Zum Inhalt:
Der ausgeschlossene Tod

Der ausgeschlossene Tod

Das Sterben gehört zum Leben und ist doch aus ihm verdrängt worden, was sich in der Corona-Krise deutlich zeigt. Exklusivabdruck aus „Lockdown 2020“.

„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten“ —Bertolt Brecht, „Me-ti. Buch der Wendungen“.

„Was ist der Makel der menschlichen Rationalität? Sie tut so, als sähe sie den Horror und Tod nicht, der am Ende der von ihr konstruierten Pläne steht“ — Don DeLillo, „Cosmopolis“.

Der Tod und die ökonomische Notwendigkeit. Will man all jene Argumente, die seit Monaten zur Verhängung des Lockdowns auf die Menschen einprasseln, auf ihre wesentlichen Aussagen reduzieren, so blieben diese beiden Begrifflichkeiten als letztgültige Begründungen über. Die Macht besagt: Wir verhindern, dass ihr an Corona sterbt. Wobei sie gleichzeitig sagt: Wir haben nicht die erforderlichen (letztendlich ökonomischen) Kapazitäten, um euch gesundheitlich zu versorgen.

Während in unserer westlichen Gesellschaft wirtschaftliche Sachzwänge beinahe täglich bei kleinen und großen politischen Debatten als Argument herhalten, stellte die Rede vom unmittelbar bevorstehenden Tod, den das Coronavirus verursachen könnte, für die meisten Menschen ein Schockmoment dar, das seine Wirkung auch nicht verfehlte.

Die verkündete Pandemie traf in weiten Teilen der Welt auf eine Gesellschaft, die in ihrem Alltag, ihrer Verfasstheit, ihren politischen Grundzügen und in der Ausrichtung von Arbeit und (gemeinschaftlichem) Leben den Tod aus dem kollektiven Bewusstsein verbannt — und das Sterben ausgelagert hat, in entfernte Länder oder in die Betten im Krankenhaus. Für den Umgang mit diesem und allen noch folgenden Krankheitserregern ist es daher in der Diskussion notwendig, den Toten des Virus die übrigen Toten eines wirtschaftlichen Systems an die Seite zu stellen, dessen VertreterInnen letztere als unumgängliche Notwendigkeit einkalkulieren und kaum einer weiteren Erwähnung für wert befinden, erstere hingegen seit Aufkommen der Krankheit als beständige Drohung verwenden, um mit ihnen zu disziplinieren und zu regieren.

Um einen aufkommenden Verdacht zu entkräften: In dieser Argumentation wird nicht aufgerechnet, sondern ein Gegensatz zu zeigen versucht, zwischen dem angeblich kurz bevorstehenden und dem immer bevorstehenden Sterben. „Der Tod ist der politischen Ökonomie immanent“ (1), sie will nur zumeist von ihm nichts wissen und hören. Und wenn doch, so dient er in der Sprache der Kapitalisten herrschenden, nicht humanitären Interessen. Eine Position einzunehmen, die den Tod sichtbar macht und näher an unser aller Leben heranführt, bedeutet, sich sowohl der verkündeten Bedrohung als auch dem alltäglichen Sterben in einer katastrophalen Ordnung zu widersetzen.

Beugen und Vorbeugen

„An dem vielleicht folgenreichsten Punkt in unserem Leben sind wir völlig passiv. Dies ist ein Grund, warum der Tod für moderne Gesellschaftsordnungen einen größeren Skandal darstellt als für vormoderne, da sie es eher gewohnt sind, Meister ihres eigenen Schicksals zu sein. Es gibt andere Gesellschaften, für die der Tod eine Machtlosigkeit besiegelt, die sich im Alltag manifestiert, und er daher etwas von der Wahrheit der täglichen Existenz anzeigt. Im Allgemeinen gibt es für die Armen mehr Kontinuität zwischen Leben und Tod als für die Wohlhabenden“ (2).

Für den französischen Theoretiker Jean Baudrillard, der im Aufdecken des Todes ein revolutionäres Moment erkannte, will die moderne kapitalistische Gesellschaft des „Spektakels“ und des „entpolitisierten und entideologisierten Rausches“ „unsterblich“ sein und für alle Zeiten teilhaben „am unendlichen Überschwang der Zweckmäßigkeit“ (3). Dazu gesellte sich eine Entwicklung in der Medizinwissenschaft, die beflügelt von den Erfolgen der Erforschung von krankheitsmachenden Bakterien im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darauf aus war, dem gewöhnlichen Tod den Garaus zu machen. Die Bezeichnung für diese Epoche könnte unter umgekehrten Vorzeichen auch in das Jahr 2020 passen: Als „epidemiologischer Übergang“ sind die damaligen Umwälzungen in der medizinischen Behandlung in die Geschichte eingegangen (4).

Gemeint ist damit eine Identifizierung einer Reihe von Erregern und einer Erfindung von Wirkstoffen gegen sie, die zu einer deutlichen Abnahme von tödlichen Krankheitsverläufen führte. Einher ging damit aber auch eine folgenschwere Entwicklung in den Wissenschaften: Nicht die Erforschung des krankheitsmachenden Umfelds stand fortan im Blickfeld der ÄrztInnen und ForscherInnen, sondern die Untersuchung des Keims unter dem Mikroskop. Und wenn in unseren Tagen Metaphern vom Krieg gegen das Virus so leicht aus den Mündern der Politiker fallen, so sprach Robert Koch bereits 1892 vom „glorreichen Vernichtungskrieg gegen das gesamte Microgesindel“. Gewinnen wollten er und seine Nachfolger diesen Waffengang mit einer immer stärkeren Medikation.

Der Tod durch Krankheit sollte sich, ebenso wie im Jahr 2020, durch den technologischen Fortschritt lösen. Dazu schrieb der Kulturtheoretiker Ivan Illich 1975:

„Unsere neue Vorstellung vom Tod verträgt sich auch mit dem industriellen Ethos. Ein guter Tod ist nun einzig der Tod des Normalverbrauchers an medizinischer Fürsorge. (…) Genau wie der Zwangskonsum von Erziehung den Menschen schließlich die Sorge um Arbeit abnahm, so hilft der Konsum von Medizin ihnen, ungesunde Arbeitsbedingungen, verschmutzte Städte und nervenaufreibenden Verkehr zu ertragen. Wozu sorgt man sich um eine mörderische Umwelt, wenn doch die Ärzte industriell gerüstet sind, um als Lebensretter aufzutreten?“ (5).

Das Leben ist aber, wie schon John Maynard Keynes wusste, ebenso wenig auf lange Sicht zu retten, wie auch eine kurzsichtige Lebensrettung keine Abhilfe schafft für das vielfach vorzeitige Sterben auf unserem Planeten. Nicht nur die wirtschaftlichen Krisen, wie jene größte seit dem Zweiten Weltkrieg, die durch den Lockdown in Gang gebracht wurde, sind „Fragen von Leben und Tod“. Es ist diesem ökonomischen System eingeschrieben, „die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen, disponiblen Arbeiterbevölkerung“ (6) aufrechtzuerhalten, die an den Folgen dieser Lebensbedingungen zugrunde geht.

Die staatlichen Maßnahmen in der Corona-Zeit zeigen den immensen Widerspruch in der Bewertung von Gefahren für Leib und Leben auf, und offenbaren ein rein funktionales Interesse am Tod. So können im selben Land, China, Menschen wochenlang in ihren ohnehin elendigen Quartieren eingesperrt werden, um ihre Körper von Infektionen freizuhalten, während selbige Körper in den chinesischen iphone-Fabriken von Foxconn lediglich mit Fangnetzen geschützt werden, sollten sich ihre Träger anlässlich der unwürdigen Arbeit vom Dach stürzen. Die tote Arbeit beherrscht die lebende als Kapital, und dass es die lebendigen ArbeiterInnen einsperrt, ist nur eine Fortsetzung dieser Herrschaft, die vorgibt, dem Tod auszuweichen, während sie ihn in das Geschäft einrechnet.

Zurück zur Ersten Welt, in der zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes noch immer, vorgeblich zum Schutz des Lebens, ganze Bevölkerungen von der Teilnahme an vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen sind.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben kritisiert an diesem Zustand, dass die „gesamte Existenz zu einer Gesundheitspflicht“ verkommen sei.

„(Z)umindest einstweilen haben sich die Leute damit abgefunden, als sei es selbstverständlich, auf Bewegungsfreiheit, Arbeit, Freundschaften, geliebte Menschen, soziale Beziehungen, religiöse und politische Überzeugungen zu verzichten“ (7).

Er irrt sich aber in seiner Einschätzung, dass es Ärzten nicht in den Sinn gekommen wäre, auch andere gesundheitliche Empfehlungen als Rechtsnorm zu empfehlen — angesichts der häufigsten Todesursache in Italien, der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wäre dies eine gesetzlich verankerte „gesündere Lebensweise“.

Weil in der westlichen Hemisphäre die meisten Menschen eben nicht an Infektionen sterben, sondern an multikausalen Krankheiten, wurde die individuelle Vorbeugung vor dem Tod ebenso zur Norm erhoben wie die individuellen Verhaltensregeln vor dem möglichen Corona-Tod. „Wenn Mediziner ‚multikausal‘ sagen, meinen sie in der Regel: ‚Keine Ahnung!‘“ (8).

Woran man stirbt, ist aber bei weitem nicht so aufschlussreich, wie wann und wie man bis dahin gelebt hat. Der vor und in Corona-Zeiten von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtete Sektor der Public-Health-Forschung hat auf dem Feld der Lebenserwartung, der Sterberisiken und der allgemeinen gesundheitlichen Verfassung der Bevölkerung wesentliche Erkenntnisse zutage gefördert, die der technokratischen Medizin abgehen. Selten schaffen es so prominente Beispiele in die Medien wie eine Studie aus dem Jahr 2003, die festhielt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland im Vergleich zur Sowjetunion in den 1980er-Jahren zum damaligen Zeitpunkt um 8 Jahre gesunken war. Die Einführung des Kapitalismus führte zum frühzeitigen Tod, durch Armut, sozialen Stress und weggebrochener Gesundheitsversorgung.

Aber es gibt noch lebensnahere Aussagen für Menschen in der westlichen Welt, so etwa jene, dass zwischen dem ärmsten und dem reichsten Viertel Londons 17 Jahre Unterschied an Lebenserwartung zu verzeichnen sind oder dass nicht nur Einkommen und materieller Status, sondern auch Rangunterschiede in einem Unternehmen die Gesundheit massiv mitbestimmen.

Das Tabu des Todes

Der Schweizer Soziologe und ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler erinnert in Interviews regelmäßig an Todeszahlen, die es in keinen Liveticker der Online-Medien je schaffen werden. Eine seiner Aussagen lautet: „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind auf diesem Planeten.“ Dies nennt er ein „fürchterliches Massaker“. Und er meint:

„Der Hunger tötet weltweit ungefähr 100.000 Menschen täglich. Kaum jemand spricht über diesen Völkermord, von Abhilfe ganz zu schweigen“ (9).

Zeit seines Lebens hat sich Ziegler mit dem Tod in der kapitalistischen Gesellschaft auseinandergesetzt, den er ebenso wie Baudrillard als zentrales Thema begreift, um eine Theorie der Befreiung zu markieren. Im Jahr 1975 veröffentlichte er seine Schrift „Die Lebenden und der Tod“, worin er davon schreibt, „die kapitalistische Herrschaftsklasse“ beschränke sich nicht darauf, „den Menschen seiner Agonie, seiner Trauer und seines klaren Bewusstseins von seiner Endlichkeit zu berauben; sie begnügt sich nicht damit, den Tod aus dem kollektiven Bewusstsein zu verdrängen und ihn mit einem Tabu zu belegen, den Sterbenden einen sozialen Status zu verweigern, das Alter zu pathologisieren und die Ahnen zu verleugnen; sie stellt die Existenz des Todes selbst in Abrede“ (10).

Die herrschende Ideologie, die bekanntlich immer die Ideologie der Herrschenden ist, will keine Endlichkeit kennen für ihre Gesellschaft des Spektakels oder des Rausches (11). Im Angesicht des Todes würde sie nur allzu lächerlich erscheinen — nur manche erkennen das:

„Die Asche, die die Gläubigen am Aschermittwoch auf der Stirn tragen, ist ein satirischer Kommentar an diejenigen, die sich so verhalten, als würden sie ewig leben: Prominente, Millionäre, korrupte Präsidenten und dergleichen“ (12).

Dennoch weiß die Herrschaft den Tod ins Spiel zu bringen, wenn er sich entweder fürs Geschäft lohnt (der und der Filmstar ist von uns gegangen, seine Filme erscheinen demnächst auf Blu-ray, nebst einer Dokumentation über Lady Diana) oder wenn er, zumeist als höherwertiger westlicher Todesfall, den politischen Agenden dienlich ist (als Tod in den Twin Towers, als Attentat, als Opfer der jetzigen Pandemie). Als man sich entschied, die Menschen im Zuge der Virusbekämpfung einige ihrer wichtigsten Grundrechte zu nehmen, wurde der ansonsten verschmähte und verschwiegene Tod ein gern gesehener Gast auf Pressekonferenzen.

Trotzdem darf er nicht Teil unseres Lebens sein. Marx hat nicht viele Worte auf den Tod und seine (Nicht-)Bedeutung für das Kapital verwendet, aber in einer seiner frühesten Schriften jene berühmte Theorie zur „entfremdeten Arbeit“ entworfen, die für ihn den Menschen von seinem Gattungswesen trennt, und mithin auch von seiner Umwelt.

„Sie entfremdet den Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen“ (13).

Die Macht trennt den Menschen von seinem Körper, so erkennt es auch Baudrillard, und sie kann das auch deshalb tun, weil sie das Leben vom Tod scheidet. Menschlich zu sein bedeutet hingegen sterblich zu sein und im Angesicht seiner Sterblichkeit zu leben, eröffnet die Möglichkeit, sich dem „Rausch an der rationellen Verwaltung der Dinge“ zu entziehen.

An diesen Punkt knüpft Jean Ziegler an und gibt ihm einen praktischen, ökonomischen Untergrund:

„Das Tabu, mit dem die kapitalistische Warengesellschaft den Tod belegt, ist nur ein Aspekt einer viel weitergehenden Verschleierungsstrategie: einer kulturellen Strategie, die die herrschende Klasse anwendet, um das System der Ungleichheit, das sie privilegiert, zu erhalten, zu verdecken und zu verhärten“ (14).

All jene schnell verfügten autoritären Einschränkungen des Staates zur scheinbaren Abwehr des Corona-Todes dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine Maßnahmen geben kann, die diese Ordnung jemals gegen einen Großteil des vermeidbaren verfrühten Todes einführt, denn das Sterben an der Ungleichheit ist für seinen Fortbestand so unabdingbar wie dessen Verschweigen.

Tod und Revolte

Als sich die Medienvertreter in Deutschland auf die Intensivstationen zu stürzen begannen, drückte einer der dortigen Mediziner seine Verwunderung über das Interesse mit den Worten aus:

„Intensivstationen sind nie leer. Da kämpfen Ärzte und Pflegerinnen um das Leben von Menschen. Immer“ (15).

Wir bemerken davon meistens nichts, weil die Sterbenden dem Krankenhaus übergeben werden, aus nachvollziehbaren (medizinischen) Gründen, aber man möge hierbei auf einer theoretischen Ebene Baudrillard folgen, dass dadurch Krankheit und Tod „neutralisiert“ werden.

Wenn wir dennoch von den obersten Staatsvertretern in Deutschland und Österreich mit dem Tod in Gestalt des Virus bedroht werden, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit zu einer weitaus tödlicheren Krankheit und der darauf folgenden Reaktion in unseren Breitengraden. Die im Gefolge der Corona-Berichterstattung oft beschworene Spanische Grippe, an der Millionen weltweit verstarben, traf 1918/19 auf eine Welt des Aufruhrs und der revolutionären Umwälzung. Wie der Berliner Journalist Peter Nowak berichtet (16), standen damals Massenaktionen in diversen europäischen Ländern auf der Tagesordnung, kurzlebige Räterepubliken verkündeten den Beginn einer neuen Ordnung — es war weder der Ort noch die Zeit für Social Distancing.

Obwohl die Bolschewiki um die überaus tödlichen Auswirkungen der Pandemie wussten, sucht man in den Aufzeichnungen der Revolutionäre vergeblich nach einer vergleichbaren Auseinandersetzung damit. Sogar einer der wichtigsten Anführer der Oktoberrevolution in Petrograd und Mitbegründer der Verfassung des ersten sozialistischen Staats der Welt, Jakow Swerdlow, starb im März 1919 an der Spanischen Grippe. In Lenins Schriften findet sich dennoch diese Krankheit einzig an einer Stelle, als Metapher für die erwachende Arbeiterklasse im Europa des Jahres 1918 (17).

Am Rande bemerkt: Als die russische Revolution den Sieg davontrug, wurde ein beispielloses allgemeines Gesundheitssystem in der Sowjetunion geschaffen.

Im Jahr 2020 ereignete sich nun eine — vergleichsweise mildere — Pandemie in einer politisch völlig anders verfassten Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der sich, wie Nowak ausführt, „mehr Menschen ein Ende der Menschen als ein Ende des Kapitalismus vorstellen“ können. Und in einer, in der der Ausnahmezustand des Staates, anders als vor 100 Jahren, nicht als Angriff auf die eigenen Bedürfnisse gewertet wird, weil die eigenen Bedürfnisse und jene der herrschenden Ordnung häufig nicht mehr als Gegensatz erscheinen. Es ist zu befürchten, sollte es mit der Sorge um die (unmittelbare) Endlichkeit vorbei seien, wird die alternativlose Unendlichkeit des Kapitalismus auf breiter Basis fortbestehen.

Den Tod einbeziehen

„Man müßte uns (…) mit einem zum Tode Verurteilten vergleichen, der sich tapfer auf die Hinrichtung vorbereitet, alle Sorgfalt darauf verwendet, auf dem Schafott eine gute Figur zu machen, und unterdessen von einer Grippeepidemie dahingerafft wird. Das hat die christliche Weisheit begriffen, die empfiehlt, sich auf den Tod vorzubereiten, als ob er jederzeit eintreten könnte. (…) Leider sind das Ratschläge, die leichter zu erteilen als zu befolgen sind“ (18).

Es ist tatsächlich ein hoher Anspruch, jeden Tag so zu leben, als wäre er der letzte — wenn diese Vorstellung damit verbunden wird, sein Leben in christlicher Interpretation als Selbsthingabe zu wählen oder in den Worten des hingerichteten Münchner Räterevolutionärs von 1919, Eugen Leviné, sich als „Toter auf Urlaub“ der Vorbereitung des Aufstands zu widmen. Jedoch bietet eine Einsicht in diese Lebensweise einen vernünftigen Ausweg aus der Gesellschaft des Spektakels.

Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück, so ist die kapitalistische Herrschaft keine, die den Tod zu verhindern sucht und ihre Angstmache und verfügten Maßnahmen, wie immer man ihre Hintergründe interpretieren mag, kein Weg, den die ihr unterworfenen Staatsbürger mit ihr gehen sollten. Es ist noch immer gültig, was Jean Ziegler in den 1970er-Jahren angesichts eines mörderischen Systems formulierte: Einer der Schritte zur Befreiung von der Zweckmäßigkeit der Industriegesellschaft besteht auch darin, den Tod zurückzuerobern und in unser Leben einzubeziehen. Dann kann er auch keine Drohung mehr sein, mit der man uns gefügig macht.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin, 2011, Seite 342.
(2) Terry Eagleton, Opfer; Wien, 2020, Seite 58.
(3) Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod; Berlin, 2011, Seite 342.
(4) Vergleiche hierzu und zu einigen der folgenden Ausführungen: Matthias Becker, Mythos Vorbeugung; Wien, 2014.
(5) Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin; Reinbek bei Hamburg, 1987, Seite 228
(6) Karl Marx, Das Kapital. Erster Band; Berlin, 1962, Seite 512.
(7) https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-die-medizin-wird-kultisch-ld.1556175?reduced=true
(8) Matthias Becker, Mythos Vorbeugung; Wien, 2014, Seite 68.
(9) https://www.swr.de/swr1/bw/swr1leute/av-o1134120-100.html
(10) Jean Ziegler, Die Lebenden und der Tod, Salzburg, 2011, Seite 28.
(11) Wir lassen hier den Einwand (unter anderem von Jean-Paul Sartre) beiseite, der Tod wäre von der Endlichkeit zu unterschieden.
(12) Terry Eagleton, Opfer, Wien, 2020, Seite 87.
(13) Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Ergänzungsband: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1884, Berlin, 1967, Seite 517.
(14) Ziegler, Die Lebenden und der Tod; Seite 28.
(15) Aus einem Interview mit einem Assistenzarzt für Pneumologie und Infektiologie, Der Freitag, Ausgabe 14/20.
(16) https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/statt-social-distancing-gab-es-revolution, siehe auch seinen Beitrag in diesem Buch.
(17) „ … mit jedem Schritt wird diese Kraft immer stärker in Erscheinung treten und schrecklicher selbst als die spanische Grippe werden.“, Rede am 22. Oktober 1918.
(18) Jean-Paul Sartre, Gesammelte Werke. Philosophische Schriften I. Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg, 1994, Seite 917 bis 918.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.