Paris zu gehen. Sie wirkt attraktiv, selbstbewusst und furchtlos, was ihr dabei hilft, mit Artikeln für jedes Blatt, das sie drucken wollte, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Sechs Jahre später lernt sie auf Kuba Ernest Hemingway kennen, der bereits damals als einer der besten Schriftsteller seiner Generation gilt, und geht mit ihm nach Spanien, um dort im Auftrag der Zeitschrift Collier’s über den Bürgerkrieg zu berichten.

Hier offenbart sich ihr größtes Talent: Anstatt über die Mechanismen des Krieges schreibt sie über den Mut gewöhnlicher Zivilisten, die in den Konflikt verwickelt sind. Ihr Auftraggeber ist begeistert, und sie erhält weitere Artikelanfragen.

Von da an zieht sie von Krieg zu Krieg und entfaltet ihre ganz eigene — weibliche — Stimme, die sie zur bedeutendsten Kriegsreporterin des 20. Jahrhunderts macht:

„Zu der Zeit, als die meisten Kriegsreporter über Feldzüge, Verluste und Strategien schrieben, berichtete sie über das, was Krieg den einfachen Menschen antut, über Zivilisten, verwaiste Kinder, Opfer und Zerstörung“ (2).

Was Gellhorn so besonders auszeichnet, sind nicht nur ihr ungewöhnlicher Mut, als junge Frau alleine in Krisengebiete zu gehen und sich in einer Männerdomäne zu behaupten, sondern vor allem ihr mitreißender Stil, der Leserinnen und Leser spüren lässt, was sie beobachtet, als wären sie selbst dabei.

Das Schreiben fällt ihr nicht leicht, sie klagt über Blockaden und Rückschläge. Doch sie macht beharrlich bis ins hohe Alter weiter, da die Schriftstellerei für sie das ist, woran sie sich in einer unsicheren und feindseligen Welt festhalten kann.

Kurz nach ihrem 85. Geburtstag beschließt sie, nach Brasilien zu reisen, um über Straßenkinder zu berichten. Sie ist leicht taub, auf einem Auge fast blind und leidet unter Rückenschmerzen, was sie nicht davon abhält, wochenlang durch das Land zu fahren und Menschen zu interviewen. Ihr Tatendrang ist unermüdlich, und sie notiert: „Wir lernen immer hinzu, die Gedanken wachsen, wie Fingernägel im Grab, solange wir atmen“ (3).

1998 nimmt sie sich wegen ihrer Krankheiten im Alter von 89 Jahren das Leben.

Heute und damals

24 Jahre später bedroht eine große Wirtschaftskrise die Welt, und die Mittelschicht hat die Ärmsten aus ihrem Bewusstsein verbannt, während sie selbst den sozialen Absturz fürchtet. 24 Jahre später haben wir zwei Jahre Corona-Wahnsinn hinter uns und erleben, wie Andersdenkende aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. 24 Jahre später glauben viele Europäer, sie wüssten, wie die Welt ist, weil sie sich im Internet oder Fernsehen informieren. Oft bestimmt Angst unsere Weltsicht und nicht mehr die Neugierde.

Martha Gellhorns Berichte und Erfahrungen beruhigen, weil sie zeigen, dass es auch damals bereits schlimmste Missstände gab, was sie nicht daran hinderte, ein erfülltes Leben zu führen, ohne wegzuschauen. Sie könnte ein Vorbild sein für heutige Journalisten, die allzu oft die Welt von ihren Laptops aus bewerten und beschreiben, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein.

Die Stationen ihres Lebens und journalistischen Wirkens offenbaren erstaunliche Parallelen zu heutigen politischen Begebenheiten und Zuständen. Sich der Mechanismen bewusst zu werden, die hinter sich wiederholender Geschichte stehen, geht zwangsläufig einher mit der Auseinandersetzung mit den Mechanismen der eigenen Menschlichkeit.

Die Annahme, wir würden uns als Individuen auf ganz grundlegende Weise von anderen Menschen — auch von denen, die in einer anderen Zeit gelebt haben — unterscheiden, kann in vielen Bereichen als Illusion bezeichnet werden. In den großen Krisen unseres persönlichen Lebens wie in den Bewährungsproben der Gesellschaft sind wir uns erstaunlich ähnlich, in unserer Angst, unserem Mut, unseren teils zerstörerischen Bewältigungsmechanismen und in dem Gefühl von identifikatorischer Zugehörigkeit, das wir in politischen Gruppen finden.

Weltwirtschaftskrise (North Carolina, USA, 1934)

Als sie nach vier Jahren zum ersten Mal aus Frankreich in die USA zurückkehrt, bereist sie im Alter von 25 Jahren im Auftrag des Weißen Hauses die US-Bundestaaten New England, North Carolina und South Carolina, um über die Auswirkungen der großen Depression und eventuelle „Protestgruppen“ zu berichten.

Sie besucht Fabrikarbeiter und Arbeitslose in ihren Häusern und beschreibt, was sie dort sieht und was die Menschen ihr erzählen. Eine Frau erhält 3,40 Dollar Sozialhilfe pro Woche, ihre Kinder haben keine Schuhe, und in der Wohnung stehen kaum Möbel. Sie gibt wieder, wie sehr diese Leute noch auf die Worte des im Jahr zuvor gewählten Präsidenten Franklin D. Roosevelt vertrauen, der den Mindestlohn und die Einführung einer Sozialversicherung versprach.

„In vielen Fabrikdörfern kam es zu Zwangsräumungen; weitere sind angedroht. Diese Menschen sind in einer furchtbaren Klemme. Mein Gott, wie dürftig die Sprache erscheint: Diesen Menschen stehen Hunger und Kälte bevor, die Aussicht, abhängige Bettler zu werden; ihnen droht Obdachlosigkeit, und sie müssen damit rechnen, dass ihre Familien auseinandergerissen werden. Wieviel mehr kann ein Mensch wohl ertragen? Ich weiß es nicht.

Man würde denken, dass sie verrückt sind vor Angst, vor Feindseligkeit. Ich erwartete ‚gesetzlose‘ Reden, Drohungen oder zumindest blanke Verzweiflung. Und ich fand nichts dergleichen, nur verhaltenes, stilles Elend; Angst um ihre Familie und Angst, dass ihre Kinder nicht zur Schule gehen können. (…) Aber was sie bei Verstand hält, weitermachen und hoffen lässt, das ist ihr Glaube an den Präsidenten. (…)

Diese Menschen werden nicht so schnell die Hoffnung aufgeben und lange nicht am Präsidenten zweifeln. Aber wenn sie ihre Jobs nicht bekommen, was dann? Wenn der Winter kommt und sie sehen, dass die Hilfe unter dem Existenzminimum bleibt, was dann?

Ich denke, vielleicht streiken sie wieder, hoffnungslos und apathisch. An einigen wenigen Orten könnte es zu Gewalt kommen, die gewiss schnell unterdrückt wird. Aber wenn sie diese Hoffnung verlieren, dann bleibt für sie als Gruppe nicht viel übrig. Und wenn diese Klasse — die auch ein wunderbarer Menschenschlag ist — ihren Mut verliert oder ihre Moral oder wie auch immer Sie es nennen wollen, dann wird es ein noch schlimmeres soziales Problem geben als jetzt schon. Mit der Zeit, wenn Enttäuschung und Leid hinzukommen, könnten aus ihnen gegen ihren Willen verzweifelte Menschen werden. Wie es aussieht, steht zwischen ihnen und der schieren Angst der Präsident. Aber nur der Präsident“ (4).

Und sie irrten sich nicht. Roosevelt brachte wenig später den New Deal auf den Weg, mit dem er heftige Kritik auf sich zog und von den Republikanern als Kommunist und Enteigner verunglimpft wurde. Die Berichte der jungen Journalistin, die ohne Filter das Elend beschrieb, das sie sah, halfen, die Ärmsten in die Gesellschaft zurückzuholen.

Auch heute, so scheint es, befinden wir uns in einer zumindest partiell ganz ähnlichen Situation. Inflation, steigende Gaspreise, Kriegsangst und die Aussicht auf einen Winter, der zumindest für einen Teil der Bevölkerung durchaus kalt werden könnte, dominieren das politische Klima.

Und auch hier in Deutschland zeichnet sich die Mentalität der Bevölkerung eher durch apathische Hoffnung in die Regierung, in irgendjemanden, der es irgendwie noch regeln mag, bevor es zum Schlimmsten kommt, als durch politisches Aufbegehren aus.

Doch die Berichterstattung heute unterscheidet sich grundlegend von der Gellhorns: Fast nichts hören wir über Einzelschicksale, Menschen, die schon jetzt ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können, die ihre Wohnungen verlieren, von Menschen, die sich von ihren nicht an die Inflation angepassten Hartz-IV-Sätzen nicht mal mehr ein gesundes Maß an Obst und Gemüse leisten können. Stattdessen lesen wir von allgemeiner Sparmoral, der Aufforderung, kalt zu duschen, solidarisch zu sein mit der Ukraine, umzustellen auf erneuerbare Energien. Die Forderung, Nord Stream 2 zu öffnen, gilt sogar dann als unsolidarisch, wenn man selbst existenziell darauf angewiesen ist.

Ausgrenzung Andersdenkender (USA, 1947)

In der Nachkriegszeit wütet in den USA die Hass-Angst vor Kommunisten, die vom republikanischen Senator Joseph McCarthy aggressiv befeuert wird. Martha Gellhorn beschreibt sie als eine „neurotische Angst vor einem unsichtbaren und unbekannten Feind“, die zu „Angst vor privater Meinung und unangepasstem Verhalten, Angst vor Fremdem“ führt — „und fremd war jeder, der sich von der umgebenden Mehrheit unterschied“.

Martha Gellhorn zeigt sich davon angewidert und schreibt im amerikanischen Politikmagazin The New Republic über das Kreuzverhör eines deutschen Musikers im großen Saal des Repräsentantenhauses durch das House Un-American Activities Committee:

„Dies ist nicht der große Terror, den wir während der langen verhassten Jahre mitansahen; es gibt keine heimlichen Verhaftungen, keine Bestrafung unter Folter, nicht die Rückkehr als Asche in einem Karton. Dies ist nur ein wenig Terror, dazu bestimmt, den kleinen Leuten Angst einzujagen. Es funktioniert. Ohne das Gesetz zu bemühen, kann ein Mensch völlig zerstört werden. (…)

Denn vielleicht sind die Männer dieses Komitees entschlossen, Schweigen zu verbreiten, jene Stimmen einzuschüchtern, die Nein rufen, Fragen stellen, die Vorgeführten verteidigen, Grausamkeit attackieren und auf die Rechte und Würde des Menschen pochen.

Ein Mann mit Familie wird es sich zweimal überlegen, bevor er furchtlos und kritisch seine Meinung sagt, wenn ihm eine unamerikanische Untersuchung, eine öffentliche Brandmarkung und der Verlust des Jobs drohen. Es ist ein schwacher Trost, zu wissen, dass man zwar wegen seiner Meinung nicht ins Gefängnis geworfen werden kann, aber ihre freie Meinungsäußerung dazu führt, dass die Angehörigen hungern“ (5).

70 Jahre später dürften Gellhorns Ausführungen wohl kein weniger mulmiges Gefühl in den Mägen der meisten Leserinnen und Leser auslösen. Das Gefühl, genau zu wissen, welche Abweichung vom offiziellen Narrativ der Coronakrise man sich in welchem Kontext leisten kann, ist ein Phänomen, das auch heute die kleine Unfreiheit unserer Gesellschaft oder — wie Gellhorn es nennen würde — „den kleinen Terror“ ausmacht.

Im Feindgebiet (Polen, 1958)

Ihre erste Reise in ein kommunistisches Land unternimmt Martha Gellhorn im Alter von 50 Jahren.

„Ich fühlte mich ziemlich wagemutig, als am Flughafen Warschau mein Koffer sorgfältig durchsucht wurde. Ich hatte kein Empfehlungsschreiben, sprach kein Wort Polnisch, und als ich auf der Straße vor meinem Warschauer Hotel stand, fragte ich mich, ob ich bereit fürs Irrenhaus war. Wie wollte ich diesen Job erledigen, den ich mir selbst ausgesucht hatte?“ (6)

Also geht sie die Straße herunter, entdeckt eine Galerie und geht hinein. Dort trifft sie einen jungen Künstler, dank dem sie nach und nach mehrere Menschen kennenlernt, mit denen sie sich anhand eines Sprachgemischs aus Französisch, Deutsch und Englisch verständigt.

„Julek hatte gesagt, dass die jungen Menschen ohne Hoffnung seien, aber seine Vitalität, ihre Vitalität widerlegte diese Behauptung. Diese lustigen, unterernährten, mangelhaft gekleideten, gut aussehenden jungen Menschen waren eine großartige Generation, frei, hellwach und unerschrocken. Wie all die wirklich Tapferen waren sie sich ihrer Tapferkeit nicht bewusst; Tapferkeit war ihr Normalzustand. (…)

Die zufällige Gruppe von Polen gewährte mir den Luxus des Bewunderns. Wenn eine Generation so aufwachsen konnte wie sie, die die Grausamkeit des Krieges und die staatliche Unterdrückung erfahren hatten und trotzdem ungebrochen, großzügig, tolerant und fröhlich waren, dann gab es Hoffnung für unsere fragwürdige Spezies. (…)

Ich wünschte, dass jene tapferen guten Menschen in Polen die Norm und die Mehrheit unserer Gattung wären, aber das sind sie nicht. Ich wünschte, dass Freundlichkeit eine universelle menschliche Eigenschaft wäre, aber das ist sie nicht. Und ich habe keine Lösungen“ (6).

Fast wünscht man sich jene Unvoreingenommenheit zurück, jene Bereitschaft, sich überraschen zu lassen von den Menschen hinter dem heimisch geschürten Feindbild. Es ist eine Überraschung, die man nahezu immer erfährt, wenn man die Angst vor dem anderen, dem Stigmatisierten, dem Juden, Araber, Obdachlosen oder — wie heute wohl ein weiteres Mal — dem Russen überwindet, ihm menschlich und als Individuum begegnet.

Diese Bereitschaft, sich den sogenannten Feinden menschlich zu nähern, Freundschaften und Bewunderung zwischen den kleinen Leuten zu etablieren oder — wie Gellhorn es mit ihren Berichten vermochte — empfundene Nähe zu schaffen, auch zwischen denjenigen, die nicht das Privileg hatten, eine fremde Kultur zu bereisen, ist kein rein persönlicher Fortschritt.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Leistung für den Frieden, die im Zweifelsfall den Krieg verhindert. Denn wer ist schon bereit, gegen die eigenen Freunde in den Kampf zu ziehen?

Gellhorns Reise nach Polen fand mitten im kalten Krieg statt, einem Zustand, dem die heutige Welt immer ähnlicher zu werden scheint. Zutiefst angewidert von der absurden Kriegslust beider Seiten schreibt sie:

„Die Führer der Welt scheinen auf merkwürdige Weise in Privatfehden verstrickt zu sein. Sie sausen in Flugzeugen um den Erdball und walten ihres olympischen Amtes und sie reden und reden unablässig als Selbstreklame. Ihr Gerede hört sich an, als ob sie glauben, ein Atomkrieg könnte gewonnen oder verloren werden (…). Die Führer der Welt scheinen mit dem Leben hier unten auf der Erde die Fühlung verloren zu haben. Denn wir werden geführt und müssen folgen, ob wir wollen oder nicht. Aber wir müssen nicht schweigend folgen. Als eine von Millionen Geführten werde ich mich auf dieser hirnverbrannten Straße ins Nichts kein Stück mehr weitertreiben lassen, ohne meine Stimme zu erheben. Mein NEIN wird so wirksam sein wie ein Grillenzirpen. Mein NEIN ist dieses Buch“ (7).

Gesundheitsrisiko (Vorbereitung auf ihre erste Afrikareise ab Kamerun, 1961)

Martha ist inzwischen über 50 Jahre alt und eine angesehene Journalistin. Durch den Verkauf einer Kurzgeschichte an das Fernsehen verdient sie 3.000 Dollar, die sie für eine Reise nach Afrika „verprassen“ will.

„Bislang hatte mich trotz wiederholter Vorschläge kein Redakteur für aufregende Beiträge dorthin geschickt — ich war kein Afrikaspezialist. Man musste erst Experte sein, aber wie wird man’s, wenn man nicht hinkommt?“ (8)

Sie lädt eine Reiseagentin zu sich ein, mit der sie sich im Atlas die Karte des riesigen, unbekannten Kontinents ansieht.

„Ich hielt es für eine gute Idee, Afrika von Westen nach Osten entlang des Äquators zu durchqueren. Duala in Kamerun war der nächste Ort, den ich in Äquatornähe entdecken konnte. Keiner von uns hatte je von ihm gehört, aber sie versprach, nachzuforschen und mir ein Ticket zu besorgen. Und das war dann auch schon die ganze Reiseplanung“ (8).

Ihr Hausarzt will sie von ihrem Vorhaben abhalten und bringt sie mit seiner aus Kriegserfahrungen in Nigeria resultierenden Sorge beinahe um:

„Ich bekam Spritzen gegen Typhus, die Pest, Cholera, Polio und Tetanus, ganz abgesehen von denen gegen Gelbfieber und Pocken. Ich kriegte Pillen gegen Ruhr, Durchfall und Malaria, dann Öle und Puder, um Wunden und Hautinfektionen heilen zu können. (…) Er riet mir, eine Ausrüstung gegen Schlangenbisse zu kaufen; ich weigerte mich und sagte ihm, dass ich ohnehin vor Angst sterben würde, wenn eine Schlange ihre Giftzähne in mich drückte. Und außerdem erwarte er ja mein baldiges Siechtum auch ohne Hilfe von Schlangen. Dank all dieser vorbeugenden Medikamente fühlte ich mich todkrank und unfähig, mich auf die Reise zu konzentrieren“ (8).

Die Reise, die sie mit ihrem herrlich bissigen Humor und vor allem nach heutigen Standards oft politisch unkorrekt beschreibt, wird zur „Höllenfahrt“. Am Ende verliebt sie sich in diesen Kontinent, vor allem in Kenia, und kehrt 13 Jahre lang immer wieder dorthin zurück.

Journalismus damals und heute

Martha Gellhorn bildet sich stets selbst eine Meinung. Sie ist vor Ort, auch wenn andere ihr davon abraten, und beschreibt ihren Eindruck und nicht irgendeine Meldung, die sie anderswo aufgeschnappt hat.

1990 reist sie im Alter von 82 Jahren nach Panama, um sich über die Ereignisse infolge der US-Militärintervention zu informieren. Die sich verändernden Prämissen, was die Qualität von gutem Journalismus anbelangt, interessieren sie dabei genauso wenig wie das, was andere dabei von ihr denken könnten. Auf die Frage, was die anderen amerikanischen Journalisten gesagt hätten, als sie in Panama ankam, ob sie verwundert gewesen seien, antwortet Gellhorn trocken: „There weren’t any“ (deutsch: Es waren keine da, (9)).


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.deutschlandfunk.de/ich-liebte-immer-nur-die-welt-der-maenner-100.html
(2) Caroline Moorehead, Nachwort, Der Blick von unten, Band 1, Edition Tiamat 2019, Seite 257
(3) Martha Gellhorn, Nachwort, Der Blick von unten, Band 1, Edition Tiamat 2019, Seite 260
(4) Martha Gellhorn, Reportage „Mein lieber Mr. Hopkins“, Der Blick von unten, Band 1, Edition Tiamat 2019, Seiten 26 bis 28
(5) Martha Gellhorn, Reportage „Eine wahre Schande“, Der Blick von unten, Band 1, Edition Tiamat 2019, Seiten 149 bis 150
(6) Martha Gellhorn, Reportage „Die Fünfzigerjahre“, Der Blick von unten, Band 1, Edition Tiamat 2019, Seiten 250 bis 252
(7) https://www.deutschlandfunk.de/mein-nein-ist-dieses-buch-100.html
(8) Martha Gellhorn, „Reisen mit mir und einem anderen — fünf Höllenfahrten“, Fischer 2018, Seiten 197 bis 199
(9) https://www.youtube.com/watch?v=pjyLA2jC_Aw&t=879s

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