Warum ist es nicht nahe liegend, dass Guiseppe Conte, bis vor kurzem Italiens Regierungschef, nunmehr eher Alleinherrscher, einen solch kompetenten Manager an die Spitze der 16-köpfigen Task Force zur Bekämpfung der COVID19-Epidemie beruft? Vielleicht, weil er von Medizin, Biochemie, Virologie, Epidemien, Katastrophen- und Zivilschutz, also von solchen Dingen, die man zur Bekämpfung einer Pandemie vielleicht brauchen könnte, wenn man die Sache naiv betrachtet, nach allgemeinem Kenntnisstand keinerlei Ahnung hat.
Nein, die Kompetenz des Harvard-Absolventen Colao ist seit Mitte der 1990er Jahre voll und ganz die Telekommunikation. Rasch stieg er in die Führungsränge von Omnitel und wurde 2008 zum CEO von Vodafone. 2018 nahm der 58-jährige seinen Abschied und ist seither, wenn man googelt, wohl Pensionär.
Das ist doch ideal, wenn Conte einen solchen Top-Mann, der zudem noch Zeit hat und mit dem Kern der Krise auch noch heimatlich verbunden ist, an seine Seite stellen kann. Spannend wäre zu wissen, wer ihn auf die Idee gebracht hat. Denn wirklich populär ist Colao in Italien nicht. Die Zeitungen mussten, als die Task Force an Karfreitag vorgestellt wurde, von der Basis auf erklären, was das für ein Mann ist, selbst die Lokalpresse in Brescia.
Ja, und warum ist Vittorio Colao dann wirklich der absolut ideale Mann?
Meint da einer, die COVID-19-Krise werde über optimierte medizinische Ausrüstung, Schutzkleidung, Atemmaske, Social Distancing gelöst? Indem man vielleicht endlich die Alten und Kranken, die zu mehr als 90 Prozent die Todesstatistik füllen, in Italien wie in Deutschland, nicht mehr durch Pfleger versorgen lässt, die zu 100 Prozent SARS-CoV-2 infiziert sind? Das sind für den Manager Details, die man Russen, Cubanern und Chinesen überlässt. Nein, im großen Stil wird die Corona-Krise kommunikationselektronisch gelöst.
COVID-19 ist nur ein Kommunikationsproblem
Ja, wenn wir Ende Februar ein Trackingsystem gehabt hätten, das die Wege von Patient Nr. 1 lückenlos aufgezeichnet hätte und außerdem die Wege aller, die ihm in den Wochen zuvor nahegekommen sind, ja, dann wäre das alles nicht passiert. Das wissen die Italiener, denn es wurde dort genauso wie das „Reste a casa“ tausendfach über alle Medienkanäle kommuniziert. Und weil sie außerdem wissen, dass, wenn kein Wunder geschieht, 13 Prozent aller Italiener an COVID-19 sterben werden, lechzen sie nach einem solchen Tracking.
Nachdem am 31. März 2020 die App „AllertaLOM“ vorgestellt worden war, wurde sie bis Ostern alleine in der Lombardei mehr als 700.000-fach installiert. Was tut AllertaLOM? „Sie hält dich über COVID-19 auf dem Laufenden“ titelt „Varesenews“ am 1. April 2020. Das ist nett, aber hilft erstmal noch nicht so sehr gegen die Ausbreitung des Virus. Das „GiornalediBrescia“ weiß etwas mehr „Hilf, eine Karte von COVID-19 zu zeichnen.“ Da wird wohl die App schon auch eine Tracking-Funktion haben. Eine, die nur aufzeichnet oder die auch sendet? An Irgendjemanden? Die Daten gibt man selbst ein, sehr detailgenaue Gesundheitsangaben, Alter, Geschlecht, aber, jedenfalls nicht direkt in die App, Name, Adresse und ob der Nutzer Corona-positiv ist.
Das ist alles natürlich freiwillig.
Nicht freiwillig, überhaupt nicht, ist in Italien das „Reste a casa“. Wer von den Carabinieri erwischt wird, und die sind omnipräsent, wo er nicht zu sein hat, das ist zuhause, Hundehalter auch bis zu 200 Meter davon entfernt, oder auf direktem Weg zum nächsten Lebensmittelladen, der tut gut daran, eine überprüfbar ausgefüllte „Autocertificazione“, das Selbsterklärungsformular, bei sich zu haben. Das koste sonst, so wird ständig berichtet, bis zu 5 Jahre Haft oder 3000 Euro Geldstrafe. Einige zigtausend Lombarden haben das Knöllchen schon erhalten und bauen darauf, dass es, wie sonst auch, damit getan sein wird, einfach nicht zu bezahlen.
Nun sind die italienischen Behörden schon deutlich im Vorteil, denn das allgemeine Ausgehverbot, das in der Euphorie „Gemeinsam gegen die Pandemie“ im Handstreich funktioniert hat, an das man sich in Deutschland aber nicht herangetraut hat, ist eine scharfe Waffe.
Jetzt kommt Vittorio Colao wieder ins Spiel.
Colao steht seit dem 25. März 2020 in den Diensten des italienischen Staates, hat Stefania Maurizi herausgefunden. Stefania Maurizi ist ein seltenes Exemplar des europäischen Journalismus. Sie hat es beispielsweise geschafft, dass die Tageszeitung La Repubblica als einziges Leitmedium des europäischen Mainstreams berichtet hat, dass mit dem OPCW-Bericht zum angeblichen Giftgasanschlag in Douma etwas schwer faul ist. Sie verfolgt seit 10 Jahren alles akribisch, was mit Wikileaks, Edward Snowden und Julian Assange zusammenhängt.
2013 brauchte es noch einen Edward Snowden, der enthüllte, wie amerikanische und britische Geheimdienste Telekommunikationsunternehmen zur Ausspähung von Millionen Bürgern instrumentalisieren (1). Im Mittelpunkt der Ausspähungen: Der amerikanische Mobilfunkriese „Verizon“.
So richtig Pensionär ist Vittorio Colao natürlich nicht. Einen einfachen Pensionär, nur weil er reich ist, würden die Mächtigen der Welt sicher nicht zur Bilderbergkonferenz einladen. Nein, Colao hat noch einen nicht unbedingt unbedeutenden Rentnerjob: Er ist zwar nicht mehr CEO, aber einer von 9 Direktoren von Verizon. In dieser schnelllebigen Zeit ist Verizon auch 7 Jahre später noch der größte Mobilfunkanbieter der USA und außerdem Hauptakteur der GSMA. Die GSMA „Global System for Mobile Communications“ ist die Weltorganisation der Mobilfunkanbieter mit mehr als 800 Mitgliedern. Sitz der Gesellschaft ist London, wo auch Vittorio Colao die letzten Jahre verbrachte.
Just am ersten Arbeitstag von Vittorio Colao für die italienische Regierung, dem 25. März, veröffentlichte der Guardian, dass die GSMA einen Weltstandard für Tracking, Erfassung und Austausch von Mobilfunk-Nutzerdaten plane (2).
Nie mehr im Leben einen unüberwachten Schritt aus dem Haus
Ob AllertLOM nun bereits das Global GSMA-Spähprogramm ist oder eine Pilotversion, ist nicht ganz klar. Es sei, so heißt es, kinderleicht und sogar kostenlos aus dem Google PlayStore herunterzuladen. Natürlich ist die Installation freiwillig, aber es wird viel dafür geworben, dass alle mitmachen. Es wird aber sicher etwas kommen, was anders heißen wird oder zumindest anderswo anders heißt. Denn „Allerta“ ist sicher zu italienisch. Es bedeutet „aufpassen“ beziehungsweise „Auf der Hut“ sein. Am 15. April, nachmittags um 15 Uhr, kündigte der Nachrichtenticker des staatlichen italienischen Rundfunks RAI die Einführung einer europäischen App zum Schutz gegen Ansteckung an:
Natürlich wird die Verwendung freiwillig sein und die Daten werden anonymisiert erfasst werden, heißt es im letzten Satz der Ankündigung.
Es gilt nun in Italien – wie erwähnt – die generelle Ausgangssperre und die Selbsterklärung, die tunlichst ausgefüllt mitzuführen ist, wenn man die Grenzen des eigenen Grundstücks verlässt. Weil die Lockerung des Ausgehverbots ab dem 3. Mai in Schritten und nicht für alle gleichzeitig erfolgen soll, werde, so hatte man schon vernommen, eine nicht zu beanstandende Selbsterklärung noch viel wichtiger werden. Da sich Form und Inhalt der Selbsterklärung innerhalb von 6 Wochen schon viermal geändert haben, war dies ein Anlass, mal wieder im Netz nachzuschauen, ob man eigentlich noch up-to-date ist.
Die derzeitige Version des Formulars datiert vom 26. März, ist also schon uralt und werde, so erfuhr man so brandneu am Vormittag des 16. April, auch nicht mehr erneuert, sondern durch etwas ganz Anderes abgelöst: „Tschüss, Selbsterklärung“, titel hier Wall Street Italia, „ab 3. Mai werden die Bewegungen über eine App kontrolliert.“
Als großer Macher der neuen Idee wird Vittorio Colao hervorgehoben.
Nachdem schon Ausgangssperren im Handstreich zur Regel geworden sind, macht man sich um die anderen elementarsten Grundrechte auch keine Gedanken mehr: Wenn die App die Selbsterklärung ersetzt, ist sie das Gegenteil von anonym.
Haarkleine persönliche Angaben sind hier zu machen, eben beispielsweise ultrapräzise zur persönlichen Gesundheitsgeschichte. Und natürlich wird nicht die Spur eines Geheimnisses daraus gemacht, dass die App auch die Bewegungen des Nutzers trackt, ganz genau korreliert mit den persönlichen Daten. Und wehe, es geht einer noch ein Kilo Obst kaufen, das nicht am deklarierten Weg liegt. Die Carabinieri können sich künftig viel Zeit für Kontrollen sparen und dafür zehnmal so viele Strafzettel schreiben, weil es in einem geht, auch gleich für Nichtbeachten einer Stopstelle und Verwendung des gewohnten Anliegersträßchens als Nichtanlieger.
Selbstverständlich ist die Verwendung der App freiwillig. Es steht jedem frei, stattdessen für den Rest seines Lebens das Haus nicht zu verlassen. Wobei noch nicht ausgemacht ist, ob Google und Apple die App nicht automatisch aufspielen. Jemals wieder ohne Handy aus dem Haus zu gehen, wird unvorstellbar sein.
Italien hat also fertig – komplett. Welcher Widerstand wäre hier noch möglich? Das wird die neue App freuen, wenn die Massen zur Demonstration marschieren. Und die Anwälte? Die wurden aus Deutschland und der Schweiz schon mal vorgewarnt, wie schnell die Beschwörung des Rechts in die Psychiatrie führen kann. Die App des Autors dieser Zeilen wird vermutlich auch einen entsprechenden Spezialeintrag enthalten.
Vielleicht wird man es sich sparen, wozu auch, aber vielleicht wird irgendeiner aus dem Palazzo Chigi auch behaupten, das sei natürlich nur eine Maßnahme gegen und für die Zeit der COVID-19-Pandemie. Wie textet RAI schon in der Headline ihrer Meldung: „Die Richtlinie für die Zeit nach COVID-19“
Das ist eine europäische App. Da in Deutschland keine Ausgangssperre und keine Selbsterklärung existiert, werden dort noch ein paar Winkelzüge mehr notwendig sein. Aber wie das Virus, so wird auch die App mit kurzer Verspätung nördlich der Alpen eintreffen.
Italien eignet sich irgendwie gut für Pilotprojekte.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.theguardian.com/world/2013/jun/06/nsa-phone-records-verizon-court-order; https://www.sueddeutsche.de/digital/internet-ueberwachung-snowden-enthuellt-namen-der-spaehenden-telekomfirmen-1.1736791
(2) https://www.theguardian.com/world/2020/mar/25/mobile-phone-industry-explores-worldwide-tracking-of-users-coronavirus