von Lisa Quispe Ureta
Mutig das Zukünftige denken
Wir Menschen sind daran gewöhnt, nur auf das zu sehen, was wir in der sinnlichen Welt vorfinden, also auf das bereits Gewordene. Dies ist jedoch immer schon das Endprodukt eines vorausgegangenen Prozesses. Dieser lediglich auf die materielle Ebene gerichtete Blick führt dazu, nur auf das zu vertrauen, was wir anfassen können, was wir bereits erfahren haben und was uns bekannt ist. Angst bezeichnet im Grunde immer ein Misstrauen in das Zukünftige — ich meine hier nicht eine gesunde, vernünftige Vorsicht, beispielsweise im Straßenverkehr. Angst fixiert unseren Blick auf bisherige Erfahrungen und Gewohnheiten, aber auch auf hinderliche Glaubenssätze und Suggestionen, die ihren Ursprung beispielsweise in einem kirchlichen Kontext haben, die uns über Generationen unbewusst und unerkannt geprägt haben und meist weitergegeben werden.
Um ein Beispiel zu nennen: Eine Angst, die ich an mir selbst immer wieder bemerke, ist die Angst, überheblich zu wirken, also mich über andere zu erheben. Diese entspringt einem verdrehten Bild der Bescheidenheit und der Nächstenliebe, das besagt, du sollst auf deine Mitmenschen Rücksicht nehmen. Wenn du eine besondere Fähigkeit besitzt, so zeige diese nicht, denn das könnte dem anderen spiegeln, dass er in diesem Gebiet weniger fähig ist. Doch welche Wirkung hat dieses Verhalten wirklich? Stärke ich mit diesem Verhalten nicht sogar die Unfähigkeit des anderen und nehme ihm eine Entwicklungsmöglichkeit? Es benötigt Menschen, die mutig und entschlossen voranschreiten und auf diese Weise ein Vorbild für andere Menschen sein können.
Um Zukünftiges zu gestalten, ist es also notwendig, unsere Blickrichtung zu ändern weg von unseren Ängsten, unseren Gewohnheiten und all dem, was uns an unser bisheriges Dasein bindet, hin zu den Möglichkeiten, die wir in der Zukunft verwirklichen können. Diese Möglichkeiten muss der Mensch aktiv herbeidenken und sich dabei immer wieder die Kraft der Gedanken bewusst machen, auch wenn diese zunächst nicht sichtbar manifest sind.
Das kann beispielsweise bereits in der Art und Weise beginnen, wie ich meinen Mitmenschen betrachte. Gewöhnlich sehe ich durch meine persönlich gefärbte Brille auf Personen und dementsprechend fällt dann auch mein Urteil aus. Geleitet durch sympathische oder antipathische Neigungen verbinde ich mich recht schnell mit Menschen oder fühle mich von diesen abgestoßen. Es lässt sich in der aktuellen Situation sehr gut beobachten, wie man sich einerseits mit Menschen verbündet, die der gleichen Meinung sind, und sich andererseits von Menschen abwendet, deren Haltung der eigenen konträr gegenübersteht. Die eigenen Neigungen und Prägungen, also die Färbung meiner Brille, verhindert demnach ein wirkliches Kennenlernen des Gegenübers.
Um die andere Person wirklich zu verstehen, benötigt es zunächst die Zurückhaltung persönlicher Emotionen und Willensimpulse. Wir sind geneigt, unsere Position als die richtige zu erklären und davon ausgehend den anderen zu überzeugen, der nach dieser Denkweise eine falsche Position innehat. In der Folge entstehen Diskussionen, die meist damit enden, dass sich die verschiedenen polaren Positionen verfestigt haben und sich der Graben zwischen den Menschen weiter vertieft.
Ein wirkliches Interesse am anderen, das beispielsweise mit einer inneren Frage einhergeht und dadurch persönliche Emotionen zurückweichen lässt, öffnet Begegnungsräume und wirft ein Licht auf das Gegenüber, sodass dieses sich leichter in seinem wirklichen Wesen zeigen kann. Die Frage könnte beispielsweise lauten: Welche Ängste oder welche Motivation steht hinter der Haltung, hinter der Aussage oder Absicht des anderen?
Durch das Ergründen der Ängste des anderen und deren Ursachen, das heißt Suggestionen und Glaubenssätze, offenbart sich mir die eigentliche Not, in der sich mein Gegenüber befindet. Doch wie kann ich helfen, diese Not zu lindern? Um zu verhindern, dass ich aus einer überheblichen Position heraus dem anderen helfen will — „ich habe keine Angst und weiß, was richtig ist“ —, ist es notwendig, mich ebenfalls mit einzubeziehen. Ich kann mich selbst nicht einfach aus den vorherrschenden Verhältnissen herausnehmen.
Ich bin genauso ein Teil dieser Welt und daher trage ich eine ebenso große Verantwortung für sie wie die anderen Menschen auch. Mich selbst als „auf der richtigen Seite stehend“ zu empfinden, wird der Sache noch nicht gerecht. Es benötigt also, nachdem ich die Angst des anderen ergründet habe, eine Eigenreflexion. Wo stehe ich selbst? Bin ich nicht auch in manchen Bereichen noch in Ängsten verhaftet und traue mir selbst zu wenig zu? Dieser Blick nach innen ermöglicht wiederum ein vertieftes empathisches Einfühlen in mein Gegenüber, der sich dadurch verstanden und gesehen fühlt.
Nun reicht es jedoch nicht aus, beim Verständnis des anderen stehen zu bleiben, denn dann würde ich meinen Blick nur auf das bereits Gewordene und damit auf eine nicht mehr zu verändernde Vergangenheit des Menschen richten, und der werdende Mensch in seinen Möglichkeiten bliebe noch unerkannt. Um wirkliche Entwicklungswege für meine Mitmenschen — und für mich selbst — zu eröffnen, benötige ich das aktive Denken von Idealen, von Tugenden, die jedem Menschen als Anlage inneliegen.
Bezogen auf das zu Beginn beschriebene Beispiel, der Angst davor, überheblich zu wirken, wäre es ein Ideal, mutig die eigenen Fähigkeiten der Welt zur Verfügung zu stellen und auf diese Weise nicht nur die eigene, sondern die Entwicklung der Mitmenschen anzuregen und zu fördern. Hierzu kann ich mich auf vielfältige Weise mit der Tugend des Mutes beschäftigen, den Begriff vertiefen, mutige Menschen studieren et cetera.
Betrachtet man präzise und differenziert den momentan oft verwendeten Begriff der Solidarität, so ist das Verständnis ein auf das Kollektiv bezogenes und es erschwert das Begehen neuer Wege. Im Kollektiven gebe ich Verantwortung ab, vertraue mich einer fremden Führung an und nehme somit eine passivere Haltung ein. Um in eine wirkliche Aktivität zu kommen, ist es notwendig, das Kollektiv zu verlassen, mutig individuelle Wege zu suchen und übergeordnete, allgemein gültige Ideale zu entwickeln, die wiederum aufbauend der Gesellschaft zufließen, das heißt auf lebenspraktische und sozialfähige Weise in diese integriert werden. Um beispielsweise eine neue Kultur menschlicher Begegnung zu verwirklichen, benötigt es einen wirklichen Neubeginn im Denken.
Der Glaube und das Vertrauen in die Kapazität des Menschen als ein eigenständiges, logisch und angstfrei denkendes Wesen ermöglicht erst ein Wachstum des Menschen in diese Vorstellung hinein.
Diesen Gedanken zu denken, ihn gewissermaßen zu gebären, in die Welt zu bringen und ihn als eine innere Überzeugung bei jeder persönlichen Begegnung mit sich zu tragen, ermöglicht einen Blick auf den werdenden Menschen und fördert die Entwicklung dorthin. Es könnte so eine friedlichere gehobene Kommunikationskultur entstehen. Aber nichts entsteht in der Welt, wenn es nicht im einzelnen Menschen auferstanden ist.
Lisa Quispe Ureta, Jahrgang 1987, Heilpädagogin und Waldorfpädagogin, gründete im vergangenen Jahr den Verein Der mündige Mensch e.V. mit und ist derzeit damit beschäftigt, ein Projekt in Italien zu planen. Es soll ein Ort entstehen, an dem Zukunftsimpulse in den verschiedenen Bereichen (Pädagogik, Landwirtschaft, Ernährung, Kunst, Philosophie et cetera) entwickelt und erprobt werden. Für Menschen, die an dem vorherrschenden System verzweifeln und erkranken, wird es die Möglichkeit zur Regeneration, zur Neuausrichtung und Entwicklung neuer Perspektiven geben.