Der NATO-Partner Türkei muß als notorischer Unterstützer radikaler Kampfgruppen in Syrien gelten, von turkmenischen Milizen angefangen bis hin zum IS. – Eine schwere Verletzung des Völkerrechts, wie es eben bei der NATO so üblich scheint. »"Vorsicht!", drohte Recep Tayyip Erdoğan französischen Journalisten auf der Pressekonferenz anlässlich seines Staatsbesuchs in Paris. Ein Reporter des Senders France 2 hatte es gewagt, den türkischen Präsidenten nach Waffenlieferungen seines Geheimdienstes an Dschihadisten in Syrien zu fragen. "Was für Waffen, wovon redest du?", antwortete Erdoğan. "Du redest wie ein Anhänger der Gülen-Bewegung, die das alles inszeniert hat, du solltest solche Fragen nicht stellen, die Leute sitzen deshalb in Haft." Die Drohung mit einer Inhaftierung entspricht der aktuellen Behördenpraxis in der Türkei: Solche Fragen werden als Beihilfe zum Terrorismus eingestuft« (Detlef zum Winkel; Von dubiosen Geschäften mit Islamisten und der Rolle Erdoğans und Putins.) Ein Beispiel von der geduldigen Dehnbarkeit des Terrorismusbegriffs im Sinne politischer Propaganda. Nicht Waffenlieferungen an Dschihadisten, sondern die verbotene Frage danach wäre Beihilfe zum Terrorismus! In solch einer verkehrten Welt der »alternativen Fakten«, mit einem Orwellschen Hautgout von »Doppeldenk« (in Ost und West übrigens) müssen wir im fortwährenden Propagandakrieg leben.
Um bei nachweislichen Fakten zu bleiben: Das türkisch-syrische Grenzgebiet zwischen den Kurdenregionen in Nordsyrien war seit 2011 praktisch eine offene und unbewachte Grenze, wo IS-Kämpfer und andere radikale Dschihadisten nach Belieben nicht nur problemlos die Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien passieren konnten, sondern in der Türkei auch ausgebildet wurden. Der junge, ehemalige IS-Kämpfer Eyub Mihemed Mirbati aus dem Königreich Bahrain, der in kurdische Gefangenschaft geriet, und jüngst der türkischen Nachrichtenagentur ANHA ein Interview gab, hatte Aufregendes über seine aktive Zeit beim IS zu berichten: »Unser Grenzübertritt war so, als wenn man von einem Zimmer ins andere geht. Es gibt in der Türkei ein großes IS-Netzwerk und sie alle arbeiten, um den IS zu unterstützen. Es gab hier keine türkischen Soldaten oder Sicherheitskräfte. Alle Materialien kamen aus der Türkei. Wir bauten Raketen, Mörser und Patronenvorrichtungen, aus der Türkei erhielten wir Spezialläufe. Materialen wie Pulver und TNT wurde uns aufgrund einer Vereinbarung mit der Türkei zur Verfügung gestellt. Es gab ein Abkommen zum Ölverkauf zwischen dem IS und der Türkei.« Diese Erklärungen wurden von den Aussagen anderer IS-Kämpfer bestätigt, die sich nach und nach dem Widerstand der Kurden ergeben hatten und in Gefangenschaft geraten waren.
In der Türkei waren die jugendlichen Kämpfer im Jahr 2015 von dem turkmenischen IS-Emir Ebû Elî Tirkistanî angeworben worden: »Geht in den Islamischen Staat. Dort ist Wohnen, Bildung und Nahrung kostenlos. Im Islamischen Staat ist alles viel besser als hier. Alle Frauen sind verschleiert. Wenn ihr den islamischen Glauben leben wollt, dann geht dorthin, denn dort ist der wahrhaftigste Islam.« Wahrhaftig! Meistens lebten diese jungen Menschen in ärmlichen Verhältnissen und waren umso leichter für das islamische Kalifat zu begeistern. Eine von dem ehemaligen IS-Kämpfer Musheb Ebdilfetah Mihemed aus dem Sudan überlieferte Anekdote streicht dagegen die Rolle der Türkei als »Herr des Wassers« am Euphrat heraus, dessen lebensspendende Wasser kontrolliert werden durch ein ausgeklügeltes System türkischer Staudämme. »Meine Aufgabe waren Wasser und Strom. Als der IS die Kontrolle über die Euphrat-Staudämme errungen hatte, war der Wasserstand sehr niedrig. Dann unterschrieb der IS ein Abkommen mit der Türkei und der Wasserstand im Euphrat wurde erhöht. Das war für den IS sehr nützlich, denn aufgrund dieses Abkommens konnte der IS die Wasser- und Stromprobleme in der Region lösen.« Diese Staudammpolitik verschafft der Türkei die Kontrolle über die regionalen Wasserressourcen im Euphrat- und Tigrisbecken, wodurch Erdogan die syrische Regierung mit einer willkürlichen Regulierung der Wasserzufuhr unter Druck zu setzen versteht. Das schon seit Jahren! »Mittlerweile gibt es so viele Indizien, die auf eine Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem IS sowie zur al-Nusra hinweisen, dass man auch nicht mehr von Unwissenheit oder Gutgläubigkeit unserer Politiker sprechen kann, wenn sie behaupten, die Türkei kämpfe gegen den IS« (Elke Dangeleit. Deutsche Schützenhilfe für Krieg gegen Kurden?)
Ein gescheiterter Putschversuch als Trampolin zur Machtergreifung
Weder im Nordirak noch in Syrien kämpfte die Türkei, deren Truppenpräsenz als »Terrorbekämpfung« offiziell legitimiert wird, gegen den IS – sondern gegen Kurden. Nach einem gescheiterten Putschversuch in der Nacht vom 15. Juli 2016 (der auch seitens des türkischen Geheimdienstes manipuliert gewesen sein könnte), trieb die einstmals säkular ausgerichtete Türkei unter dem Präsidenten-Sultan Recep Tayyip Erdogan einer fortschreitenden Islamisierung im Zeichen des ehemaligen Osmanischen Reichs entgegen.
Für den gescheiterten Staatsstreich wurde offziell die Bewegung von Erdogans einstigem Mitstreiter, des in den USA im Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen verantwortlich gemacht. Nach Einschätzung des Europäischen Geheimdienstes EUINTCEN wäre die »Mega-Säuberungswelle« durch repressive Massenverhaftungen, die Erdogan mit den Ereignissen vom 15. Juli begründete, nicht sosehr die Konsequenz, sondern vielmehr der Auslöser des Putschversuchs gewesen. »Demnach habe der türkische Geheimdienst MIT für August 2016 eine groß angelegte Säuberungswelle geplant, erste Verhaftungen seien bereits für den 16. Juli geplant worden. Der Putsch war wohl nichts anderes als eine Panikreaktion von Offizieren, die ihrer Verhaftung zuvorkommen wollten« (Die Presse.)
Schon am 15. Juli (2016) war es zu gewaltsamen Ausschreitungen, Mißhandlungen und Lynchjustiz gegen die Putsch-Teilnehmer seitens von Erdogan-Anhängern gekommen. Die Ausschaltung von Gegnern und Kritikern der Regierung Erdogan wäre also von langer Hand geplant gewesen, und mit dem ominösen Putschversuch hatte Erdogan eine erstklassische Entschuldigung an der Hand. Und mit dem Argument, die USA hätten den Putschversuch mit dem Prediger Fethullah Gülen angezettelt, schien sich der türkische Präsident Erdogan allmählich Russland anzunähern.
Vorübergehend nahm Erdogan sogar eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Assad-Regierung in Syrien ein. Zugleich blockierte die »syrische« Opposition in Saudi-Arabien regelmäßig die UN-Friedensverhandlungen in Genf, indem man starrsinnig auf einen sofortigen Rücktritt Assads beharrte. Da wurde zu Beginn des Jahres 2017 in Astana (Kasachstan) ein unabhängiges Verhandlungsformat eröffnet, das einem syrischen Frieden näherkommen sollte als die UN-Verhandler in Genf. Russland, Iran und Türkei wollten so als Garantiemächte die Sache des syrischen Friedens in die Hand nehmen. Bezüglich der Teilnahme der mit Assad verbündeten Volksrepublik Iran an den Gesprächen in Astana wußte ein Diplomat zu sagen: »Teheran habe Sorge, daß es an den Rand gedrängt werde, wenn Russland und die Türkei, am Ende vielleicht sogar die USA, einen „Deal“ machen sollten.« (FAZ) Nicht weniger besorgt, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, kann man die Rolle der Türkei sehen. Natürlich ging es dem »Friedensstifter« Erdogan am Verhandlungstisch von Astana in der Hauptsache darum, mitbestimmen zu können, mit welchen der Kurden verhandelt werden durfte.
Die tapfere Haltung kurdischer Volksverteidigungseinheiten im Widerstand gegen den IS bleibt unbestritten, obwohl das Erdogan, als geheimer Verbündeter des IS, in einem anderen Licht sieht. Egal ob mit Russland oder mit USA verbündet, egal ob kurdische Gruppierungen basisdemokratisch organisiert oder dem Islam ergeben sind: Von dem indo-germanischen Volk der Kurden hatte Erdogan in seiner pathologischen Rachsucht niemals anders als von »Terroristen« gesprochen. Überall wo im Nahen Osten gerade auf Kurden geschossen wird, ist entweder Erdogan der Anstifter, oder es geschieht unter seinem lauten Beifall. Erdogans unbegründeter Haß auf das iranische Volk der Kurden überwindet selbst ideologische Barrieren, und knüpft überraschende Allianzen.
Astana und die »getürkten« Deeskalationszonen in Nordsyrien
Die Delegierten der bewaffneten Opposition in Astana waren überwiegend Verbündete der Türkei, die wohl zunächst einen gemäßigteren Eindruck machten als gewisse saudische Schlächter-Visagen in Genf. Trotzdem konnten sich die Oppositionellen in Astana nicht dazu überwinden, mit Vertretern der syrischen Regierung an einem Tisch zu sitzen, weshalb man in separaten Räumen tagen mußte. Muhammed Allousch nannte sich der Verhandlungsführer dieser Opposition, Anführer der radikal-islamischen Palästinensermiliz Dschaisch al-Islam, »die ihr Reich in den Vorstädten von Damaskus mit harter Hand regiert« (FAZ), aber deren eigentliche Ziele kaum bekannt sind. Besagte Dschaisch al-Islam-Milizen wurden jedenfalls von Assad und der russischen Luftwaffe belagert und bekämpft, weil sie Bombenanschläge und Selbstmordattentate auf Zivilisten in Damaskus verübten. Diese wiederum beklagten dann – sekundiert von westlichen Medien – einen Bruch der Waffenruhe!
Auf der dritten Verhandlungsrunde in Astana im Mai 2017 einigten sich die Garantiemächte Russland, Iran und Türkei darauf, in Syrien sogenannte »Schutzzonen« oder »Deeskalationszonen« einzurichten, um die Sicherheit von Flüchtlingen notfalls militärisch zu gewährleisten. Innerhalb dieser Schutzzonen sollte die notleidende Bevölkerung mit gemeinsamen Hilfslieferungen versorgt werden. Darüber herrschte aber nicht überall Zufriedenheit: »Drei Vertreter der syrischen bewaffneten Opposition verließen aus Protest gegen die Beteiligung des Irans an dem Memorandum die Sitzung in Astana. Einer von ihnen rief: „Iraner sind Verbrecher, sie dürfen nicht unterzeichnen.“« (Handelsblatt) An dieser hitzigen Stimmung erkennt man Konkurrenten aus Saudi-Arabien. Nach Angaben der Türkei sollten sich Deeskalationszonen über die gesamte Provinz Idlib sowie über Teile der Provinzen Latakia, Aleppo, Hama, Homs, Damaskus, Daraa und Kuneitra erstrecken. Erdogan setzte auf eine simple Rechnung: Während für turkmenische oder andere mit der Türkei verbündeten Kampfgruppen in Syrien die Waffenruhe gelten sollte, mochten inzwischen saudische al-Qaida-Ableger getrost von der syrischen Regierung und der russischen Luftwaffe bekämpft werden.
Die Annexions-Politik der Türkei in Syrien
Darüber hinaus lieferten solche Schutzzonen der Türkei einen perfekten Vorwand, um verschiedene Teile des syrischen Territoriums nach einer Intervention türkischer Truppen zu annektieren. Dies geschah in aufeinanderfolgenden Schritten. Bereits 2016 brachten Streitkräfte aus der Türkei zusammen mit verbündeten Kampfgruppen (Syrische Turkmenen und al-Qaida-Ableger) die Stadt Dscharabulus in Nordsyrien unter ihre Kontrolle – indem sie angeblich den IS von dort vertrieben hatten. Obwohl auf sonderbare Weise kein einziger Schuß gefallen war, zogen sich die IS-Kämpfer trotzdem zurück und die türkische Operation erweckte unwillkürlich den Anschein einer geheimen Abmachung. Das syrisch-türkische Grenzgebiet um Dscharabulus wurde praktisch von türkischen Truppen besetzt.
Darauf folgte eine verstärkte Militärintervention der Türkei (Schutzschild Euphrat) in Nordsyrien, die sich anstatt gegen Terroristen gegen Kurdenverbände richtete. Die Leseart dieser völkerrechtlich illegalen Operation türkischer Streitkräfte auf fremdem Staatsgebiet lief natürlich – wie konnte es anders sein – unter dem Aufhänger der Terrorismus-Bekämpfung. Die Operation war im März 2017 zu Ende gegangen und brachte der Türkei in Syrien noch mehr Landgewinn. Die Türken besetzten auf syrischem Boden das Dreieck zwischen den Städten Azaz, Dscharabulus und Al-Bab mit rund 2500 Quadratkilometern, um ihren, von der kurdischen SDF hart bedrängten Dschihadisten einen Versorgungskanal und Nachschublinien durch dieses Gebiet offenzuhalten – bis nach Aleppo. Erst durch das Vordringen der syrisch-kurdischen Kräfte wurde diese Verbindung gekappt. Auch das südliche Al-Bab war den Türken vom IS kampflos und stillschweigend abgetreten worden, genau zu dem Zeitpunkt im März, als syrische Streitkräfte bereits alle IS-Nachschublinien nach Al-Bab abgeschnitten hatten, und die Stadt kurz vor der Eroberung durch die syrische Armee stand.
Mit den Zielen einer wie immer gearteten »Terrorismus-Bekämpfung« hatte das Vorgehen der Türkei nur denkbar wenig zu tun. Damals schon bahnte sich der offene Konflikt an zwischen der Türkei und den USA, die zwar gemeinsam mit Kurden gegen den IS vorgingen, aber gleichwohl den IS gegen die syrischen Streitkräfte unterstützten, wie beim »mutmaßlich irrtümlichen« US-Luftangriff auf syrische Regierungstruppen am 17. September 2016 mit 62 getöteten Soldaten. Es bestand kein Zweifel daran, daß Erdogan mit einer langfristigen Besetzung der eroberten Gebiete rechnete, und diese noch kolonisierte: »Leuchtend gelb strahlt die Reklametafel über dem Eingang, zu dem eine gepflegte, neu errichtete Steintreppe führt. Daneben ein Geldautomat, der türkische Lira ausspuckt. So sieht die erste Filiale der türkischen Post PTT in Syrien aus. [...] In al-Bab, mit mehr als 60.000 Einwohnern die größte Stadt unter türkischer Kontrolle, lernen Jungen und Mädchen seit diesem Schuljahr schon ab der ersten Klasse türkisch als erste Fremdsprache« (Der Spiegel.) Aus den sogenannten »Beobachtungsposten« wurden befestigte Stützpunkte der türkischen Armee.
Zugleich verhinderte das türkische Besatzungsgebiet, das im Süden von al-Bab begrenzt wird, wohlweislich den Zusammenschluß der beiden kurdischen Autonomiegebiete in Nordsyrien. Sobald das Projekt militärischer Deeskalationszonen in Syrien angelaufen war, schien es in Ankara kein Halten mehr zu geben. Am 9. Oktober 2017 unternahmen türkische Streitkräfte einen ersten Vorstoß in die nordsyrische Provinz Idlib, wo ebenfalls Deeskalationszonen eingerichtet werden sollten. Es kam zwar von türkischer Seite zu einzelnen Scharmützeln mit Kämpfern des al-Qaida-Bündnisses Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), deren rund 30.000 Gotteskrieger – wie oben erwähnt – als Verbündete Saudi-Arabiens die Region um den einträchtigen Öl-Markt in Idlib größtenteils beherrschen, und im September 2015 dem IS einen Treueeid geleistet hatten. (Schließlich stand der türkische Einmarsch im Zeichen der Terrorismus-Bekämpfung.) Ein direkter Angriff der türkischen Truppen auf das HTS-Bündnis war auffälliger Weise nicht geplant. Dennoch begannen sich lokale Kampfverbände unter dem Eindruck des türkischen Vorgehens vermehrt von dem HTS-Bündnis abzuspalten, und mit ihren Waffen zur Türkei überzulaufen. Seit Oktober 2017 begann daher das HTS-Bündnis seine dominierende Kraft in der Region Idlib merklich einzubüßen.
Die Kurden im Zangengriff
Ein anderer, vielleicht der eigentliche Grund für den türkischen Einmarsch in der Provinz Idlib scheint jedoch die komplette Einkreisung des kleinen kurdischen Kantons Afrin in Nordsyrien zu sein. Der Kanton Afrin, ein quadratischer Flecken mit etwa 40 Kilometern Ausdehnung, dessen Randgebiete in die Türkei hineinragen, liegt nunmehr abgetrennt von dem größeren kurdischen Haupt-Autonomiegebiet, und eingeschlossen zwischen den beiden, von der Türkei annektierten Gebieten in Syrien. Einmal mehr standen Kurden im Fadenkreuz der Türkei. »Am Donnerstag, dem 12. Oktober, begannen wir mit Aktivitäten zur Einrichtung von Beobachtungsposten«, lautete eine Erklärung der türkischen Streitkräfte in Nord-Idlib nahe der kurdischen Grenze. Die Strategie der Beobachtungsposten, die sich blitzschnell in befestigte Stellungen verwandeln, kennt man mittlerweile von der Türkei zur Genüge. Bietet doch das Gebirgsland um Scheich Barakat in Nord-Idlib einen vollständigen Überblick über den Kurden-Kanton Afrin, wenn auch die türkischen Operationen in dieser Region mit den Vereinbarungen von Astana und dem Ziel des Flüchtlingsschutzes keineswegs übereinstimmen.
Die Hügel von Afrin sind geschmückt mit überlebensgroßen Bildern des marxistischen PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der seit 1999 in türkischen Gefängnissen eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, nachdem er aus der griechischen Botschaft in Kenia vom türkischen Geheimdienst verschleppt worden war. Auch das Verfahren gegen Öcalan, der in der Haft gefoltert wurde, bezeichnete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als unfair und den Rechtsnormen keinesfalls entsprechend. »Entlang der Landstraßen sind YPG/YPJ-Fahnen und Bilder von Märtyrern aufgestellt« (K. Leukefeld.) Bereits im Sommer 2017 ging das Gerücht, daß türkische Truppen in dem Kanton Afrin einmarschieren könnten, und diesbezügliche Pläne längst ausgearbeitet seien. »Die Äußerungen des türkischen Außenministers lassen aufhorchen. In der türkischen Zeitung Daily Sabah lässt der türkische Außenminister Çavuşoğlu verlauten, dass sie keine Hilfe von außen (gemeint ist Russland, Anm. d. Verf.) brauchen, um in Afrin zu intervenieren« (Elke Dangeleit, 14. Dezember 2017.) In der Türkei mußte man sich sehr sicher fühlen. Einstweilen verlegten die USA eine Raketenatillerie nach Syrien, und Saudi-Arabien stritt sich mit Katar. Für die kurdische Bevölkerung in Afrin war es höchste Zeit sich darauf einzustellen.
Kurdische Basisdemokratie und Erdogans Vernichtungsfeldzug
Bei den jüngsten Wahlen in den kurdischen Autonomiegebieten in Nordsyrien Anfang Dezember (2017) war die PYD (Partei der Demokratischen Union) mit 92 Prozent der Parlamentssitze als Wahlsieger hervorgegangen. Deren so siegreiche »Liste der Demokratischen Nation« setzt sich aus 17 kleineren Parteien, darunter auch Parteien nicht-kurdischer Bevölkerungsgruppen zusammen. (Kurden, Araber, Aramäer oder Assyrer.) Unter Jesiden, Christen und Muslimen herrscht in der kurdischen »Demokratischen Föderation Nordsyrien« (Rojava) weitgehende Religionsfreiheit. »Wir wollen den Menschen deutlich machen, daß in Rojava Kurden, Araber und andere Bevölkerungsgruppen geschwisterlich zusammenleben«, lautete eine Erklärung aus der Autonomieregion. Im Geiste dieser vorbildlichen Haltung wird die linke PYD-Regierung in Rojava von jeweils kurdischen, arabischen und christlich-assyrischen Ministern im ausgewogenen Verhältnis gebildet. Im Gesellschaftsvertrag der Rojava-Förderation wird die Gleichberechtigung von Frauen in den Mittelpunkt gestellt. Die gesellschaftspolitisch aufregende Staatsgründung der syrischen Kurden, deren sozialstaatliches und säkulares Konzept bei internationalen Beobachtern durchaus Anklang gefunden hat, wurde bald von europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland und Schweden offiziell anerkannt. Frankreich insbesondere verfolgt seit längerem den Plan einer Staatsgründung Kurdistans in Nordsyrien, damit auch die türkischen Kurden in Südostanatolien eines Tages dorthin vertrieben werden können, um sie vor dem Vernichtungsfeldzug Erdogans zu bewahren. Im eigenen Land zögert Erdogan nicht, die Städte dieses indo-germanischen Volkes dem Erdboden gleichzumachen. Den illegalen und brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei hatte Erdogan Anfang 2016 begonnen, als türkische Streitkräfte eine Reihe von kurdischen Städten in Anatolien belagerten.
Nicht nur gingen die Spezialeinheiten mit äußerster Härte und Unverhältnismäßigkeit gegen die Zivilbevölkerung der Kurden zu Werke – junge PKK-Demonstranten in den eingekesselten Städten wurden mit Granaten und Panzergeschossen angegriffen – wurden auch Hunderttausende Kurdenfamilien mit Gewalt aus ihren größtenteils verwüsteten Dörfern und Städten in Südostanatolien vertrieben, wie man unter anderem in der kurdischen Stadt Sirnak mit 70.000 Einwohnern auf sehr dramatische Weise beobachten hatte können. Bis auf die Moschee in der Mitte war die gesamte Kurdenstadt von türkischen Streitkräften in Schutt und Asche gelegt worden. Schaudernd denkt man angesichts der Ruinen zurück an die archaischen Zeiten eines Assurpanibal oder Nebukadnezar. Ein empörendes Kriegsverbrechen wurde auch aus der Kurdenstadt Cizre mit 120.000 Einwohnern berichtet. Dort waren in verschütteten Kellern 177 Menschen umgekommen und ihren schweren Verletzungen erlegen, weil die türkischen Besatzungstruppen keinen Rettungswagen durchgelassen hatten. »Wir sind arme Leute, und Bürger dieses Landes«, sagte ein Einwohner von Cizre in der ZDF-Dokumentation »Türkei – Der vergessene Krieg im Osten«, die bezeichnender Weise im Spätabendprogramm versteckt wurde. Überall waren Verhaftungen und Folterungen an der Tagesordnung, die Stadtbewohner fanden nicht einmal Zeit, ihre Toten zu begraben, ihre Wohnstätten wurden von türkischen Streitkräften dem Erdboden gleichgemacht. »Nach Medienberichten vom Januar 2016 ist Cizre in vielen Bezirken mittlerweile eine Geisterstadt, ganze Stadtteile seien verwüstet und glichen den Bildern von den umkämpften syrischen Städten. Viele Menschen seien geflohen« (Wikipedia.) Bewußt waren Regimenter der türkischen faschistischen Grauen Wölfe dazu ausgewählt worden, die man brandschatzend auf die kurdische Bevölkerung losgelassen hatte. Kleinere Ortschaften wurden mit Tränengas angegriffen, und zahlreiche Bewohner auf dem Dorfplatz gefoltert. Verletzte durften nicht ins Krankenhaus gebracht werden. Dagegen war die Befreiung Aleppos ein Sonntagsausflug! Das Vorgehen der türkischen Streitkräfte kann sich durchaus mit den Nazi-Greueln im Zweiten Weltkrieg messen, und wie jeder echte »Schurkenstaat« läßt auch die Türkei keine UN-Behörden ins Land.
Wenn Erdogan überhaupt so weit gehen konnte, liegt die Hauptverantwortung dafür bei den Regierungen Europas und deren vielgerühmter westlicher »Wertegemeinschaft«, die zu allen Greueln in Anatolien nur wohlwollend geschwiegen, und sich jedenfalls der Unterlassung schuldig gemacht hatten. Hinzu kam die volle Rückendeckung der Türkei durch NATO-Generalsekretär Stoltenberg, kurz darauf schloß die deutsche Kanzlerin Merkel auf einem vergoldeten Prunksessel in Ankara ihren höchst umstrittenen »Flüchtlingsdeal« mit einem nach der Diktatur strebenden Erdogan. Umso leichter vermochte Erdogan, den Vernichtungskrieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung als »Anti-Terroreinsatz« und »legitime Selbstverteidigung« zu deklarieren. Unglaublich, aber wahr! Auch der seltsame Putschversuch des Militärs in der Türkei wurde als Begründung von Massenverhaftungen und politischer Verfolgung von europäischen Regierungen anstandslos geschluckt. Erdogan drohte sogar mit gewaltsamen Aufständen seiner türkischen Parteigänger in den Hauptstädten Europas, und dennoch wollte sich keine einzige Regierung des Westens finden, die seinen Verbrechen Einhalt gebot.
Aber nicht einmal auf fremdem Boden in Nordsyrien möchte der türkische Präsident einen Kurdenstaat hinnehmen. Deutschland treibt ein Doppelspiel, indem einerseits die kurdische PYD mit deutschen Waffen beliefert wird, darunter Panzerabwehrraketen MILAN mit radioaktiver Munition, die auf Dauer auch kurdische Kämpfer verseuchen könnten, andererseits wird auch die Türkei mit deutschen Waffen ausgerüstet, mit denen wiederum türkische Streitkräfte gegen Kurden vorgehen – auch im Ausland. Das mag (neben den positiven Auswirkungen auf das deutsche »Exportwunder«) letztlich daran liegen, daß Deutschland und die EU in der Flüchtlingsfrage von der Türkei massiv unter Druck gesetzt werden. Das sieht dann so aus, daß ein beleidigter Erdogan damit droht, Europa mit Flüchtlingen zu überschwemmen, wenn ihm bei seiner autoritären Machtergreifung etwa Steine in den Weg gelegt werden. Das wirkt in Europa immer, und mittlerweile scheinen die deutschen Behörden unterwandert von Spitzeln des türkischen Geheimdienstes (MIT), die deutsche Staatsbürger ausspionieren. »Solange der türkische Geheimdienst türkische und kurdische Linke bespitzelte, gab es keine Empörung. Als bekannt wurde, daß in Moscheen vermeintliche Gülen-Anhänger von türkischen Agenten bespitzelt wurden, gab es einen kleinen Skandal. [...] Ins Visier gerieten auch in Deutschland Menschen, die sich mit verfolgten türkischen und kurdischen Oppositionellen solidarisieren.« (Peter Nowak) Ebenso machen deutsche Behörden auch fleißig Jagd auf vermeintliche Gülen-Anhänger!
Kurdischer Ost-West-Konflikt
Der größte Stein auf dem Weg Erdogans nach oben ist die Kurden-Föderation »Rojava« in Syrien. Verteidigt aber werden die drei Kantone der Autonomieregion (Afrin, Kobane und Jazira) von den kurdischen Peschmerga-Kämpfern, bzw. der Frauenverteidigungseinheit (YPJ). Dagegen stehen die weiblichen Kampfverbände YJA STAR (ein Hinweis auf die antike Göttin Ishtar) in einer direkten Verbindung zu der in der Türkei verbotenen kurdischen Untergrundorganisation PKK. Die kurdischen Einheiten haben sich trotzdem im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) als Helden hervorgetan, deren tapferer Widerstand gegen die Kopfabschneider längst zur Legende ward. Ein Schatten jedoch liegt auf der Autonomieregion Rojava, nämlich daß die Kurden auch solche Gebiete beanspruchen, die ursprünglich nicht-kurdisch gewesen sind. Laut Amnesty International kam es in Kurdengebieten zu einzelnen Vorfällen, wonach friedliche Araber von Kurdenmilizen vertrieben wurden. Das ist leider die unausweichliche Folge, wenn eine Völkerschaft woanders vertrieben wird wie bei den Türken – die Flüchtigen drängen nach und es entsteht dann Unruhe in benachbarten Regionen. Der türkische Präsident Erdogan lehnt folgerichtig eine mögliche Beteiligung der kurdischen PYD-Regierung an Syrien-Gesprächen in Astana, und die kurdische Autonomie insgesamt, vehement ab. Nicht einmal im benachbarten Ausland möchte Erdogan den offenkundigen demokratischen Mehrheitswillen der ansässigen Bevölkerung akzeptieren. Das wird für niemanden eine Überraschung sein. Doch stehen einer Autonomie der Kurden leider auch Russland und die syrische Regierung entgegen.
Vor nicht allzu langer Zeit waren die syrischen Kurden noch Verbündete Russlands. Spätestens Juni 2017 hatten sich jedoch kurdische Einheiten der Syrischen demokratischen Kräfte (SDF) mit den USA verbündet, und mit deren Hilfe im Oktober die Stadt Rakka von IS-Kämpfern befreit. Natürlich war eine der unmittelbaren Folgen davon, daß in Rakka Spezialeinheiten der USA von dieser syrischen Region Besitz ergreifen, und sogleich eine US-Militärbasis installieren konnten. Eine Hand wäscht eben die andere. Zugleich hatten die USA, wie oben erwähnt, Hunderten IS-Kämpfern den freien Abzug aus Rakka ermöglicht, noch ehe kurdische SDF-Einheiten die Stadt kontrollierten. Das aber war der Grund, warum Assad neuerdings die Kurden »Verräter« nannte, und Russland sich von den kurdischen Autonomieregionen distanzierte – ihnen militärischen Schutz versagend. Diese Haltung sollte die syrische Regierung Assad im eigenen Interesse noch dringend überdenken! Allerdings äußerte der Militärexperte Dimitri Stefanovich von der staatlichen Denkfabrik Rat für internationale Angelegenheiten Russlands: »Bisher halten Russland und Damaskus einen türkischen Angriff gegen die kurdische YPG zurück. Hinzu kommt, daß die stärksten Einheiten der syrischen Armee und YPG Kontakt im Raum Rakka haben, was zu anderen Eskalationsoptionen führen kann.«
Das Scheitern der Kurdenfrage im Irak
Dagegen hatten sich die Kurden im benachbarten Nord-Irak ihre Situation mit einem Autonomie-Referendum unter dem zurückgetretenen Kurdenpräsidenten Barzani wesentlich verschlechtert.
Nicht nur, daß das rechtlich nicht bindende Kurden-Referendum am 25. September 2017 gegen den ausdrücklichen Willen der irakischen Regierung und des Premiers Haider al-Abadi durchgeführt wurde, stand das kurdische Hasardspiel dieser Volksabstimmung unter massiver internationaler Einschüchterung, vor allem aus Ländern wie der Islamischen Volksrepublik Iran oder der Türkei. In türkischen Zeitungen stellte man das Referendum als geheime Verschwörung Israels mit den Kurden dar, um in einem neu gegründeten Kurdenstaat auch 200.000 kurdische Juden anzusiedeln. Immerhin stimmten bei dem Referendum 92 Prozent für die Unabhängigkeit der Kurdengebiete mit der Hauptstadt Erbil im Nordirak.
Doch ebenso wie in Syrien erhob man auch im irakischen Autonomiegebiet der Kurden (rechtswidrigen) Anspruch auf strategisch wichtige Gebiete und Ölanalagen im Nordirak, welche nachweislich keine angestammten Regionen der kurdischen Bevölkerung sind. Kurdenmilizen hatten diese Gebiete in den letzten drei Jahren von dem Schreckenskalifat des IS zurückerobert, aber nicht an den Irak zurückgegeben. Und dies sollte ihnen zum Verhängnis werden. Denn am 17. Oktober rückten irakische Truppen in den umstrittenen Gebieten ein, ohne dort auf nennenswerten Widerstand etwa der kurdischen Peschmerga-Kämpfer zu stoßen. Dieselben irakischen Truppen, die 2014 vor den IS-Kämpfern in wilder Panik zurückgewichen waren, ganz im Gegensatz zu den Widerstand leistenden Kurden – das aber änderte nicht die Rechtslage. Dem Irak ging es namentlich um die Universitätsstadt Kirkuk (das Zentrum der irakischen Erdölindustrie), und die von Jesiden bewohnte Stadt Sindschar in der Ninive-Ebene, deren rechtlicher Status nicht geklärt ist. Kurden-Präsident Mesud Barzani hatte mit Gebietsansprüchen zu hoch gepokert. Der irakische Einmarsch kurz danach machte alle kurdischen Hoffnungen auf Unabhängigkeit endgültig zunichte.
Nach dem Sturz Saddam Husseins (2003) war Barzani Präsident der Kurdenregion im Irak geworden. Solange der Barzani-Clan die irakischen Kurden mit harter Hand zusammengehalten hatte, war auch deren Verhältnis zur Türkei entspannt geblieben, zumal Barzani ausdrücklich einen pro-westlichen Kurs verfolgte, ganz im Gegensatz zu den linksgerichteten Kurdenregionen in Syrien. Nicht zuletzt sind auch im Nordirak mehrere Tausend türkische Soldaten stationiert, die angebliche PKK-Stellungen ausforschen und bombardieren sollen, obgleich man auf fremdem Territorium steht. Doch fürchtet Erdogan einen unabhängigen Kurdenstaat als Nachbarn (egal ob in Syrien oder Irak) noch mehr als der Teufel das Weihwasser, und Barzani hatte sichs mit dem Referendum verscherzt. Noch steht der Nachfolger Barzanis nicht fest. Eine für 1. November 2017 geplante kurdische Präsidentschaftswahl wurde »wegen des Konflikts mit der Zentralregierung in Bagdad« aufgeschoben. Indessen hatte nur ein einziger Kandidat zeitgerecht vor Ablauf der Frist seine Kandidatur bekannt gemacht, nämlich Mohammed Tofik Rahim von der Oppositionspartei Gorran, der »Liste für den Wandel«.
Der Ami geht nicht heim
Auch die USA kamen nach Syrien um zu bleiben. Der Aufenthalt des US-Militärs auf syrischem Territorium ist völkerrechtswidrig, und dient offiziell der Terrorismus-Bekämpfung. (Falls jemand Zweifel hat.) Mittlerweile haben die USA im kurdischen Autonomiegebiet der YPG in Nordsyrien nicht weniger als sieben befestigte Militärflughäfen und Basen eingerichtet. Eine vollständige Liste von zehn geheimen US-Basen in Syrien waren von der türkischen Agentur Anadolu im Juli 2017 veröffentlich worden. Bei zwei Standorten wurde überdies noch seitens der Agentur auf die Präsenz französischer Spezialeinheiten verwiesen. In Washington wurde dies als fahrlässige Indiskretion heftig kritisiert, denn es »könne die Fortsetzung des Kampfes gegen den IS gefährden.« Die Rede geht von zwei US-Militärflughäfen in Hasaka, einen in Kamischli, zwei in al-Malekiyeh, und je einen in Kobane und Tall Abyad an der Grenze zur Türkei. In Südostsyrien sind US-Militärbasen im Umkreis von al-Schadaddi, al-Zakaf und al-Tanf bekannt, sowie ein Militärzentrum in der Stadt Manbidsch. In al-Tanf an der Grenze zum Irak sind US-Raketenwerfersysteme vom Typ HIMARS mit einer garantierten Reichweite von 300 Kilometern stationiert.
Neben mindestens 1300 Mann US-Spezialeinheiten wird das Fußvolk der US-Militärbasen in Nordsyrien von Kämpfern des al-Qaida-Ablegers al-Maghawir al-Thawra (Revolutionary Commando Army) gestellt sowie von sogenannten, von der kurdischen YPG zur Verfügung gestellten, westlichen Koalitionstruppen. Eine dauerhafte militärische Präsenz der USA auch in dieser syrischen Provinz nicht mehr zu vermeiden sein. – Vor allem seit YPG-Streitkräfte im Alleingang mit ihren neuen US-Verbündeten die Stadt Rakka vom IS befreiten. Den Ärger darüber und auf die Kurden des YPG wird man den Russen und der Assad-Regierung nicht gut verdenken.
Noch bleibt unklar, wie das ungewöhnliche Bündnis zwischen dem konservativen US-Präsident Donald Trump und der ultra-linken YPG überhaupt zustande kommen konnte. Erst jüngst hieß es nach einer Erklärung des US-Pentagon in Washington, man unterstütze die YPG außerhalb des gemeinsamen Kampfs gegen die Terrormilizen des »Islamischer Staates« (IS) nicht. Die Kurden können sich also nicht im Stich gelassen fühlen, wenn die USA im Fall eines türkischen Angriffs auf den kurdischen Kanton Afrin beispielsweise nichts unternehmen, um sie dagegen zu schützen. Die Zusammenarbeit der YPG mit den USA geht auf den Herbst 2014 zurück, als die Kurden in ihrem Kanton Kobane (Ain al-Arab) von der US-Luftwaffe gegen die Angriffe des IS unterstützt wurden. »Mehrere US-Delegationen besuchten fortan die Region und es gab Absprachen mit US-Militärberatern.« Wenn die USA ihren Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) nun ernster meinen, als noch unter Trumps Vorgänger Barack Obama, haben die USA in den Kurden einen idealen Verbündeten gefunden.
Am meisten lief dagegen Sturm der türkische Präsident Erdogan, sodaß ihm US-Präsident Trump am 26. November telefonisch versprechen mußte, keine Waffen mehr an Kurden zu liefern. Besser wäre es gewesen, Trump hätte Erdogan wegen seines Vernichtungsfeldzugs gegen die Kurden im eigenen Land zurechtgewiesen, oder wegen seiner Kooperation mit dem IS. »Ankara stuft die YPG aufgrund der Nähe zur verbotenen PKK als Terrororganisation ein.« Die Position der Türkei ist hinlänglich bekannt. Entscheidend war jedoch die Frage, ob sich die Kurden-Milizen unter dem Einfluß der USA dazu hergeben würden, die Assad-Regierung stürzen zu wollen. So meinte etwa Karin Leukefeld: »Wenn es der kurdischen PYD-Partei nicht um einen Regimewechsel gehe, warum würde dann der Kampf gegen den IS nicht gemeinsam mit der syrischen Armee und ihren Verbündeten (Russland, Iran, Hisbollah) geführt?« Eine mögliche Antwort wäre, daß die syrische Regierung Assad bislang von den kurdischen Autonomiebestrebungen nichts wissen wollte. Zumal die 13 in Syrien vertretenen kurdische Parteien, darunter die PYD, immer noch illegal sind. Auch diese unnachgiebige Haltung müßte noch unbedingt durchdacht werden!
Mit dem Finger auf der Landkarte nach Pseudo-Kurdistan
Es gibt Gerüchte über die Schaffung eines pro-westlichen Pseudo-Kurdistan in Nordsyrien durch die USA, einschließlich von strategisch günstigen Gebieten, die nachweislich nicht-kurdisch sind. Unterstützt wird diese These durch eine von der Journalistin Robin B. Wright in der New York Times veröffentlichen Syrien-Karte vom Jahr 2013, auf welcher nicht nur ein hypothetisches Kurdistan mit der Hauptstadt Erbil eingezeichnet ist, das die syrischen und irakischen Autonomiegebiete vereinigt, sondern darunter über fast das gesamte Staatsgebiet Syriens und des Iraks auch ein »Sunnistan«, als hätte der spätere IS-Kalif al-Bagdhadi in seinen umstürzlerischen Plänen einen besonderen Draht zur New York Times gepflegt. Im Süden des Irak zeichnete die US-Autorin ein »Schiitistan«, und an der syrischen Mittelmeerküste ein »Alewitestan«. Sollte solch ein tollkühner, und im Grunde undurchführbarer Teilungsplan zu irgendeiner Zeit in Washington ernsthaft verfolgt worden sein? Der CIA kann man aus Erfahrung freilich alles zutrauen.
Doch die Gründung eines Kurden-Staates wird ironischer Weise von keiner der 13 kurdischen Parteien in Syrien angestrebt – der Begriff »Kurdistan« kommt auch in keinem Parteinamen vor. Gefordert wird vielmehr politische Autonomie und keine völlige Unabhängigkeit, sowie auch Gleichberechtigung für kurdische Staatenlose, denen noch unter Hafiz al-Assad in den 1980er-Jahren die syrische Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Die letztere Forderung wurde von der Regierung Assad bereits erfüllt – um sich damit die Loyalität der Kurden zu sichern. Im September 2017 zeigte sich die syrische Regierung willens, in offenen Gesprächen mit Kurdenvertretern über deren Autonomiebestrebungen verhandeln zu wollen. Außenminister Walid al-Moualem erklärte damals: »Diese Angelegenheit ist das Thema weiterer Verhandlungen und Diskussionen. Sobald wir den IS ausgeschaltet haben, können wir uns mit unseren kurdischen Söhnen zusammensetzen und uns auf eine Formel für die Zukunft einigen.« Die Anerkennung des kurdischen Rojava-Gebiets als selbstverwaltete Autonomieregion läßt auf sich warten, und wurde durch das US-Kurdische-Bündnis und den Alleingang in Rakka nur noch hinausgezögert. Es wäre aber nur billig, wenn bei den nächsten geplanten Wahlen in Syrien 2021 die kurdischen Parteien und deren Kandidaten endlich zur Wahl zugelassen und legalisiert werden könnten. Kurdische Gruppen hingegen, die sich auf den politischen Islam berufen, sind in Syrien nicht in Erscheinung getreten. Ein Punkt mehr für die Kurden. Doch kehren wir zum ursprünglichen Thema zurück, den von Erdogan angedrohten Einmarsch in den kurdischen Kanton Afrin.
Der angekündigte Krieg
Ob Erdogan tatsächlich einen Krieg mit der YPG suchte, beantwortete der syrische Militäranalyst Nawar Olliver vom Omran Zentrum für strategische Studien auf RT am 13. Oktober 2017 wie folgt: »Ein Krieg mit der YPG ist unvermeidlich, wenn nicht morgen, dann wird der Kampf übermorgen ausbrechen. Langfristig wird die Türkei im Gegenzug für die Aufgabe anderer Gebiete an Russland eine Verbindungsroute zwischen Idlib und dem "Euphrat-Schild-Gebiet" in Nordaleppo eröffnen. Auf diese Weise könnten Süd-Aleppo und der Randbezirk Raschidin der Provinzhauptstadt Aleppo, also Gebiete, die in der Nähe von Territorien liegen, die die syrische Armee kontrolliert, zur neutralen Zone oder sogar zum Einflussgebiet der syrischen Regierung werden. Wir wissen, daß sich das türkische Militär am westlichen Rand der Provinz Aleppo befindet, aber das Endziel wird Idlib sein.« Nur drei Tage zuvor hatten türkische Streikräfte, wie erwähnt, einen ersten Vorstoß nach Idlib unternommen und keine Zeit damit verloren, ihre Beobachtungsposten an der Grenze zu Afrin zu befestigen.
In der Provinz Idlib, die als einzige syrische Provinz noch größtenteils beherrscht wird von dem radikalen al-Qaida-Bündnis Haiʾat Tahrir asch-Scham, sollte offiziell eine »Deeskalationszone« zum Schutz von syrischen Flüchtlingen eingerichtet werden, wie es bei den Gesprächen in Astana von Russland, Iran, Türkei und Syrien auch vereinbart worden war. Damit rechtfertigte die Türkei ihre militärische Präsenz in Idlib. Doch bei genauerem Hinsehen richtete sich der »Kampf gegen Terrorismus« seitens der türkischen Truppen nicht sosehr gegen die al-Qaida-Kämpfer des HTS-Bündnisses, sondern vielmehr gegen syrische Kurden, insbesondere im benachbarten Kanton Afrin. Spätere Berichte sollten enthüllen, wie türkische Kampfgruppen dort vorgingen: »Die Drohungen aus der Türkei seien nicht neu, sagt Hevi Mustefa die Ministerpräsidentin der Regierung von Afrin. 75 Prozent von Afrin grenze direkt an die Türkei. Die baue nicht nur eine Mauer, sie besetze Land von Afrin und zerstöre privates Eigentum. "Entlang der Grenze zur Türkei haben wir viele Olivenbäume, die von unseren Bauern bearbeitet werden, die abgeerntet werden müssen. Die Türkei greift die Bauern an und beschießt sie. Wir haben viele Märtyrer zu beklagen. Immer wieder haben wir uns an die internationalen Menschenrechtsorganisationen gewandt, um darauf aufmerksam zu machen, was an der Grenze geschieht. Ohne Erfolg." Man habe Anwälte beauftragt, gegen den klaren Bruch internationalen Rechts Anzeige zu erstatten. "Wir haben alles dokumentiert: jeden zerstörten Baum, jeden besetzten Kilometer Land, jeden getöteten Anwohner"« (Elke Dangeleit. Was wirklich in den kurdischen Gebieten Syriens vor sich geht.) Welch ein Hohn, was die Türkei nach offizieller Sprachregelung als Terrorismus-Bekämpfung legitimierte! In Afrin lebten rund 800.000 Zivilisten, die teils aus anderen Gegenden in Syrien geflohen waren, und sich zumeist in dem Kurdenkanton als Tagelöhner und Straßenhändler durchbrachten. Afrin galt als die sicherste Region in den Wirren des syrischen Stellvertreterkrieges. Russland und die syrische Regierung wollten die Türkei bisher von einem definitiven Einmarsch in Afrin abgehalten haben, und gegen einzelne Übergriffe setzte sich die YPG zur Wehr.
Ein anderer Militärexperte, Kyrill Semjonow vom russischen Zentrum für Islam-Studien, äußerte sich im November 2017 über das türkische Vorgehen in dem Kanton: »Die Türkei genießt schon seit langem die nahezu volle Handlungsfreiheit in Afrin. Sie war schon seit langem in der Lage, sich damit zu befassen, und führte auch solche Einsätze durch, wie beispielsweise bei Tel Rifaat [Oktober 2016]. Das Problem war nur, dass diese Einsätze erfolglos blieben. Bei Tel Rifaat kamen die Abteilungen der Freien Syrischen Armee (FSA) zum Einsatz, und die Türken unterstützten sie mit Feuer. Die Frage ist nur, inwieweit die Türken selbst bereit sind, solche Operationen aus eigener Kraft durchzuführen, und ob sie sich mit den Verlusten abfinden würden, die sie in Afrin tragen müssten.« Bei der strategisch wichtigen Kleinstadt Tel Rifaat hatte Erdogan 2016 die pro-türkischen al-Qaida-Ableger der Freien Syrischen Armee auf die kurdische YPG angesetzt.
Mitte Oktober hatten die pro-türkischen FSA-Milizen glorreich den IS aus der nahe gelegenen Stadt Dabiq im syrischen Gouvernement Aleppo vertrieben. Die Stadt Dabiq, nach der auch ein berüchtigtes Online-Magazin des IS mit radikalen Inhalten benannt worden war, gilt bei Islamisten als besonders symbolträchtig, weil dereinst am Ende der Zeit eine apokalyptische Schlacht dort stattfinden soll. Der Sieg pro-türkischer Milizen über den IS am 16. Oktober 2016 erstrahlte daher in besonders gleißendem Licht. »Der türkische Präsident Tayyip Erdogan hatte angekündigt, in Nordsyrien solle eine 5000 Quadratkilometer große "sichere Zone" geschaffen werden« (Der Spiegel.) Diesen Nimbus nutzte man aber in Ankara aus, um gleich darauf dieselben FSA-Milizen bei Tel Rifaat am 21. Oktober einen fatalen Schlag gegen syrische Kurden führen zu lassen, mit 160 bis 200 getöteten YPG-Kämpfern als blutige Konsequenz. Die YPG wurde von der Freien Syrischen Armee danach aufgefordert, die Region und Tel Rifaat selbst binnen 48 Stunden zu verlassen. Der Angriff war trotzdem erfolglos gewesen.
Allerdings gilt Tel Rifaat heute als eine Geisterstadt, die von der YPG gehalten wird, obwohl Kurden und Turkmenen in dieser Region stets nur eine kleine Minderheit in der überwiegend sunnistischen Bevölkerung darstellten. Nach der kurdischen Übernahme waren rund 150.000 Menschen nach Bab el-Salamah an der türkischen Grenze geflüchtet.
Das Beispiel Tel Rifaat wirft somit ein schräges Licht auf manche Besitzansprüche der Kurden in Nordsyrien. »Es ist davon auszugehen, daß die Türkei nichts unversucht läßt, Putin von einem Einmarsch in den Kanton Afrin zu überzeugen. Eine Annektion dieses Kantons durch die türkische Armee würde in einem Blutbad enden und die gesamte Region Westsyriens ins Chaos stürzen« (Elke Dangeleit.) Seit Dezember 2017 verhielt sich Erdogan wieder nett zu den USA, und forderte erneut einen Rücktritt Assads. Auf keinen Fall durfte Russland den türkischen Annexionsgelüsten nachgeben.
Die russischen Militärbasen
Russland und die Iranischen Revolutionsgarden bleiben die einzigen unter allen fremden Mächten, deren Truppen mit Zustimmung der anerkannten syrischen Regierung völkerrechtlich legal im Land operieren, ohne sich dabei auf einen fadenscheinigen Grund ausreden zu müssen. Das iranische Militär möchte auch weiterhin »bis zur Vernichtung aller Terroristen« in Syrien bleiben, wie Irans ehemaliger Verteidigungsminister Admiral Ali Schamchani im Dezember 2017 verlautbarte. »Die Kritik des Westens und besonders Israels werde nichts an der Tatsache ändern, daß der Iran in Syrien nationale Interessen verfolge und die Sicherheit der Region überwache.« Freie Bahn also für Handelsgeschäfte und Pipelines von Teheran über Syrien bis ans Mittelmeer! Wenige Tage zuvor hatte schon die US-Regierung angekündigt, »ihre Truppen auch lange nach der Zerschlagung der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien stationiert zu lassen.« (Das Kalifat war zu Ende. Am 19. November 2017 hatten die syrische Armee und verbündete Kurdenmilizen das letzte verbliebene Bollwerk des IS in Syrien mit der Stadt Albu Kamal zurückerobert.) Bisher rechtfertige Washington seinen Einsatz von Bodentruppen in Syrien, der die Souveränität Syriens verletzt, ebenfalls mit dem Hinweis auf Terrorbekämpfung. Jeder sicherte seine Stellungen auf dem Schachbrett. Russlands Präsident Putin hatte am 11. Dezember einen Teilabzug der russischen Truppen befohlen, ohne die russischen Militärstützpunkte an der syrischen Küste aufgeben zu wollen.
Während die USA im Hinterland ein Dutzend Militärflughäfen in Schuß halten, beansprucht Russland nur zwei, allerdings wichtige Marinestützpunkte in den syrischen Küstenstädten Latakia und Tartus. Am 12. Dezember landeten mehrere russische Transportflugzeuge in Latakia mit 80 Tonnen Hilfsgütern an Bord, um dort ein Zeltlager für mehr als 1000 Flüchtlinge zu errichten. Ein dritter russischer Militärstützpunkt wurde noch in der antiken Hafenstadt Dschabla, nahe Latakia eingerichtet. »Der Redaktionsleiter des Geopolitik-Portals The Duran, Adam Garrie, sagte auf Anfrage von RT Deutsch, dass Russland und Damaskus im Falle eines Verbleibs der USA in Syrien zahlreiche Optionen haben, auf das Verhalten zu reagieren. Er kommentierte: "Ich bin der Meinung, dass Russland der Türkei entweder grünes Licht für die Fortsetzung ihrer Militäroperationen gegen kurdische Milizen geben kann oder mit der Türkei zusammenarbeiten kann, um einen Kompromiss zu finden, einige Kurden bei Astana an den Friedenstisch zu bringen. Auf diese Weise verlieren die USA im Grunde ihre Berechtigung, noch in Syrien zu bleiben."«
Das letztere Argument würde US-Präsident Donald Trump, der sich in Syrien grundsätzlich berechtigt fühlt, nachgerade als »Fake-News« bezeichnen. Dabei ist Trump mit »alternativen Fakten« selbst nicht sparsam, schon was die tatsächliche Truppenstärke der US-Spezialeinheiten in Syrien betrifft, die auf mehrere Tausend Mann geschätzt wird, (immerhin zehn bis zwölf US-Flughäfen samt Raketenbasis müssen ja ausreichend besetzt werden können.)
Die Rolle der Hisbollah
Dem Iran und der syrischen Regierung wird überdies vorgehalten, mit der als Terrororganisation eingestuften Hisbollah-Miliz aus dem Libanon gemeinsame Sache zu machen, und deren schiitische Kampfgruppen mit Waffen iranischer, russischer oder chinesischer Herkunft zu versorgen. Das stimmt. Aber ohne die Kampfkraft der Hisbollah wäre der Libanon, dessen reguläre Armee nur schwach aufgestellt ist, von radikalen Dschihadgruppen längst überrannt worden, die in Syrien von denselben Mächten unterstützt und bewaffnet wurden, die sich heute wegen der Hisbollah beschweren möchten. »Der Hisbollah ist es gelungen, ihr Bild als Widerstandsbewegung in breiten Teilen der Bevölkerung zu festigen« (Wikipedia.)
Nach blutigen Verstrickungen im libanesischen Bürgerkrieg bis 1990 und im Libanonkrieg mit Israel 2006 wurde aus der Hisbollah zuletzt eine Parlamentspartei. Zusammen mit der syrischen Armee drangen Ende Dezember 2017 auch Iran-gestützte schiitische und drusische Milizkämpfer bei Damaskus tief in die Grenzregion zu Israel südöstlich der Sunniten-Stadt Beit Jin hinein. Erneut sollen dabei Zivilisten bombardiert worden sein. »Auch die Hisbollah und andere schiitische Milizen haben Assad geholfen, im Land wieder die Oberhand zu gewinnen.« Ebenso keine gute Nachricht für die US-Strategen in Washington war die Rückeroberung von Albu Kamal, dem letzten Bollwerk des IS, durch die syrische Armee und die YPG-Kurden. »Damit wird der Weg frei für eine Verbindung zwischen den schiitischen Milizen im Irak [Hashd al-Shaabi] und den Hizbollah- wie anderen schiitischen Milizen in Syrien« (Thomas Pany.) Die Schiiten kommen! Da werden sich die USA etwas einfallen lassen müssen, um Israel zu beruhigen.
Für Konflikte in syrischen Grenzregionen bleibt weiterhin genügend Zündstoff vorhanden. Das wird auch mit der verdeckten Kriegsführung aus Saudi-Arabien nicht besser. – Solange noch die Anhänger des saudischen Großmuftis Abd asch-Schaich radikale Kampfgruppen in Syrien bewaffnen, und ihnen niemand das Handwerk zu legen vermag – trotz erfolgter Machtübernahme in Riad durch den saudischen Thronfolger Mohammed bin Salman im November 2017.
Der Einmarsch der Türkei in den syrischen Kurdenkanton Afrin
Bereits am 9. Jänner 2018 hatte der türkische Präsident Tayyip Erdogan erneut mit dem Einmarsch türkischer Truppen in den Kurdenkanton Afrin gedroht. Daneben sollte in Nordsyrien die kurdische Region Manbidsch angegriffen und militärisch in die Zange genommen werden. Ohne UN-Mandat in fremden Ländern operieren? Erdogan fand: »Jetzt ist es so weit, das Projekt der separatistischen Terrororganisation, einen Syrien-Terrorkorridor zu errichten, vollkommen zunichtezumachen«, und verstand unter dieser »Terrororganisation« die Demokratische Föderation der Kurden (PYD) in Nordsyrien, welche aus rein strategischen Gründen von den USA unterstützt wurde. Der »Syrien-Terrorkorridor« war natürlich ein Zusammenschluß der Kurdenkantone in Nordsyrien. Die üblichen Verschwörungstheorien also, die auch diesmal nach den türkischen Angriffen auf Afrin von den Regierungen Europas wie eine Beruhigungspille anstandslos geschluckt werden würden. Unter der falschen Flagge der »Terrorismus-Bekämpfung« wechseln ganze Landstriche den Besitzer.
Sollte Erdogan seine Drohungen als Provokation verstanden haben, verfehlten sie ihr Ziel, denn niemand der westlichen Wertegemeinschaft fand sich, um das türkische Vorgehen maßzuregeln. Die syrische Regierung freilich – wie auch immer sie zu den Kurdenverbänden steht – konnte sich keine solche nachlässige Haltung erlauben, und verurteilte Erdogans Einmarschpläne als »eklatanten Angriff auf die staatliche Souveränität« der Arabischen Republik. Mit allem Recht, denn Erdogan denkt gewiß nicht daran, etwaige von ihm annektierte Gebiete in Syrien jemals herauszugeben.
Eine US-geführte Grenzsicherheitstruppe als fadenscheiniger Casus Belli
Unterdessen waren US-Ausbildner damit beschäftigt, in den Kurdengebieten eine Grenzsicherheitstruppe mit der Bezeichnung »Syrian Border Security Force« (SBSF) auf die Beine zu stellen. Diese 30.000 Mann zur Grenzsicherung rekrutieren sich zu einem Drittel aus ehemaligen IS-Kämpfern, die in kurdische Gefangenschaft geraten waren, oder dank der US-Partner freies Geleit bekommen hatten. Der Rest wird aus Kampfverbänden der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gebildet.
Schon bei der türkischen Offensive »Schutzschild Euphrat« war diesseits des Euphrat die von Kurden befreite Stadt Manbidsch in Gefahr geraten. »Jüngsten Meldungen zufolge, hat ein ranghoher Vertreter der SDF, der anonym bleiben wollte, erklärt, daß die USA in Manbisch eine Militärbasis aufgebaut haben, um den Vormarsch der türkischen Streitkräfte zu stoppen« (1. März 2017.) Die Region Manbidsch soll nach dem Willen der US-Strategen gegen türkische Angriffe verteidigt werden, wie alle anderen kurdischen Regionen, in denen man US-Stützpunkte findet. Das heißt, alle diejenigen Kurdengebiete, die östlich des Euphrat-Flusses liegen.
Unklar blieb dagegen die Verteidigung des abgetrennten Kurdenkantons Afrin im Nordwesten der syrischen Provinz Idlib. Die Regierung Assad drohte nun zwar mit dem Abschuß türkischer Kampfjets im syrischen Luftraum, aber deren militärische Mittel mußten ohne die Hilfe der Russen beschränkt bleiben. Überdies war die syrische Armee in der Provinz Idlib gebunden, wo sie den Kampf gegen das HTS-Bündnis (Haiʾat Tahrir asch-Scham) der al-Qaida aufgenommen hatte, um die Provinz zurückzuerobern.
Das HTS-Bündnis war als radikale Antwort auf die Friedensverhandlungen in Astana gegründet worden, und wollte demnach auch jetzt von der vereinbarten Waffenruhe nichts wissen. Idlib war die letzte Provinz in Syrien, die noch größtenteils von sogenannten »Rebellen« kontrolliert wurde, obwohl in den letzten Wochen zahlreiche Kampfgruppen des al-Qaida-»Komitees zur Befreiung der Levante« (HTS) zu den eindringenden türkischen Truppen im nördlichen Idlib übergelaufen waren. Seit Beginn der militärischen Offensive der syrischen Regierung in Idlib zur Weihnachtszeit (2017) waren 100.000 Menschen an die türkische Grenze geflüchtet, während die Türkei noch zusätzlich uigurische und usbekische Dschihadisten zur Unterstützung gegen die Kurden zusammengezogen hatte. Am 15. Jänner richtete Erdogan noch stärkere Drohungen an die USA, denen er nun vorwarf, in Nordsyrien mit der Grenzsicherheitstruppe SBSF (siehe oben) eine »Terrorarmee« aufzubauen. Obwohl die Türkei zuletzt Ansätze gezeigt hatte, ihr Verhältnis zu den USA aufbessern zu wollen, fühlte sich Erdogan seit Ende Dezember durch diese Grenzsicherheitstruppe aufgebracht, aber nicht wegen der ehemaligen IS-Kämpfer in deren Reihen, sondern ganz im Gegenteil, wegen den Kampfeinheiten der kurdischen YPG, die sich in ihren Autonomiegebieten mit den USA verbündeten. »Wir werden diese Terrorarmee abwürgen, bevor sie aus der Taufe gehoben wird«, geiferte Erdogan.
Wenn NATO-Partner sich gegenseitig die Unterstützung von Terroristen vorwerfen, ist das ungefähr so, wie wenn eine Prostituierte einer anderen im Streit die »Hur‘« an den Kopf wirft. Trotzdem hatte sich die Lage für die bedrohten Kurdenkantone Afrin und Manbidsch gefährlich zugespitzt. Wenigstens aus seinem Herzen machte Erdogan keine Mördergrube: Die Vorbereitungen der türkischen Armee für einen Einsatz in den syrischen Grenzregionen Afrin und Manbidsch seien abgeschlossen, und die Streitkräfte würden diese beiden Themen »schnell abgehakt« haben. Das letztere war noch nicht erwiesen. In der Türkei aber wurden bereits die ersten Kriegsgegner von der Polizei abgeholt, und deren Demonstrationen aufgelöst. Unterdessen rumpelten türkische Konvois von (deutschen) Panzern in die syrische Provinz Idlib ein, um von dort aus die kurdischen Grenzdörfer in ihrem Kanton Afrin zu überfallen.
Nur zwei Tage später – am 17. Jänner (2018) – machte Erdogan seine schlimmsten Drohungen zu vollendeten Tatsachen. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg im nordsyrischen Kanton Afrin hatte mit Bombenangriffen begonnen. Diese illegalen Kriegshandlungen auf fremdem Territorium waren von der Türkei wohl aus purem Zynismus mit der Bezeichnung »Operation Olivenzweig« (als Friedenssymbol) bedacht worden. Nächtlicher Artillerie-Beschuß von kurdischen Grenzdörfern hatte den türkischen Überfall eingeleitet. Darauf folgten dann Luftangriffe auf 108 von 113 Stellungen der YPG in Afrin. Es sollte dabei Tote und Verwundete gegeben haben, glaubte man der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in der Türkei, und die kurdischen Berichterstatter sprachen auch von zehn teils schwerverletzten Zivilisten.
Eine Bodenoffensive der türkischen »heldenhaften Streitkräfte« (in Wahrheit radikale Dschihadisten) stand unmittelbar bevor, obwohl eine solche bislang nicht bestätigt worden war. Am selben Tag noch appellierte die syrische Kurdenpartei PYD an die internationale Gemeinschaft der UN, die Türkei von einer militärischen Intervention abzuhalten. – Freilich vergebens.
Russland hatte zuvor seine Streitkräfte aus Afrin abgezogen, um seine Soldaten nicht zu gefährden. Berichte über den Abzug von Militärbeobachtern, die Russland dort zurückgelassen hatte, wurden dementiert. Gleich kamen einige Kommentatoren zu dem Schluß, Russland habe die Kurden fallengelassen. Sehr wohl mußte es empören, daß die Kurden in Afrin nun brutal zusammengeschossen werden sollten.
Doch bedenkt man es recht, handelte die russische Regierung im völkerrechtlichen Sinne. Schließlich wäre es die Aufgabe der UNO und ihrer Behörden gewesen, die illegale türkische Aggression im Kanton Afrin zu sanktionieren und alle notwendigen Maßnahmen zu treffen. Mit ihrem ostentativen Stillhalten wollte die Regierung Russlands offenbar vermeiden, was an den USA so heftig kritisiert wird, nämlich Weltpolizist zu spielen, und das Völkerrecht selbst in die Hand zu nehmen.
Trotzdem durfte man erwarten, daß Russland sein ganzes diplomatisches Gewicht aufwenden würde, um den türkischen Präsidenten Erdogan zur Vernunft – und an den Verhandlungstisch zu bringen. Nicht nur Berlin und Washington, auch Moskau zeigte sich jedenfalls »besorgt«. (Ansonsten herrschte bei der westlichen »Wertegemeinschaft« ein beklemmendes Schweigen im Walde.) Man fordere alle Seiten zur Zurückhaltung auf. »Wir beobachten die Entwicklung sehr genau«, bestätigte Moskau. Russland wollte einer Erklärung gegenüber Interfax zufolge seine Streitkräfte nur dann einsetzen, »wenn es eine Bedrohung seiner Militärstützpunkte in Tartus und Khmeimim gibt.« Die letztere Luftwaffen-Basis der Russen liegt in der Nähe der syrischen Stadt Latakia.
Am 13. Jänner erst waren die beiden russischen Stützpunkte von ferngesteuerten Flugkörpern (Drohnen) angegriffen worden. Die aus Afrin abgezogenen russischen Soldaten hatten sich aber in die »Deeskalationszone« im nördlichen Gouvernement Aleppo um die syrische Stadt Tel Rifaat zurückziehen müssen. Inzwischen befanden sich die bedrängten Kurden von Afrin in höchster Verteidigungsbereitschaft. Der Vizevorsitzende der kurdischen PYD-Partei, Salih Muslim, bekräftigte dies mit einer Warnung an die Türkei: »Das Volk der Kurden wird in seiner Gesamtheit aufstehen. Es wird totalen Krieg geben.« Ebenso hatte Sipan Hemo, der Kommandant der Volksverteidigungseinheiten YPG, erbitterten Widerstand gegen den Einmarsch türkischer Kampfgruppen angekündigt: »Unsere Antwort wird stark sein.« Nicht unerwähnt sollte allerdings bleiben, daß in der Vergangenheit von jungen Kurden immer wieder über Zwangsrekrutierungen bei den kurdischen YPG-Milizen geklagt wurde. Human Rights Watch hatte der YPG in ihrem Jahresbericht 2014 den Einsatz von Kindersoldaten und unverhältnismäßige Gefängnisstrafen vorgeworfen. Immerhin waren die Aktivisten von Human Rights Watch in die nordsyrischen Kurdenkantone vorgelassen worden, was man von der Türkei nicht behaupten kann, auch hatte die PYD-Partei die Ausmusterung aller minderjährigen Soldaten veranlaßt. Zugleich stellte Human Rights Watch fest, »daß die Menschenrechtsverletzungen der PYD weit weniger extrem und verbreitet sind als die der anderen Konfliktparteien.« Respekt!
Heute muß die PYD wieder harte Kritiken einstecken von Anhängern anderer Parteien und Clans in den drei Kantonen der Kurdenföderation Rojava, weil die Kurdenführer der PYD-Partei keinen Widerspruch dulden wollten. »Aber der militärische Leistungsausweis und die politische Dominanz [der PYD] in den Kurdengebieten ist unbestritten.« (SRF) Der Erfolg schien ihnen recht zu geben. In den letzten Tagen waren YPG-Einheiten sogar nur allzu erfolgreich gewesen.
Die syrische Regierung nämlich machte es den Kurden zum Vorwurf, sich mit den USA verbündet zu haben. Letztlich verdankten es die US-Streitkräfte ihren kurdischen Verbündeten in Syrien, daß sie sich in Rakka und im Umland von Deir ez-Zor mit all seinen Ölfeldern an der irakischen Grenze frei entfalten konnten. Mithilfe der Kurden, und der Rechtfertigung der »Terrorismus-Bekämpfung« hatten die USA in Nordsyrien ein gutes Dutzend Militärstützpunkte und Flughäfen – offenbar auf Dauer eingerichtet. Insofern scheint der Vorwurf der syrischen Regierung durchaus nachvollziehbar. Kein Staat der Welt kann dazu verpflichtet werden, ein Dutzend US-Stützpunkte auf seinem Territorium zu dulden. Überdies sind die beiden oben genannten Gebiete mehrheitlich von arabischen Sunniten bewohnte Städte, wo die Kurdenmilizen weder ein Stammland haben, noch auch gerne gesehen sind. Besitzansprüche auf Rakka und Deir ez-Zor scheinen also seitens der Kurdenmilizen wenig legitim zu sein, wenn diese auch mutig und draufgängerisch die Todesschwadronen des IS daraus vertrieben hatten.
Doch all die vorgebrachten Einwände gegen die Kurden-Föderation machten den schmählichen und illegalen Einmarsch der türkischen Streitkräfte im Kanton Afrin um nichts besser.
Nahost-Korrespondenten in den Medien stellten saudumme Fragen, wie zum Beispiel: »Was will die Türkei?« Die Türkei wollte ganz einfach massenhaft Menschen aus politischen Motiven töten. Alles andere waren wilde Verschwörungstheorien aus Ankara, die nicht eigens hätten erläutert werden müssen. In der FAZ wurde die Theorie aufgestellt: »Mit ihrer Militärintervention will die Türkei mehr erreichen, als nur die syrische Grenze zu sichern[sic!]: Sie will ein Stück des Kuchens, wie es sich auch Russland und Iran bereits gesichert haben« (Rainer Hermann.) Ein wenig mehr Ernsthaftigkeit! Russland besitzt seine Marinestützpunkte Latakia und Tartus bekanntlich schon seit ewigen Zeiten, und der Iran annektierte überhaupt kein Stück des syrischen Bodens. Die Gerüchte über eine iranische Basis für eine 500 Mann-Besatzung in El-Kiswah bei Damaskus wurden nicht bestätigt. Überdies hatte sich die Türkei mit dem Dreieck Azaz-Dscharabulus-Al-Bab in Nordsyrien ohnehin ein fettes »Stück vom Kuchen« gesichert. Die US-Basen in Syrien waren kein Thema bei der FAZ.
Wohl konnte man dazu auch fundiertere Überlegungen lesen, etwa, daß die Türkei durch die Offensive der syrischen Armee um ihre Stellungen im Norden der Provinz Idlib fürchtete, und sich deshalb in Afrin eine stabilere militärische Basis schaffen wollte, indem sie mittels islamistischer Kampfgruppen den Kanton zu annektieren trachtete. »"Allah uh akbar" - mit diesem in Dschihadistenkreisen üblichen Schlachtruf starteten gestern Nacht erste Kampfverbände den Angriffskrieg der Türkei gegen das kurdische Kanton [sic] Afrin. Diese erste Angriffswelle besteht aus islamistischen Rebellengruppen, die aus anderen Regionen Syriens von Ankara eiligst verlegt wurden - und die als Kanonenfutter in die Schlacht geschickt werden. Erst danach sollen türkische Bodentruppen in das kurdische Selbstverwaltungsgebiet einrücken« (Tomas Konicz.)
Nach den Bomben kamen die türkischen Dschihadkämpfer
Am 19. Jänner berichtete Al-Masdar News von Kampfhandlungen in der Siedlung Bulbul nahe der Stadt Afrin. Die Bodenoffensive der türkischen Armee durch das breite Flußtal des Afrin mußte also schon begonnen haben. Das wurde wenig später vom türkischen Premierminister Binali Yildirim bestätigt. »"Die Bodenoperation in Afrin ist um 09.05 MEZ eingeleitet worden", zitiert ihn der TV-Sender NTV am Sonntag.« Deutsche Leopard-Panzer rollten wieder für den Sieg – diesmal unter dem Kommando des türkischen »Rais« Recep Tayyip Erdogan. Daher konnte es nicht verwundern, daß die deutsche Kanzlerin Merkel am 20. Jänner nichts Besseres wußte, als neue Sanktionen gegen den Iran(!) zu »erwägen«, wo doch die Türken soeben das Völkerrecht mit Füßen getreten hatten, und indessen genehmigte die deutsche Regierung nach Information des Spiegel-Magazins einen millionenschweren Rüstungsdeal, um die türkischen Panzer zu modernisieren und in den Werkstätten der deutschen Rheinmetall AG noch gefährlich aufzurüsten.
Diesmal wartete man vergeblich auf einen »Liveticker« über die Lage in Afrin in Online-Medien. Überall in Europa steckte man eher den Kopf in den Sand und machte »business as usual«. Doch mit Hilfe aus den USA konnten die Kurden in Afrin auch nicht rechnen, da man in Washington einzig nur die Kurdengebiete östlich des Euphrat verteidigte, dort wo die US-Militärbasen sind. Ein Sprecher des US-Pentagon hatte schon am 17. Jänner gegenüber einer türkischen Nachrichtenagentur diese Haltung der USA bekräftigt, nämlich »daß Afrin nicht Teil der US-Koalition gegen ISIS sei und man mit diesen Kräften "überhaupt nichts zu tun" habe."« Grünes Licht für Erdogan. – Rote Linien für den Iran.
Fassungslos blickten andere auf die Regierung in Russland, die doch ohne weiteres imstande gewesen wäre, den Luftraum über Afrin für türkische Flugzeuge zu sperren. Doch nichts dergleichen geschah. Man macht es sich wohl zu einfach, wenn man sagt, Russlands Präsident Putin habe mit Erdogan einen »schmutzigen Deal« ausgehandelt, und die Kurden fallengelassen. Weder der syrischen Regierung noch Russland konnte diese Entwicklung gleichgültig sein. In Moskau hatten schon früh Gespräche mit Kurdenvertretern stattgefunden. Die syrische Regierung wollte die Grenzverteidigung im Norden jedoch selbst kontrollieren. »Vor fast einer Woche fand ein Treffen zwischen russischen Beamten und kurdischen Führern statt. Moskau schlug vor, daß der syrische Staat die einzige Instanz wird, die für die nördliche Grenze zuständig ist. Die Kurden weigerten sich. Unmittelbar danach wurden die türkischen Generäle nach Moskau eingeladen. Es war nicht die einzige russische Forderung, daß der syrische Staat die Kontrolle über seine nördliche Grenze habe. Die andere war, daß die Kurden die Ölfelder in Deir ez-Zor zurückgeben. Die Kurden lehnten ab und deuteten an, daß die USA das ohnehin nicht zulassen würden. Das Treffen war nicht gerade ein Erfolg. Die syrische Regierung wies türkische Behauptungen zurück, sie sei über den Einmarsch informiert worden, und verurteilte offiziell den türkischen Schritt. Aber es kann wenig dagegen tun. Seine Armee ist erschöpft und wird an anderer Stelle eingesetzt. Weder Russland noch der Iran würden einen offenen Konflikt mit der Türkei unterstützen« (Moon of Alabama.) Im Kanton Afrin wollten die Kurden also auch im Kriegsfall keine syrischen Streitkräfte ins Land lassen, obwohl die Zusammenarbeit mit denselben syrischen Streitkräften anderswo reibungslos geklappt hatte – bis sich die gemeinsamen Wege dann trennten vor Rakka und Deir ez-Zor.
Daß die Forderungen der Regierung Syriens an die Kurden stichhaltig waren, und nicht bloß auf Starrsinn beruhten, erläutete Karin Leukefeld: »Im Nordosten Syriens sind seit dem Jahr 2014 völkerrechtswidrig mindestens 13 Militärbasen der US-Besatzungsmächte entstanden. Weitere Basen sind im Bau, die US-Armee bereitet die Besatzung des Gebietes vor. Die kurdische PYD und ihre Schwesterorganisation, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bauen ihren Einfluss de facto unter dem Schutz der USA weiter aus. Mit den Provinzen Hasakeh und Rakka kontrollieren sie nicht nur die Kornkammer Syriens, sondern auch große Teile der syrischen nationalen Ölressourcen. Zudem kontrollieren sie die Wasserreserven in dem Gebiet. Insgesamt 14 Dämme entlang der Flüsse Euphrat, Khabur und den Nebenflüssen« (Karin Leukefeld. Was wirklich in den kurdischen Gebieten Syriens vor sich geht.) Abgesehen auch davon, daß Rakka und Deir ez-Zor keine kurdischen Stammgebiete sind, auf denen ihre autonomen Ansprüche gerechtfertigt wären, konnte auch der Vorwurf nicht entkräftet werden, daß sich Kurden von den USA dazu benutzen ließen, um das syrische Staatsgebiet insgesamt aufzusprengen, was aber als aggressive Handlung gegen die Souveränität Syriens gewertet werden mußte. Schon im Hinblick darauf konnten die Forderungen der syrischen Regierung nicht überzogen sein, und umso schlimmer war es, daß sich die Kurden in Moskau zu keiner Einigung durchgerungen hatten. Mit einem wie immer gearteten »schmutzigen Deal« mit Erdogan hatte das kaum zu tun.
Afrin befand sich nun im Würgegriff der Türkei, auf beiden Seiten waren hohe Verluste zu erwarten. »"Wir können Luftschläge in der Stadt Afrin hören", sagte Haivi Mustapha vom örtlichen kurdischen Exekutivrat der Deutschen Presse-Agentur. Es gebe Verletzte« Frankreich und der Iran reagierten am 21. Jänner als einzige Staaten auf die türkische Aggression. In Paris und Teheran forderte man die sofortige Einstellung der Angriffe sowie ein Ende der Gewalt. Durchaus eine vorbildliche Haltung, indes der Rest der diplomatischen Welt im »Comfortably Numb« einer angenehmen Taubheit verharrte, und die Bombenangriffe in Afrin nicht hören wollte. Inmitten dieser Schwerhörigen setzte sich Frankreich für eine dringliche UN-Sondersitzung über die Lage in Syrien und im Kurdenkanton Afrin ein, ohne jedoch damit durchzudringen. Eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates mußte ergebnislos bleiben.
»Einen umfassenden Waffenstillstand und bedingungslosen Zugang für humanitäre Hilfe« wollte nach eigenen Angaben der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu noch am selben Tag vereinbart haben. Die Antwort der Türkei war bitter: »Cavusoglu sagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, wenn Frankreich oder ein anderes Land den Einsatz vor die UN bringe, stehe es nicht als Verbündeter an der Seite der Türkei, sondern vielmehr an der Seite einer Terrororganisation und werde dementsprechend von Ankara behandelt. Er betonte aber auch die guten Beziehungen zu Paris und sagte: "Wir erwarten von Frankreich, dass es uns in einer solchen Situation unterstützt"« (dpa.)
Aus dieser Note ging nur eines klar hervor, nämlich daß man in Ankara den Verstand verloren haben mußte! Die Autorin Hamide Yiğit stellte im Kurdistan Report fest: »Es fällt schwer davon auszugehen, daß der AKP-Strategie für Idlib irgendwelche rationalen Überlegungen zugrunde liegen. Zuallererst bedeutet das enge Bündnis mit der Al-Nusra-Front, dass die Türkei zu Beginn der großen Idlib-Operation als Schutzschild für sie fungieren wird. Dieser Schritt würde bedeuten, dass sich die AKP [Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung] in diesem Krieg auf die Seite der Dschihadisten schlägt. Oder die Türkei beteiligt sich an der Operation Syriens und Russlands gegen Al-Nusra, wodurch sie sich zu deren Angriffsziel macht. Unparteiisch zu bleiben ist für sie unmöglich. Ihre zu löchrigen Sieben verkommenen Grenzen wird sie nicht schützen können und den Zustrom von Dschihadisten in die Türkei kann sie auch nicht unterbinden. In einem noch schlimmeren Fall kann sie zum Ziel von Racheanschlägen der Nusra-Front werden. In jedem Szenario ist es die Türkei, die den höchsten Preis zahlt. Während sie also in dieser tödlichen Klemme steckt, versucht die AKP derzeit alle Aufmerksamkeit auf Efrîn zu lenken und so zu tun, als stehe sie in einem Krieg gegen den Aufbau kurdischer Strukturen. Aber wir müssen feststellen, dass dies nur Rhetorik ist und nichts mit den tatsächlichen Verhältnissen zu tun hat. Denn in Syrien hat die Phase begonnen, in der mit den Kurden gemeinsam um eine politische Lösung gerungen wird und alle auf die Zeit nach Idlib warten! [...] Alle Kräfte, die ihre Vorstellungen in Syrien durchzusetzen versuchen, sind sich dessen bewusst, dass sich der Stellvertreterkrieg seinem Ende nähert« (Lösungsoptionen mit den Kurden, Kurdistan Report, Jänner 2018.)
Demnach sollte die Türkei aus bloßer Ratlosigkeit in den Krieg gezogen sein? Warum nicht gar! Schließlich konnte Erdogan nicht jedes Jahr in der Türkei einen gescheiterten Putschversuch inszenieren, das schadete auf Dauer den Aktien. Wenn Erdogan daran gelegen war, mit dem Einmarschversuch in Afrin seine innenpolitische Position zu stärken, war ihm das auch restlos gelungen: »Nicht nur die Sozialdemokraten, fast alle Parteien [in der Türkei], mit Ausnahme der prokurdischen HDP, begrüßen Erdogans Entscheidung, Truppen nach Syrien zu schicken. Der gemeinsame Feind PKK/YPG eint sie« (Der Spiegel.)
Trotz aller Drohungen wollte Erdogan einen direkten Konflikt mit dem NATO-Partner USA nicht riskieren. – Ein Angriff auf Gebiete im Osten des Euphrat oder das vorgelagerte Manbidsch war ausgeblieben. Da die USA nicht wollen, daß die syrische Regierung wieder Kontrolle über die Provinz Afrin bekommt, wird es die US-Strategen recht kalt gelassen haben, ob die Türkei das Gebiet annektiert. Somit konnte auch die propagierte These einer »Abnabelung« der Türkei von der NATO nicht bestätigt werden, und ebensowenig, daß Russland die Türkei aus der NATO herauslösen wolle.
Stattdessen drohte die kurdische PKK, den Krieg auf türkische Städte auszuweiten, was nur der Kriegspropaganda Erdogans von Nutzen sein konnte, aber zur Konfliktlösung nichts beitrug.
Am Ende des Tages erließ die kurdische YPG eine Erklärung: »Am 21. Jänner um 8 Uhr kam es bei dem Versuch türkischer Truppen, die Grenze zu überschreiten, zu Gefechten mit unseren Kräften. Die türkische Armee mußte sich aufgrund unseres Widerstandes zurückziehen. [...] Vertreter des türkischen Staates und der türkischen Medien verbreiten Unwahrheiten. Weder die türkische Armee noch die mit ihr verbündeten Gruppen haben es geschafft nach Afrin vorzudringen.« Gleichwohl waren auch an diesem Tag wieder Menschen getötet worden, darunter 27 Zivilisten und Dorfbewohner sowie ein siebenjähriges arabisches Kind mit dem Namen Yeyha Hemedê Eli. Die syrische Regierung zeigte sich mittlerweile entgegenkommend – indem sie der YPG eine Straße von Aleppo nach Afrin öffnete, damit die Kurdenmiliz Verstärkung anfordern konnte. »Die Läden in der Stadt Afrin wurden wie jeden Morgen geöffnet und anstatt sich verängstigt einzuschließen, gehen die Menschen auf die Straßen und protestieren gegen die Angriffe der Türkei« (ANF News.)
Am 22. Jänner, nach einem neuerlichen Versuch des türkischen Militärs, sich in einigen Dörfern festzusetzen und die Region zu besetzen, ging die kurdische YPG in die Offensive, und startete einen Gegenangriff, mit dem Resulat, daß »das türkische Militär und seine Milizen aus allen Brückenköpfen, die sie in der Region Efrîn anlegen wollten, vertrieben worden sind. [...] Das türkische Militär konnte gegen unsere Kräfte auf dem Boden keinen Erfolg erringen und richtete sich wieder einmal gegen die Zivilbevölkerung. Bei Luftangriffen auf das Flüchtlingslager Rubar, das Dorf Cilbirê in der Region Şêrawa und verschiedene andere Orten in Efrîn wurden viele Zivilist*innen getötet. [...] Außerdem nahm der türkische Besatzerstaat und mit seinen Militär den Kreis Reyhanli in der Provinz Hatay auf seinem eigenen Territorium unter schweren Artilleriebeschuss und gab unseren Kräften die Verantwortung dafür, um seine Angriffe auf Efrîn zu rechtfertigen« (Generalkommandantur der Demokratischen Kräfte Syriens.) Nicht zuletzt wurden auch diese Zivilisten aus den zuverlässigen Rohren deutscher Leopard-Kampfpanzer beschossen. Rund zwei Drittel ihrer Rüstungsgüter und Waffen hingegen importierte die Türkei aus den USA.
»Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Moscheekuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« Diese Zeilen des türkischen Dichters Ziya Gökalp, die Erdogan 1997 damals noch als Bürgermeister von Istanbul an den Beginn seiner Karriere stellte, sind hinlänglich bekannt. Nun wurde in türkischen Moscheen und auf allen Minaretten inbrünstig für die Niederlage der Kurden gebetet. Doch der Versuch der Türkei, den kurdischen Kanton Afrin zu annektieren, war zunächst einmal gescheitert.
Vielleicht sollte der türkische Versuch auch scheitern, und Erdogan war nur daran gelegen, das Militär zur Stärkung seiner innenpolitischen Position eine Weile in Afrin beschäftigt zu halten, denn die Operation Olivenzweig versprach blutig zu werden und lange anzudauern. Dafür sprechen die Streitigkeiten zwischen türkischen Militärs und ihren verbündeten Milizen, die sich am vierten Tag der Operation, am 23. Jänner, ereigneten: »In Azaz gab es Probleme zwischen den von der Türkei als „Syrisches Nationales Heer“ bezeichneten Milizen und dem türkischen Militär. Nach lokalen Quellen schrien die Milizionäre die Armeevertreter an: „Bis jetzt haben wir 490 Tote und Verletzte. Warum veröffentlicht ihr die nicht in der Presse?“, die türkischen militärischen Verantwortlichen und MIT-Agenten reagierten „Wir haben sechs Milliarden Dollar in euch gesteckt, warum kämpft ihr nicht?“. Aufgrund der Verstimmung zwischen beiden Seiten eröffneten einige Gruppen das Feuer auf türkische Militärfahrzeuge. Diese reagierten mit Schüssen in die Luft.« (AFN)
Unterstützung der syrischen Streitkräfte angefordert
Wieder einen Tag später geisterte eine Meldung von Al-Mayadeen TV durchs Netz, der zufolge ein YPG-Beamter in Afrin sich dafür ausgesprochen habe, die syrischen Streitkräfte zu Hilfe zu rufen. Mit den USA wolle man im Kanton Afrin niemals etwas zu tun gehabt haben. Mittlerweile hatten in Afrin auch Jeziden und Christen vor den türkischen Dschihadisten Angst bekommen, während man seitens der Türkei eine Feuerpause erbeten hatte, um Leichen zu bergen, und Dutzende Freiwillige aus USA, Großbritannien und Deutschland den bedrängten Kurden zu Hilfe kamen.
Am 26. Jänner fanden die obigen Gerüchte ihre Bestätigung: Der Ko-Vorsitzende des Exekutivrats von Afrin, Othman al-Scheich Issa, hatte an die syrische Regierung um Beistand appelliert. (Obwohl an den Tagen zuvor in verschiedenen kurdischen Blättern ein angeblicher »schmutziger Deal« zwischen dieser, Erdogan und Russland angeprangert worden war.) Der Kurdenführer al-Issa erklärte nun völlig zurecht: »Jeder Angriff auf Afrin ist ein Angriff auf die Souveränität des syrischen Staates.« Sein Apell an Syrien lautete daher: »Die Regierung muß sich der türkischen Aggression entgegenstellen und klarmachen, daß sie keine türkischen Flugzeuge im syrischen Luftraum duldet. Wir rufen den syrischen Staat auf, seinen Verpflichtungen nachzukommen und die Armee zu entsenden, um die Grenze zur Türkei gegen Angriffe der türkischen Besatzer zu schützen.« Dieser Forderung aber hätte die Assad-Regierung, deren Streitkräfte überdies in Idlib gebunden waren, nur mit Hilfe der russischen Luftwaffe nachkommen können, und im Kreml hatte man sich vorerst zum Stillhalten entschlossen, vermutlich um die geplanten Syrien-Gespräche im russischen Sotschi und deren diplomatischen Erfolg nicht vorschnell zu gefährden.
Unterdessen verhandelten Türkei und USA über eine »Pufferzone« an der türkisch-syrischen Grenze. Die Zone sollte zehn Kilomer breit sein, und befürchtete kurdische Angriffe auf die Türkei verhindern, wobei sich die US-Verhandler wieder anhören mußten, trotz früherer Zusagen die Kurden (im Kampf gegen den IS) weiterhein mit Waffen beliefert zu haben. Frechheit siegt!
An der Front hingegen war der Sieg noch nicht ausgefochten. Ebenfalls am 26. Jänner begab sich der türkische Präsident Erdogan zu einem Truppenbesuch an der Front. Dort erging er sich in einem schier unerträglichen Siegesgeheul durchsetzt mit Durchhalteparolen, die an der Front auch umso nötiger wurden, als der türkische Angriffskrieg endgültig ins Stocken kam. Nach einer knappen Woche war »die türkische Armee von einem zügigen, breit angelegten Vormarsch weit entfernt. Bislang sind ihre Einheiten nur an sechs Stellen wenige Kilometer weit in den Kanton Afrin vorgedrungen und haben nur ein knappes Dutzend Dörfer erobert« (Der Spiegel.)
Acht Tage nach dem türkischen Einmarschversuch kam es an vielen Orten zu heftigen Auseinandersetzungen mit türkischem Militär, und die kurdischen SDF boten in einer Bekanntmachung allen »zwangsrekrutierten Söldnern des türkischen Staates, die sich zur Kapitulation bereit erklären, an ihrer Seite die Sicherheit an« (ANF.) Das unsinnige Blutvergießen in Afrin dauert an, während es keine zuverlässige Angaben über Opferzahlen gibt. Hände weg von den Kurden! – Dieser Krieg ist kontraproduktiv und anscheinend auch zwecklos.