Dieses Jahr begann mit einem historischen Paukenschlag. Es ist gut möglich, dass man die Jahre 1989, 2001, 2020 und jetzt auch 2021 einmal in einem Atemzug nennt, und zwar nur wegen der Ereignisse der vergangenen Tage.
Manche gesellschaftspolitischen Entwicklungen, und dazu gehören die meisten, erfordern eine sehr differenzierte Betrachtung. Da gibt es ganz viele Schattierungen und Nuancen in der möglichen Bewertung, verschiedene Perspektiven sind einzunehmen, verschiedene Interessen, Werte und Normen in die Waagschale zu werfen.
Doch bei einigen Entwicklungen verbietet sich jede Relativierung, weil sie aus objektiver Sicht absolut falsch, destruktiv und fatal sind — die dauerhafte Löschung des Twitter-Accounts von Donald Trump ist so ein Fall. Bereits am 6. Januar 2021 wurde der US-Präsident in einer konzertierten Aktion der großen US-Technologie-Konzerne für einige seiner Beiträge gesperrt, zunächst vorübergehend.
Zur Begründung hieß es, von seinen Äußerungen gehe potenzielle Gewalt aus, insbesondere folgender Post wird im Nachhinein als Initialzündung des „Sturms auf das Capitol“ bewertet:
„Geht die Pennsylvania Avenue runter, und wir gehen zum Capitol, wir gehen und versuchen, den schwachen Republikanern den Stolz und den Mut, den sie brauchen, zu geben, um unser Land zurückzuerobern.“
Am Freitag, dem 8. Januar folgte auf Twitter die dauerhafte Löschung des wichtigsten Sprachrohrs des demokratisch gewählten US-Präsidenten Trump.
Dazu kurze Anmerkungen aus medienethischer Sicht:
- Jede Form von gesellschaftlicher Öffentlichkeit, politischem Austausch, demokratischer Willensbildung und Rechtsstaatlichkeit erfordert zwingend Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit ist dementsprechend Voraussetzung für jedes gelingende gesellschaftliche und individuelle Handeln in Freiheit, Selbstbestimmung und Würde.
- Es ist Aufgabe des Staates, das Gelingen der Meinungsfreiheit zu garantieren. Oder anders gesagt: Ist Meinungsfreiheit nicht gegeben, ist der Staat gezwungen, Maßnahmen zur Abhilfe zu ergreifen.
- Wenige Dinge sind so klar geregelt wie die Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit wird sehr breit ausgelegt und stößt nur in wenigen, klar geregelten Punkten an ihre Grenzen. Dazu gehören: Volksverhetzung, der Aufruf zu Mord und Gewalt im Allgemeinen oder Rufmord. Hinzu kommen wenige nationale Ausnahmefälle wie das Verbot der Holocaustleugnung in zahlreichen Ländern.
- Donald Trumps Tweet hat gegen kein Gesetz verstoßen. Die aus rechtsstaatlicher und medienethischer Sicht einzig relevante Frage lautet: Hat sein Tweet gegen einer der genannten Punkte verstoßen, die von der Meinungsfreiheit nicht abgedeckt sind? Antwort: Nein.
- Durch die Sperrung und Löschung seines Accounts — und im Übrigen der Löschung 70.000 weiterer sogenannter „Q-Anon-Accounts“ — ist das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht länger gewährleistet.
- Das Staat als Garant der Meinungsfreiheit hat somit versagt. Die historische Zäsur liegt in der bereits antizipierten Machtverschiebung von staatlichen Institutionen auf die Technologie-Konzerne des Silicon Valley. Trumps Twitter-Löschung kann in ihrer Dimension kaum überbewertet werden. Es handelt sich dabei um eine symbolische Entmachtung des gewählten US-Präsidenten durch ungewählte Technokraten, allesamt Multi-Milliardäre. Der „mächtigste Mensch der Erde“ sitzt nicht länger im Weißen Haus, er heißt jetzt Zuckerberg, Bezos oder Dorsey.
- Es ist völlig irrelevant, ob Big Tech auf ihre Nutzungsbedingungen verweist. Kommunikation findet im Jahr 2021 primär online, um genau zu sein über soziale Kanäle statt. Gerade die Möglichkeit, sich ungefiltert und zum Beispiel ohne die Abhängigkeit von der Gunst eines Verlages oder einer Redaktion äußern zu können, ist die große Errungenschaft des Netzes. Diese Meinungsbildung im öffentlichen Raum ist inzwischen die Infrastruktur politischer Kommunikation. Dieser Raum hängt im Jahr 2021 von einem Oligopol aus Twitter, Facebook und Google ab.
Anhand eines Beispiels will ich zum Abschluss erklären, warum der Verweis auf die „Hausregeln“ der sozialen Kanäle nicht zulässig ist:
Ein Freund erklärte mir als Reaktion auf die Twitter-Löschung, ich müsse Social Media als Supermarkt verstehen. Die jeweiligen Plattformen hätten bei Donald Trump lediglich ihr Hausrecht geltend gemacht. Auch wenn ich mich wiederhole: Dies ist nicht zutreffend. Um im Bilde zu bleiben: Stellen Sie sich vor, Sie kommen in einen Supermarkt nicht herein, weil dieser Ihnen den Einlass mit der Aussage verwährt, dann müssten Sie eben woanders einkaufen.
Allerdings kommen Sie in keinen Supermarkt herein. Sie sind überall ausgeschlossen. Supermärkte sind eine Infrastruktur, sie bieten die Möglichkeit, Nahrung zu erwerben, um nicht zu verhungern. Verweigern diese Ihnen kollektiv den Einlass, ist Ihr Grundrecht auf Leben nicht länger gewährleistet. Das ist das treffende Bild im Falle der großen Big-Tech-Zäsur, die sich vergangene Woche vor unser aller Augen abspielte.
Fazit
Wenige Milliardäre entscheiden inzwischen über das, was öffentlich gesagt werden kann.
Es ist eingetroffen, was in den Kreisen der gesellschaftspolitischen Gegenöffentlichkeit jahrelang befürchtet und prophezeit wurde: Eine absolute Steuerung der öffentlichen Debatte, durch Player, die sich der staatlichen Kontrolle vollkommen entziehen, schlimmer noch: die staatliches Handeln ersetzt haben.
Das nennt man Technokratie und wird die Realität der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts sein. Als vernunft- und verstandesbegabte Wesen müssen wir dieses Jahrhundert-Problem mit höchster Dringlichkeit lösen, gemeinsam, als Menschheit.