Grundrechte unterm Hammer
Unter dem Label Corona zückte die herrschende Klasse ihre Krallen. Ihre politischen Dienstleister verboten Demonstrationen, erließen Ausgangs- und Kontaktverbote, verfolgten Menschen, die sich unerlaubt mit Freunden trafen oder bloß auf Parkbänke setzten, durchsuchten Räume von Ärzten, die Kinder von Masken befreiten, und von Richtern, die unerwünschte Urteile fällten. So mancher kommt aus dem Staunen bis heute nicht heraus, mit welcher Vehemenz und Rücksichtslosigkeit die Politik die Grundrechte niedersäbelte.
Doch tatsächlich begann alles viel früher. Oder besser gesagt: Die Entrechtung einiger Bevölkerungsteile war immer Teil des Systems. Letzteres bemisst die Menschenwürde, wie sie in Artikel 1 des Grundgesetzes formuliert ist, nach dem Geldbeutel. Die am wenigsten haben, sind am meisten gezwungen, sich denen zu unterwerfen, die mehr haben und auf entsprechenden Posten sitzen.
Niemand kristallisierte das in der vergangenen Dekade besser heraus, als der Menschenrechtsaktivist und Hartz-IV-Gegner Ralph Boes. Seine Odyssee durch den Dschungel der Entrechtung von Erwerbslosen war gepflastert von 16 Sanktionen, die für jeweils drei Monate verhängt wurden. Zwölf mal hatte das Jobcenter ihm die Bezüge zu 100 Prozent gestrichen. Die Gründe: Er hatte sich nicht an Auflagen gehalten, sich beispielsweise nicht auf „angebotene“ Stellen beworben.
Das bedeutet: Drei Jahre war er durch die Sanktionen komplett ohne Mittel für Nahrung, Miete und Krankenversicherung.
Boes ließ sich absichtlich sanktionieren, um die Hartz-IV-Repressionen zu kippen. Er hatte Glück und seinen Verein im Rücken. Doch ohne seine Aktionen, vom wochenlangen öffentlichen Sanktionshungern über Kunstaktionen und unzählige Prozesse vor Sozialgerichten bis hin zur Zusammenarbeit mit Juristen dürften Jobcenter wohl heute noch Monat für Monat Tausende Menschen auf null sanktionieren.
Nach dem entscheidenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BverfG), das Ende 2019 alle Strafkürzungen von mehr als 30 Prozent kippte, geht sein Kampf weiter. Seine jüngste Station war, zum wiederholten Mal, das Sozialgericht Berlin. Nach zehn Jahren (!) kippte es seine erste 30-Prozent-Sanktion, die Basis für die folgende 60-Prozent-Sanktion und zehn weitere Totalsanktionen. „Natürlich werde ich weitermachen“, sagte der 65-Jährige im Gespräch mit der Autorin. Es geht ihm „um die Sache“, um „Grundrechte für alle“. Und die seien mit Corona und dem Ukraine-Konflikt um so mehr in Gefahr.
Bei den Ärmsten fingen sie an
Man könnte sagen: In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben die Herrschenden und ihre politischen PR-Sprecher die Messlatte für den Erwerb von Grundrechten höher gehängt. Während die Armen schon immer parieren mussten und seit 2005 zu jedem Hungerlohnjob unter Androhung der Existenzvernichtung gezwungen werden konnten, unterwerfen sie heute auch die sogenannte Mittelschicht dem Diktat des absoluten Gehorsams.
Kurz gesagt: Wer sich nicht gentherapieren lässt oder keine Maske tragen kann, wer also nicht mitmacht, fliegt oder bleibt draußen. Wer zu aufmüpfig ist, verliert den Arbeitsplatz und sein Einkommen und wird im schlimmsten Fall zusätzlich mit Bußgeldern oder Strafverfahren verfolgt. Das trifft auch schon mal Mediziner, Anwälte und Beamte.
Boes kennt sich inzwischen bestens aus in Sachen Justiz. „An die Zahl der Gerichtsverhandlungen kann ich mich nicht erinnern, ich weiß nur: Es waren viele, sehr viele“, sagt er. Die Zahl der verlorenen Prozesse übersteigt die der gewonnenen. Seine Odyssee durch die bundesdeutsche Sozialgerichtsbarkeit zeigt erstaunliche Parallelen zur heutigen Situation in der Causa Corona. Boes bringt es wie folgt auf den Punkt:
„Ich hatte ein verfassungsrechtliches Problem, weil sie ja meine Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl in die Tonne getreten haben. Aber ich musste mich im Sozialrecht durchkämpfen, und die Richter hatten durchweg keine Ahnung vom Verfassungsrecht — und sie bemühten sich in der Regel auch nicht darum.“
In den Sozialgerichten erlebte er vor allem eins: Dienst nach Vorschrift, abnicken der Gesetze, die doch Monat für Monat Tausende Menschenleben gefährdeten. Nur ein Richter am Sozialgericht Gotha hinterfragte einmal 2015 seine Argumentation in einem anderen Fall:
Da Hartz IV als das absolute Existenzminimum in Deutschland gilt, kann eine Strafkürzung desselben nicht verfassungsgemäß sein. Selbst jeder Mörder bekommt in Deutschland Obdach und Unterkunft.
Viereinhalb Jahre und wohl Abertausende zerstörte Menschenleben später, im November 2019, bemüßigten sich die Karlsruher Richter endlich, ein Urteil zu fällen — immerhin ein Teilerfolg, denn Boes findet, es hätte die Sanktionen komplett kippen müssen. „Auch wenn das Existenzminimum nur für drei Monate um 30 Prozent gekürzt werden kann, ist es kein Existenzminimum, dann gibt es so etwas in Deutschland nicht.“
Die Entrechtung von Hartz-IV-Beziehern geht noch weiter. Nicht nur, dass Betroffene jede vom Amt auferlegte Arbeit oder Maßnahme annehmen müssen: Wenn sie finanziell bestraft werden und dagegen Rechtsmittel einlegen, haben diese keine aufschiebende Wirkung wie sonst üblich. Das heißt, wenn ein Jobcenter-Mitarbeiter eine Sanktion ausspricht, wird sie sofort verhängt, auch wenn sie sich später als rechtswidrig herausstellen sollte. Die Behörden fungieren zugleich als Strafermittler und Strafvollzieher.
Es kann fast jeden treffen
Die seit mehr als 17 Jahren vollzogene Praxis hat die meisten Nichtbetroffenen kaum interessiert. Es gab viele Ausreden, etwa: Die können doch arbeiten gehen. Kürzten die Ausländerbehörden Asylsuchenden wegen angeblichen Ungehorsams die noch mickrigeren Bezüge, hieß es dann schon mal: Die können doch in ihr Heimatland zurückkehren. Was oft nicht bedacht wird: Es kann letzten Endes fast jeden treffen.
Mit Hartz IV, das unter Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ganz offen deshalb eingeführt wurde, um den Niedriglohnsektor ausweiten zu können, statuierte die bundesdeutsche Politik ein Exempel an den Armen. Bevölkerungsgruppen ohne Lobby, gegen die es sich leicht aufhetzen lässt, taugen dafür am besten. Und langsam, ganz langsam wird der sinnbildliche Topf weiter erhitzt, bis alle Frösche kochen.
Die Rechtfertigungen für die Grundrechtseinschnitte haben sich heute nur erweitert. Vor Corona galten vor allem Erwerbslose und Asylsuchende als „unsolidarisch“, da sie „der Allgemeinheit auf der Tasche“ lägen. Nun kamen just Ungeimpfte, Maßnahmenkritiker, Maskenverweigerer, Demonstranten und überhaupt alle hinzu, die sich öffentlich über die autoritäre Entrechtungspolitik beschweren, die eben nicht parieren.
Wird die Politik demnächst auch ihnen allen die gesamte Existenzgrundlage entziehen, wie sie es bereits jahrelang mit Hartz-IV-Beziehern und Asylbewerbern tat? Die Anfänge mit Kontensperrungen, Entlassungen und strafrechtlicher Verfolgung sind längst gemacht. Man kann einen Menschen eben nicht nur mit Waffen töten, sondern auch mit dem Entzug des zum Leben Notwendigen. Wie weit wird die deutsche Regierung hier gehen? Es ist einiges zu befürchten.
Herrschaftsmittel Erpressung
Deutlich wird: Das kapitalistische Regime arbeitet immer mit Erpressung. Wer nicht genug hat, um etwa wegfallenden Lohn zu kompensieren, ist eben nicht mehr frei, zu sagen, was er denkt, wenn er in der Konsequenz mit Entlassung und Verfolgung rechnen muss. Die meisten sind existenziell erpressbar.
Selbst wenn jemand das Risiko eingeht, am Ende in Hartz IV zu landen: Was ist, wenn sie ein Gesetz erlassen, wonach keine Sozialleistungen mehr bekommt, wer nicht geimpft ist oder das Falsche laut denkt?
Schon jetzt gibt es eine Gruppe, die wie rechtlose Sklaven dasteht: verarmte EU-Bürger, die nach Deutschland kommen, um hier irgendwie den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Denn diese haben, seit einem 2016 unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) eilig zusammengeschusterten „EU-Bürger-Ausschlussgesetz“, in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts keinerlei Anspruch auf Sozialleistungen, welcher Art auch immer.
Die Leute sind also gezwungen, sich zu jedweden miserablen Arbeitsbedingungen zu verdingen. Ein Beispiel: In meiner Wohngegend lässt die Telekom Glasfaserkabel von einer Berliner Firma verlegen. Ein Trupp von Arbeitern zieht deshalb durch die Straßen, der durchweg aus EU-Migranten besteht. Sie entfernen Platten der Fußwege, graben sie auf, verlegen Kabel und schließen alles wieder: eine harte Arbeit.
Ich sehe sie morgens um sieben schon schuften, abends halb sieben immer noch, und das von montags bis sonnabends. Sechs Zwölfstundentage pro Woche, also 72 Wochenstunden, sind eindeutig rechtswidrig, auch unter Auslastung sämtlicher Sonderregeln im deutschen Arbeitsrecht. Ich sprach sie kürzlich an, kaum einer von ihnen verstand etwas Deutsch. Trotzdem fand ich heraus: Sie schuften für Mindestlohn, einiges davon geht wieder weg, für Unterkunft und Logis. Beschwert sich jemand, kann er gehen und zusehen, wie er ohne Geld klarkommt.
Dies und die Hartz-IV-Entrechtungspolitik hat Auswirkungen auf die gesamte Lohnarbeitswelt. Wo Menschen erpresst werden können, unter miesesten Bedingungen zu geringen Einkommen zu schuften, gibt es keinen Anreiz, Löhne zu erhöhen. Denn auch zwölf Euro pro Stunde sind besser, als das klägliche Hartz IV, das einem sogar noch weggekürzt werden kann. Und sie sind schon ganz und gar besser als nichts.
Selbst der Universitätsprofessor, der wegen falscher Meinung von der Uni geworfen wird und keine entsprechende Stelle mehr findet, dem die Bank vielleicht zudem das Konto sperrt, könnte eines Tages vor der Frage stehen, ob er sich lieber als Hilfsarbeiter für Hungerlohn die Knochen kaputt arbeiten oder lieber hungernd unter der Brücke betteln „will“.
Armutsboom mit Corona, Krieg und Inflation
Derweil boomt nicht nur in Afrika, Asien und Lateinamerika die Armut, sondern auch in Deutschland. Fast 14 Millionen Menschen, knapp 17 Prozent der Einwohner, lebten hier 2021 nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unterhalb der Armutsgrenze. Die Zahl wird wohl in den kommenden Monaten und Jahren noch schneller in die Höhe schießen. Die Politik begründet das lapidar mit Corona, Krieg und Inflation.
Doch es ist die Politik selbst, die den Anstieg der Armut in ihrer Funktion als Manager des kapitalistischen Systems im Sinne des Großkapitals forciert. Denn die Kapazität, genug für alle zu produzieren, ist seit langem gegeben. Es scheitert am Profitzwang der Konzerneigner und damit an der Verteilung von Arbeit und produzierten Waren, mit denen sie lieber die Müllpressen füllen, als sie denen zu geben, die sie brauchen. Die Planwirtschaft des Kapitals sieht es eben so vor, dass die Eigner nur in ihre eigenen Taschen planen. Sie können gar nicht anders, wollen sie bestehen.
Ralph Boes wurde oft belächelt. Viele Leitmedien machten ihn nieder, so wie sie heute die Maßnahmenkritiker und Ungeimpften fertigmachen. Die Zahl der Menschen, die gegen ihre eigenen Interessen in diesen Chor der Propagandisten mit einstimmen, ist vielleicht etwas kleiner geworden, zumal etliche Betroffene diesmal nicht zu den ganz Armen zählen. Aber sie sind noch da. Sie rufen weiter nach Gehorsam, nach Unterwerfung, nach Sende-, Sprech- und Denkverboten, nach staatlichen Repressionen — unter dem Jubel von ARD, ZDF, Spiegel, FAZ und Co.
Boes macht trotzdem weiter, es bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig. Es sind weitere Klagen anhängig, sagt er. Und auch Aktionen werde es geben, mit erweitertem Fokus über Hartz IV hinaus. Denn Grundrechte sind für alle da, betont er. Das stellte er auch auf seinem Trip nach Karlsruhe klar, zu Fuß von Berlin, wie diese Dokumentation von Eingeschenkt TV zeigt.
Dort, vor dem höchsten Gericht der Bundesrepublik, trugen Boes und seine Mitstreiter symbolisch das Grundgesetz zu Grabe. Dinieren wollten die Richter nicht mit ihnen, aber sie nahmen den Stein tatsächlich an — möglicherweise kein gutes Zeichen und ein Aufruf an uns alle: Wehret den schon sichtbaren Anfängen. Und: Seid endlich „Boese“ statt gehorsam!
Marsch zum Bundesverfassungsgericht