Noch befindet sich das Turnier in der Gruppenphase. Die bange Frage lautet: Was soll erst werden, wenn die K.-o.-Runden beginnen? Wenn sich die Fieberkurve langsam, aber sicher der Maximaltemperatur nähert? Wenn all die nützlichen Fußballidioten des russischen Machthabers sich in eine bedenkliche, massenpsychotische Raserei hineinsteigern? Wer sollte, wer könnte dann noch Einhalt gebieten? Müssen wir womöglich auf ein politisches Wunder hoffen, das dem fußballerischen den Garaus macht?
Wir können von Glück sagen, dass wir in Deutschland noch über ein paar nüchterne Publizisten verfügen, die mit bewundernswertem Mut und unbezweifelbarer Kompetenz diesem ganzen Brot-und-Spiele-Wahnsinn mannhaft entgegentreten, die sich nicht anstecken lassen, die immun sind.
Richard Herzinger ist einer von ihnen. Nie war er so wertvoll wie heute.
Der Genannte schreibt für „Die Welt“. Und er tut es aus tiefer innerer Überzeugung. Doch jetzt, da der Ball rollt, hat er es schwer. In diesen fußballverrückten Tagen dringen triftige politische Argumente nicht mehr durch. Kein Wunder, dass Herzingers Nerven blank liegen. Doch statt aufzugeben, veröffentlichte er am geschichtsträchtigen 17. Juni einen Kommentar, in dem er seine ganze Wut und Frustration einfach mal raus ließ. Das hat ihm und dem Rest der Redaktion (und wer weiß, wem sonst noch) zweifellos gut getan.
Unter dem Titel „Eigentlich könnten die Deutschen froh sein, früh auszuscheiden“ gelang Herzinger eine Blutgrätsche der Extraklasse. Dass seine tollkühne Einzelaktion dem Spiel noch die entscheidende Wendung geben könnte, ist allerdings nicht anzunehmen. Möglich sogar, dass sein Schuss nach hinten losgeht und zum Eigentor wird. Sein Plädoyer fürs frühe deutsche Ausscheiden wird jedenfalls schwerlich die ungeteilte Zustimmung Jogi Löws und Oliver Bierhoffs finden, von den eingefleischten Fans ganz zu schweigen.
Sonderlich überraschen kann das nicht. Zumal Herzinger in einer ganz anderen Liga spielt. Er begründet seinen Wunsch denn auch nicht mit sportlichen Argumenten, sondern – wenn ich so sagen darf – mit unsportlichen.
Es wird nicht mehr lange dauern, schreibt er missmutig, dann „dürften alle kritischen Berichte und Analysen über die Begleitumstände der Fußball-WM in Russland in den Hintergrund gerückt oder ganz verebbt sein“. Wer sich untersteht, weiterhin vor den „fatalen Folgewirkungen“ des „politisch höchst bedenklichen Spektakels“ zu warnen, „wird sich bald in die Ecke des moralinsauren Spaßverderbers oder prinzipienreiterischen Don Quichottes gedrängt sehen“. Wenn „das Weltturnier seine rauschhafte Ausstrahlung entfaltet“ (also mit jedem weiteren Tor), wird die ohnehin kleine „Ablehnungsfront vermutlich bröckeln“.
Geradezu symptomatisch erscheint Herzinger die Haltung der deutschen Kanzlerin. Sie finde offenkundig nichts dabei, gegebenenfalls „Putins Prestige-WM“ oder – wie es an anderer Stelle heißt – dessen „megalomane WM … durch ihre Anwesenheit zu nobilitieren“.
Doch damit, so Herzingers unwiderstehlicher Einwand, würde die Kanzlerin den „Vorherrschaftsanspruch des Kreml-Chefs“ legitimieren. Denn es liege „im Kalkül des russischen Autoritarismus (...) die Welt über seinen wahren Charakter zu täuschen“.
Lobenswert findet Herzinger immerhin, dass Merkel nicht zur Eröffnungsfeier angereist ist und somit „den zynischen Worten des Befehlshabers“ nicht lauschen musste. Ganz im Unterschied zum Chef der „korruptionsgeschüttelten“ FIFA, den unser Autor – zumindest indirekt – der „liebedienerischen Lobpreisungen des Despoten“ zeiht.
Vor diesem unerfreulichen Hintergrund ist der Wunsch des „Welt“-Kommentators, die DFB-Auswahl möge möglichst früh ausscheiden, durchaus verständlich. Auch wenn es viel Fantasie erfordert: Man stelle sich einen kurzen Augenblick vor, Jogis Mannen schafften es ins Finale, verließen das von nordkoreanischen Arbeitssklaven errichtete Stadion am Ende sogar als Sieger.
Die zwangsläufige Folge wäre, „dass dem deutschen Mannschaftskapitän von Putin der Pokal überreicht wird, während führende Repräsentanten der deutschen Demokratie auf der Ehrentribüne jubelnd Applaus spenden“. Das lässt Herzinger zu Recht „erschaudern“. Und treffend fügt er hinzu: „Solche Bilder könnten sich einmal als bleibender historischer Schandfleck für Politik und Sport unseres Landes erweisen.“
Der Kommentator erinnert nachdrücklich an „die besondere Funktion (...), die globale Sportevents in Putins Vorstellungswelt erfüllen“. Sie gehe weit über das hinaus, was „man in dieser Hinsicht von Diktaturen gewohnt ist“. „Große internationale Events, bei denen ihm die ganze Welt die Aufwartung macht, betrachtet Putin als Beweis für die internationale Akzeptanz seiner Aggressionspolitik und als Ermächtigung, sie ungestraft weitertreiben zu können.“
Herzinger kennt viele zwingende Gründe, Russland in diesen unheilschwangeren Tagen fernzubleiben. Ich möchte sie hier nicht alle wiederholen. Berufene Münder haben sie in den vergangenen Wochen immer und immer wieder aufgezählt, oft sogar in derselben Reihenfolge. Aber das Publikum, ihm voran das Fußballpublikum, hört schon seit Tagen nicht mehr hin. Eine bittere, eine alarmierende Erkenntnis.
Jedenfalls: Die Tatsache, dass sich Angela Merkel „mit solcher Nonchalance“ über seine Argumente hinwegsetzt, gilt Herzinger als „ein bedrückendes Indiz für die schwindende Bereitschaft, den kriminellen Anmaßungen des Kreml noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen“.
Dem kann man nur beipflichten. Die Geschichtsvergessenheit führender westlicher Politiker ist in der Tat frappierend.
Zumal es doch erst vier Jahre her ist, „dass der Kreml-Herr noch während der Spiele in Sotschi die militärische Eroberung der Krim anordnete, die in ihre Annexion mündete“.
Kein Zufall, so möchte ich hinzufügen, dass die Worte „Krim“ und „kriminell“ etymologisch verwandt sind. Es sei gut möglich, meint Herzinger, dass der Moskauer Despot nach seiner triumphalen WM wieder etwas ganz Ähnliches im Schilde führt. Soll heißen: Nach dem letzten Schlusspfiff ist mit weiteren Eroberungen zu rechnen.
Werden die westlichen Demokratien die Kraft finden, dem neuen Zaren endlich die Stirn zu bieten und ihm das Handwerk zu legen? Herzinger ist zutiefst pessimistisch: „Wir stehen vor einer Periode massiver Anpassung Europas an den neoimperialen Vorherrschaftsanspruch von Putins Russland. Die Fußball-WM könnte der spektakuläre Auftakt dazu sein.“
Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Selbst Polen ist – zumindest in sportlicher Hinsicht – noch nicht verloren. Auf wen könnten wir in dieser prekären Lage noch bauen? Auf Hajo Seppelt? Er ist gar nicht erst nach Russland gefahren, weil er dort, so Herzinger, als „Staatsfeind“ gilt und „um Freiheit und Leben fürchten“ muss.
Bliebe der ukrainische Regisseur Oleg Senzow, der sich in russischer Haft befindet und in einen Hungerstreik getreten ist. „Da sich sein Gesundheitszustand bedrohlich verschlechtert“, berichtet Herzinger, „muss mit seinem Tod während der WM gerechnet werden.“
Es ist dies, wie man leider zugeben muss, eine unvorsichtige, missverständliche Formulierung – ganz untypisch für Herzinger. Er befürchtet Senzows Tod nicht etwa, nein, er rechnet mit ihm. Und zwar noch „während der WM“. Auch eine Zwischenüberschrift des „Welt“-Kommentars lautet: „Wird Senzow während der WM sterben?“
Keine Frage: Die notorischen Putin-Trolle und –Versteher werden diese ein wenig fahrlässige Aussage als Steilvorlage zu nutzen wissen. Sie schrecken bekanntlich vor keiner noch so infamen Unterstellung zurück. Auf die ihnen eigene, perfide Weise werden sie andeuten, dass Herzinger insgeheim, klammheimlich auf den Tod Senzows hoffe. Also auf jenes politische Wunder, von dem eingangs die Rede war und das dem Kreml-Herrn seine ausgelassene Fußball-Fete so richtig vermasseln würde.
Muss man eigens betonen, wie abwegig, wie boshaft ein derartiger Vorwurf ist? Herzinger hat selbstverständlich nichts dergleichen gesagt oder im Sinn. Im Gegenteil, er hat eine nur zu berechtigte Mahnung ausgesprochen, die da lautet:
Auch die für ihn so prestigeträchtige WM wird den russischen Machthaber nicht davon abhalten, über Leichen zu gehen.
Und wir, die Fans, sollten unsere Euphorie beizeiten zügeln, damit es kein allzu böses Erwachen gibt.
Wie wahr, wie wahr! Und doch zeigt Herzingers unbedachte Formulierung auch, welche Tücken der Überlebenskampf westlicher Demokratien bereithält. Die Lehre: Gegen einen so skrupellosen Gegner wie diesen dürfen wir uns keine Fehler erlauben. Es genügt nicht, bloß die Offensivkräfte zu stärken. Wir müssen auch unser Abwehrverhalten optimieren. Jürgen Klopp kann ein Lied davon singen.