Wir feiern den Tag der deutschen Einheit, während die Gesellschaft in der Corona-Krise gespaltener denn je scheint. Umso hilfreicher ist vielleicht die Erinnerung an die Idee der Einheit. Eine der Hauptaufgaben für eine lebenswerte Zukunft besteht darin, uns trotz unserer unterschiedlichen Meinungen und Prägungen als Menschen zu begegnen und uns nicht trennen zu lassen.
Der Mauerfall und die darauffolgende Wiedervereinigung wirkten damals und erscheinen auch heute noch wie ein Wunder: Wildfremde aus beiden Teilen Deutschlands fielen sich in die Arme, während die Welt gerührt zusah. Aufbruchstimmung und Euphorie.
Beides ist inzwischen längst verflogen. Verschiedene Systeme und Ideologien prallten aufeinander, Profiteure verdienten sich eine goldene Nase, während viele Menschen in den neuen Bundesländern ihre Arbeitsplätze und ihr Selbstwertgefühl verloren. Die Westdeutschen finanzierten mit ihren Steuern die Restaurierung ostdeutscher Städte, während sich in westdeutschen Kommunen Schlaglöcher und marode Brücken breit machten, so zumindest der gängige Eindruck (1, 2).
Die Technologien entwickelten sich weiter, und inzwischen werden wir mit Nachrichten und Informationen bombardiert, die bei uns den Eindruck erwecken, gut informiert zu sein und zu wissen, was in der Welt geschieht. Doch was nutzt uns vermeintliches Wissen über Geschehnisse und Missstände am anderen Ende der Welt, wenn wir noch nicht einmal vor der eigenen Haustür richtig aufräumen? Lenken sie uns nicht allzu oft vom Wesentlichen ab, während wir ihren Wahrheitsgehalt aufgrund der Ferne und Komplexität kaum überprüfen können?
So wissen wir zum Beispiel über die Menschen um uns herum und im eigenen Land sehr wenig, ohne dass viele von uns es überhaupt merken. Hätte es nicht einen viel größeren Einfluss auf unsere Gesellschaft, wenn wir unseren Fokus auf unsere eigenen Probleme lenken — zumindest ab und zu — und dadurch wirklich etwas verändern?
Ein Schritt in diese Richtung ist das neue und dritte Rubikon-Buch „Aufgewachsen in Ost und West“, das mit einem Aufruf am 9. November 2019 begann. In einem Artikel lud der Rubikon die Leser dazu ein, ihre eigenen Geschichten mitzuteilen — und zwar aus der DDR und aus der BRD vor 1990.
Als ich diesen Appell damals las, fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich entgegen meiner Selbstwahrnehmung völlig ignorant war. Katrin McClean schrieb:
„Momentan kann man ja fast das Gefühl bekommen, die BRD hat es vor 1989 überhaupt nicht gegeben oder zumindest hat sich nicht das Geringste verändert. Alles, was an Beiträgen zum bevorstehenden Jahrestag des Mauerfalls kommt, sind doch fast nur Geschichten über den Osten.“
Ich stamme auch aus der DDR und es befremdet mich, wenn ich mir meine Geburtsurkunde aus einem Land ansehe, das es gar nicht mehr gibt. Ich assoziiere die DDR mit schönen Kindheitserinnerungen auf dem Zeltplatz im Spreewald und an der Ostsee. Von den schlimmen Erfahrungen einer Diktatur bekam ich nicht viel mit. Dieses geschichtliche Ereignis erschien mir in meiner Biografie nie außergewöhnlich, bis ich nach Frankreich zog und feststellte, dass das ohne den Mauerfall nicht möglich gewesen wäre.
Irgendwie habe ich mit meinen gleichaltrigen Freunden aber auch der Familie allgemein nicht viel über die Wiedervereinigung gesprochen. Sie war damals eben einfach „die neue Normalität“. Ich bekam mit, wie in meinem Umfeld vor allem junge Leute keine Perspektiven hatten und empfand den „neuen Osten“ als grau und deprimierend, was auch mich am Ende mit dazu bewegte, das Weite zu suchen.
Gleichzeitig war mir wenig bewusst, dass die Medien viel häufiger negative Rückblicke auf die DDR zeigten und zeigen, während ein kritischer Rückblick auf die BRD vor 1989 viel seltener ein Thema ist.
Die ganzen Hintergründe, wie es zur Wende kam, was auf wirtschaftlicher und politischer Ebene passiert war, außer dem wie ein Wunder wirkenden Ende des Kalten Krieges, erfuhr ich erst, als ich unsere Rubikon-Sonderausgabe „Der Wiedervereinigungs-Mythos“ zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls las. Doch die menschliche Ebene schienen wir alle kollektiv zu übersehen.
Der Aufruf des Rubikon änderte dies und nun ist es vollbracht. Die Geschichten aus Ost und West sind in einem Buch vereint: „Aufgewachsen in Ost und West“ wird heute veröffentlicht und Katrin McClean stellt das Buch bei KenFM „Im Gespräch“ vor.
Erzählen statt Streiten
McClean beschreibt, wie ihr sogar in der Friedensbewegung auffiel, dass Ossis und Wessis mit Klischees im Kopf darüber stritten, wie die Vergangenheit in DDR und BRD nun „wirklich“ war. Etwa: „Ihr habt doch total unter der Stasi-Diktatur gelitten.“ und „Ihr habt euch von eurer antikommunistischen Propaganda verblöden lassen.“
Auf einem Friedensfestival machte sie dann die Erfahrung, dass sich die Menschen die Zeit nahmen, das Gespräch zu suchen und einander zu erzählen, was sie wirklich erlebt hatten. Mit dem Ergebnis, dass sie sich auf diese Weise besser verstehen konnten. Und so entstand die Idee zu dem Buch-Projekt.
Unterschiedliche Gesellschaften, unterschiedliche Bildungs- und Erziehungssysteme
Die persönlichen Geschichten, die jetzt veröffentlicht werden, machen deutlich, wie unterschiedlich die Generationen der 1950er bis 1970er Jahre in Ost und West aufgewachsen sind.
In der BRD arbeiteten alte Nazi-Lehrer zum Teil in den Nachkriegsschulen weiter. Es gab keine entscheidende Bildungsreform, das alte Bildungssystem wurde im Wesentlichen mit Änderungen übernommen.
Die Betreuung der Kinder lag in erster Linie bei der Mutter, die zumeist Hausfrau war.
In der DDR gab es hingegen eine grundlegende Bildungsreform und neben der reformierten „polytechnischen“ Wissensvermittlung wurde die sozialistische Erziehung etabliert, die mit der Pionierorganisation und FDJ für viele Gemeinschaftserlebnisse sorgte, „Kollektivgeist“ stärkte und die sozialistische Idee vermittelte. Mütter gingen arbeiten. Auch extreme Einkommensunterschiede gab es im Gegensatz zur BRD in der DDR nicht.
Diese unterschiedliche Bildung und Erziehung hatten schließlich auch die ostdeutschen Intellektuellen und Akademiker geprägt. Ken Jebsen erwähnt deren „Verschwinden“ und hofft auf eine „Rückkehr“ der ostdeutschen Intellektuellen. Katrin McClean erinnert ihn daran, dass 1990 zirka 90 Prozent der Akademiker aus ihren Positionen entlassen wurden, und fragt, wo die jetzt herkommen sollen?
Keine Aufarbeitung des Faschismus in der DDR?
Auch das Vorurteil der mangelnden Aufarbeitung des Faschismus in der DDR wird thematisiert. Ein Thema, das die Herausgeberin kurz die Beherrschung verlieren lässt. Schon 2019 hatte sie im Aufruf geschrieben:
„Vergessen die Tatsache, dass die Überwindung des Faschismus die grundlegende Ideologie des DDR-Sozialismus war, und dass fast alle Nazis vor den strengen Entnazifizierungsprogrammen im Osten geflohen waren. Geleugnet, dass unsere Erziehung und Schulbildung zutiefst geprägt waren von der Erinnerung an die Opfer des Faschismus und an die Gräueltaten der Nazis, und dass man früher einmal genau das der DDR als ‚Propaganda‘ vorwarf. Ignoriert, dass die Aufarbeitung der Nazi-Zeit zum DDR-Kulturgut gehörte, dass auch die Frage des Mitläufertums wieder und wieder Thema berühmter DEFA-Filme war. Nichts davon gab und gibt es für diese Frau an unserem Nachbartisch, für sie gibt es nur noch diese angelesene Behauptung, die sie mit wichtiger Miene wiederholt — und die mir die Sprache verschlägt, weil sie mit wenigen Sätzen mein ganzes Selbstverständnis für null und nichtig erklärt.“
Also geht sie im Gespräch mit Jebsen ausführlich darauf ein, wie viel Literatur sie in der Schule zu diesem Thema gelesen hat und wie sehr sie die Erziehung zu Friedenswillen und Verantwortungsbewusstsein geprägt hat.
Auf die Frage, wie es zum Rechtsruck der Ostdeutschen kam, beschreibt sie beispielhaft die Situation der DDR-Jugendlichen, die nicht mit den besten Voraussetzungen ausgestattet waren und plötzlich erleben mussten, dass sie keine Lehrstelle bekamen. Etwas, das es in der DDR nicht gab.
Gerade jetzt hätten diese jungen Menschen pädagogische Betreuung gebraucht, doch die Jugendclubs wurden geschlossen. Zur selben Zeit kamen führende Neonazis wie Michael Kühnen in den Osten und organisierten Angebote für Jugendliche in der DDR. Westdeutsche Neonazis übernahmen zum Teil sogar die Jugendzentren. Sie boten Gemeinschaftsgefühl und einen „Ersatz“ für ein verlorenes Ideal. Nationalstolz anstatt internationaler Solidarität.
Die Geschichten mancher westdeutscher Autoren im Buch vermitteln zudem eindrücklich, dass es gerade die BRD war, in der sich der Geist der Nazi-Zeit noch lange in den Familien bis hinein in die Schulen halten konnte.
Zur heutigen Situation der Kultur
McClean hat den Eindruck, dass sich die Literatur der renommierten Verlage weit von der aktuellen Lebensrealität der meisten Menschen in Deutschland entfernt hat, dass sie mit Vorliebe einen kritischen Blick auf andere Gesellschaften wirft und teilweise elitär und abgehoben wirkt.
Deshalb tritt sie dafür ein, dass wir ebenso wie einen freien Journalismus auch eine neue freie Kultur brauchen, die sich nicht nur in dem engen ideologischen Korridor bewegt, den man heute in Büchern und Theatern erlebt, und die auch mehr aus der Basis der Gesellschaft kommt. Eine Literatur von unten. Mit „Aufgewachsen in Ost und West“ geht für sie und ihren Mitherausgeber Torsten Haeffner ein Herzensprojekt in Erfüllung.
Rückblick Wende
Die aktuellen Demonstrationen für die Zurückgewinnung der Grundrechte und der durch sie gesicherten Freiheiten erinnern viele an die Montagsdemos in der DDR kurz vor dem Mauerfall. McClean und Jebsen sprechen darüber, dass es einen großen Unterschied gab zwischen den Demonstrationen der DDR-Opposition vor und den Massendemonstrationen nach dem Mauerfall, bei denen man den Eindruck hatte, dass diese eigentlich nur noch von den Medien der BRD gelenkt wurden. Dabei wurden damals eine Reihe von Lügen verbreitet, etwa die vom angeblichen „Bankrott“ der DDR, die schließlich zur übereilten Währungsunion führte, die wiederum den tatsächlichen Zusammenbruch der Ost-Betriebe herbeiführte.
McClean zieht eine Parallele zu Corona-Zeiten und stellt die These auf, dass wir auch heute wieder mit Zahlentricks (so wie die falsche Bankrott-Rechnung) in eine Gesellschaftstransformation manövriert werden. Das heißt, mit unzulässig interpretierten Corona-Statistiken wird die rasante weitere Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche und soziale Isolation als „neue Normalität“ eingeführt.
Einladungen zu Lesungen herzlich willkommen!
Am Ende weist die Herausgeberin von „Aufgewachsen in Ost und West“ darauf hin, dass viele Autoren des Buches bereit sind, das Buch auf Lesungen vorzustellen. Solche Lesungen sind als Einladung an das Publikum gedacht, im Anschluss an die Lesung — sofern sie es wünschen — auch von eigenen Erfahrungen aus der Zeit bis 1990 zu erzählen. Lesungen als Begegnungsstätte, um das Zuhören und wirkliche Interesse aneinander in den Fokus zu rücken und die Menschen mit der Zeit wirklich wieder zu vereinen.
Mitherausgeber Torsten Haeffner, der wegen fehlender Kapazitäten einsprang, als das Projekt auf der Kippe stand, beschreibt sein Anliegen und somit auch dieses Buch perfekt:
„Zum einen schien es mir wichtig, dieses Projekt zum Erfolg und zu Ende zu führen, weil der Dialog zwischen Ost und West dadurch gefördert werden kann. Denn: Was führt mehr zusammen als einander erzählte Geschichten? Der zweite Grund waren natürlich die Erzählungen aus dem Osten. Die habe ich verschlungen (und dann lektoriert). Viele dieser Schilderungen brachten mir den Osten noch näher, ja manchmal empfand ich Wehmut, etwa wenn ich las, wie gut die Leute in der DDR oft zusammenhielten, dieses Gemeinschaftsgefühl (das ich im Westen so ausgeprägt nie oder nur selten erfuhr), aber auch die im Vergleich zum Westen anders gewichteten Lebensprioritäten der Menschen, das alles faszinierte mich schon sehr. Der dritte Grund mag profan anmuten, ist es aber nicht: Ich dachte mir: Es gibt Buchprojekte, die bringen keinen Rappen, aber trotzdem muss man sie machen, weil sie wichtig sind.“
KenFM: Im Gespräch mit Katrin McClean („Aufgewachsen in Ost und West — 64 Geschichten für eine wirkliche Wiedervereinigung“)
RT Deutsch: Autorin Katrin McClean im Gespräch: „Durch Corona zurück zur DDR?“
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.welt.de/wirtschaft/article10032438/Die-Ostdeutschen-haben-die-Einheit-selbst-bezahlt.html
(2) https://www.dw.com/de/aufbau-ost-das-glas-ist-halb-voll/a-17131581