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Das Tauziehen um Gaza

Das Tauziehen um Gaza

Gazas Wirtschaft kollabiert — und niemand will‘s gewesen sein.

Niemand will für die Entwicklung in Gaza verantwortlich sein
von Jonathan Cook

Einem Bericht der Weltbank zufolge rückt der lange gefürchtete Moment in Gaza immer näher. Nach zehnjähriger israelischer Blockade und einer Reihe groß angelegter militärischer Angriffe befindet sich die Wirtschaft der kleinen Küstenenklave im „freien Fall“.

Alarmierende Zustände

Auf einer Konferenz internationaler Geberländer in New York, die zeitgleich mit dem Jahrestreffen der UN-Generalversammlung stattfand, zeichnete die Weltbank ein alarmierendes Bild der Krise in Gaza. Die Arbeitslosigkeit erreicht nun fast 70 Prozent und die Wirtschaft schrumpft immer schneller.

Die Not in der Westbank ist noch nicht ganz so groß, viel jedoch fehlt nicht. Die Länder, die an dem Ad Hoc Liaison Committee teilnahmen, erfuhren, dass Gazas Zusammenbruch den gesamten palästinensischen Bankensektor mit in die Tiefe reißen könnte.

Als Reaktion darauf schnürte Europa hastig ein 40 Millionen US-Dollar schweres Hilfspaket. Es soll den Zugang zu Strom und Trinkwasser verbessern, wird also hauptsächlich Gazas humanitäre Krise bekämpfen, nicht jedoch die wirtschaftliche.

Niemand bezweifelt die unvermeidlichen negativen Konsequenzen der wirtschaftlichen und humanitären Krise in Gaza. Die vier Akteure des Quartetts, die den Auftrag haben, die Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu beaufsichtigen — die USA, Russland, die EU und die UN — gaben eine Erklärung mit der Warnung ab, es sei entscheidend, eine „weitere Eskalation“ in Gaza zu verhindern.

Unruhen und Proteste

Das israelische Militär teilt diese Bedenken. Es berichtet vom wachsenden Unmut unter den zwei Millionen Einwohnern der Enklave und geht davon aus, dass die Hamas in eine Konfrontation gezwungen wird, um sich aus der Zwangsjacke in Form der Blockade zu befreien.

In den letzten Wochen nahmen die Proteste entlang Gazas Einfassungszäunen nach der ruhigeren Sommerphase wieder an Fahrt auf. Am Freitag (28. September, Anmerkung der Übersetzerin) wurden sieben palästinensische Demonstranten, darunter zwei Kinder, von israelischen Scharfschützen ermordet und Hunderte verletzt.

Dennoch scheint der politische Wille, die Situation zu verbessern, so kümmerlich wie eh und je. Niemand ist bereit, für die Zeitbombe Gaza wirklich Verantwortung zu übernehmen.
Ganz im Gegenteil — die wichtigen Parteien, die wirklich eine Veränderung herbeiführen könnten, scheinen es auf eine weitere Verschlechterung der Situation anzulegen.

Israels Rolle

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ignoriert die wiederholten Warnungen seines eigenen Militärs bezüglich einer drohenden Explosion der Situation.

Israel hält stattdessen sogar nach wie vor die strenge Blockade aufrecht und verhindert damit den Warenfluss in die und aus der Enklave. Entgegen der in den Abkommen von Oslo vereinbarten 20-Meilen-Zone wurde die Fischerei nur auf drei Meilen jenseits der Küste beschränkt. Berichten zufolge mussten Hunderte von Unternehmen im Laufe des Sommers aufgeben.

Die neueste Entscheidung der Trump-Administration, Hilfsleistungen für die Palästinenser, darunter auch für die UNRWA, das Flüchtlingshilfswerk der UNO, zu kürzen, verschärft noch die Probleme der Enklave. Das UNRWA spielt eine wesentliche Rolle in Gaza, da es fast zwei Drittel der Bevölkerung mit Nahrung, Bildung und medizinischen Leistungen versorgt.

Das Nahrungsmittel-Budget läuft im Dezember aus; das Schulbudget bereits Ende dieses Monats (der Artikel stammt vom 2. Oktober, Anmerkung der Übersetzerin). Hunderttausende hungrige Kinder ohne Ort, an dem sie verweilen dürfen, werden die Proteste nur weiter schüren und die Zahl der Toten erhöhen.

Falsche Prioritäten

Mahmud Abbas´ Palästinensischer Autonomiebehörde mit Hauptsitz in der Westbank fehlt die Motivation zu helfen. Mit der Krise, die sich langsam in Gaza entfaltet, kann er die Hamas zwingen, sich seinen Regeln zu unterwerfen. Dies ist auch der Grund dafür, dass die palästinensische Autonomiebehörde die Zahlungen an Gaza um 30 Millionen US-Dollar gekürzt hat.

Selbst wenn Abbas helfen wollte, fehlten ihm größtenteils die Mittel dazu. Die US-Kürzungen dienten in erster Linie dem Ziel, ihn für seine Weigerung zu bestrafen, Spielball in US-Präsident Trumps angeblichem „Jahrhundertdeal“-Friedensplan zu sein.

Die Weltbank merkt an, dass Israel Abbas´ Schwierigkeiten noch vergrößert hat, weil es sich weigert, Steuern und Zölle, die es für die Palästinensische Autonomiebehörde eintreibt, zu überweisen.

Und die letzte beteiligte Partei — Ägypten — weigert sich, ihren Würgegriff an der kurzen Grenze zu Gaza zu lockern. Präsident Abdel Fattah El Sisi widersetzt sich jeglicher Hilfeleistung für islamistische Opponenten im eigenen Land oder für die Hamas.

Diese Patt-Situation ist nur deswegen möglich, weil keiner der Beteiligten bereit ist, das Wohlergehen Gazas vorrangig zu behandeln.

Inoffizieller Kanal

Dies wurde schon früher im Sommer sehr deutlich, als Kairo mit Unterstützung der UN einen inoffiziellen Kanal zwischen Israel und der Hamas einrichtete— in der Hoffnung, die zunehmenden Spannungen zwischen den beiden zu beenden.

Die Hamas wollte eine Aufhebung der Blockade, um Gazas wirtschaftlichen Verfall aufzuhalten, und Israel wollte ein Ende der wöchentlichen Proteste und damit der abträglichen Bilder, die zeigen, wie israelische Scharfschützen unbewaffnete Demonstranten ermorden.

Zudem hat Netanjahu ein Interesse daran, die Hamas in Gaza an der Macht zu halten — wenn auch nur knapp —, um die geographische Spaltung mit der Westbank und die ideologische mit Abbas zu zementieren.

Anfang September jedoch fanden die Gespräche ein Ende, als Abbas sich den Ägyptern widersetzte. Er bestand darauf, dass die Palästinensische Autonomiebehörde die alleinige Ansprechpartnerin für Diskussionen über die Zukunft Gazas sei. Kairo bündelt nun also wieder seine Energien in einem vergeblichen Versuch, Abbas und die Hamas miteinander zu versöhnen.

Auf der UNO-Generalversammlung versprach Trump eine Enthüllung seines Friedensplanes in den nächsten zwei bis drei Monaten und sprach sich zum ersten Mal für eine Zweistaatenlösung aus — sie „funktioniert wohl am besten“.

Netanjahus Staatsbegriff

Netanjahu pflichtete dem vage bei, betonte aber: „Jeder definiert den Begriff ‚Staat‘ anders“. Er fügte hinzu, seine Definition beinhalte, dass keine der illegalen jüdischen Siedlungen in der Westbank entfernt würde und dass ein zukünftiger palästinensischer Staat der vollständigen Sicherheitskontrolle Israels unterliege.

Von Abbas wird weithin berichtet, er habe im Laufe des Sommers das Zugeständnis gemacht, dass ein palästinensischer Staat — so er denn je entsteht — demilitarisiert würde.

In anderen Worten: Er wäre nicht als souveräner Staat erkennbar.

Die Hamas hat bemerkenswerte Zugeständnisse gemacht, was ihre ursprüngliche Doktrin eines militärischen Widerstandes für die Aufrechterhaltung des historischen Palästina betrifft. Man kann sich aber nur schwer vorstellen, dass sie einem Frieden zu solchen Bedingungen zustimmen würde — was eine Versöhnung zwischen der Hamas und Abbas praktisch undenkbar macht und eine Atempause für die Bevölkerung Gazas wieder in weite Ferne rückt.


Jonathan Cook, der seit 2001 in Israel lebt, ist Journalist und Schriftsteller. Er hat bereits drei Bücher über Israel veröffentlicht und erhielt den Martha Gellhorn Special Prize für Journalismus. Hier die Begründung der Juroren: „Jonathan Cooks Arbeit über Palästina und Israel, vor allem seine Entschlüsselung der offiziellen Propaganda und seine herausragende Analyse von Ereignissen, die im Mainstream oft verschleiert dargestellt werden, machten ihn zu einem der zuverlässigen Sprecher der Wahrheit im Mittleren Osten.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Everyone Washes Their Hands as Gaza’s Economy Goes into Freefall". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.

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