Nach der winterlichen Erstarrung setzt der große Frühlingsimpuls ein, von allen sehnlichst erwartet mit Wärme, Licht und neuer frischer Nahrung. Pünktlich sprießen die ersten Kräuter, der Bärlauch, die Knoblauchrauke, das Scharbockskraut, bald die ersten Brennnesseln.
Das frische Grün weckt die Lebensgeister, genossen innerlich als Wildkräutersalat für die Reinigung und Erneuerung des Organismus, verbunden mit den Gefühlen der Freude und Hoffnung, der Neuwerdung.
Die Gewissheit der großen Ordnung, die hält, was sie verspricht. Und wieder wird es grün. Die Fluren beleben sich und leuchten in der Sonne, verhalten zunächst noch, aber unaufhaltsam setzt sich der Prozess der Erneuerung in Bewegung, die natürliche Einbettung des menschlichen Daseins. Mit dem Sonnenstand steigen die Temperaturen.
Die Farbe Grün ist die Farbe der Hoffnung. Beglückend ist es, in der freien Natur zu spüren, wie sich alles Leben neu zu regen beginnt. Die Schneeglöckchen durchbrechen, ja durchstoßen geradezu mit ihren grünen lanzettähnlichen Blattspitzen das vorjährige Laub. Die gelben Winterlinge leuchten in der Schneedecke. Hasel und Erle blühen. Winterjasmin, Kornelkirsche und Hamamelis, die Zaubernuss, läuten den Frühling ein. Das Erwachen der regsamen Natur ist allenthalben zu spüren.
Präzise in ihrer Gestalt entfalten sich die natürlichen Formen. Wirksamkeit und Charakter der Pflanzen hinsichtlich ihrer Inhaltsstoffe, aktivierend für den menschlichen Stoffwechsel, bleiben sich treu. In Zeiten großer gesellschaftlicher Erschütterungen wird es noch einmal mehr als deutlich, wie komplex und weise das große lebendige Buch der Natur verfasst wurde.
In der Fülle der uns umgebenden Landschaft und ihrem Reichtum, die so leise, so selbstverständlich da ist, wird es immer schwerer fassbar, dass der Mensch in weiten Bereichen so aus der Art geschlagen zu sein scheint. Größenwahn, entfesselte Gier, pervertierter Sexus, Lüge und Zerstörung, Tötungsmaschinen feiern dämonische Triumpfe. Schaurige menschengemachte Katastrophen, als Kreativität gefeierte Absurditäten.
Zart schwellen die Knospen und dann schimmern die ersten grünen Schleier belebend durch die Flur, Signal für einen ganzen Aufbruch. Von unten nach oben steigt der Säfte Strom. „Jetzt sind die ersten grünen Blätter da.“
Dies ist alljährlich ein magischer Moment der Unumkehrbarkeit und doch gibt es immer wieder ein Ritardando während der relativ lange währenden Phase des Vorfrühlings. Je verhaltener die Vegetation sich bildet, umso stärker ihre aufbrechende Kraft und Schönheit.
Die niedrigen Nachttemperaturen kühlen und geben noch die Geborgenheit des Schlafes und umhüllten Traumes, umspielt vom Land, in dem all das Aufbrechende in seiner klaren Charakteristik seinen Ursprung hat.
Wenn ich mich draußen in der Natur bewege, kommt mir alles so selbstverständlich vor, so geordnet, dass ich nur auf ganz leisen Sohlen gehen möchte. Dann spüre ich regelmäßig nach einer Weile den Moment, in dem das Herz aufgeht, sich weitet und eine innere Freude aufsteigt, die beschwingt, bestärkt, beglückt und dankbar macht.
Etwas erschrocken war ich, als ich an fast allen Standorten, an denen ich mit dem Makroobjektiv fotografierte, sei es an der Schnellen Havel in Zehdenick, im Potsdamer Park oder an der Oder bereits in den kleinsten Knospen und Vegetationskegeln zart silbern schimmernde verhältnismäßig lange Spinnfäden beobachtete, ähnlich denen des Eichenprozessionsspinners oder der Gespinstmotte.
In den Gärten der Natur fielen mir mitunter Menschen auf, die ganz allein dort sitzen, hingegeben an die Sonne, an das Grün wie Kranke, die Genesung suchen, einsam und traurig, entlassen aus unseren künstlichen Paradiesen.
Die schwere Bürde der heutigen Zeit scheint auf ihnen zu lasten, sie auszuzehren, krank zu machen, seelisch und körperlich. Wie ist es um das eigentlich gemeinte Menschliche bestellt? Der galoppierende Gang in einen der Natur, auch der menscheneigenen Natur selbst abgekoppelten Prozess scheint weder ihr noch dem Menschen dienlich zu sein. Wie eine große Krake arbeitet sich wohl nun auch die „Vierte Industrielle Revolution“, so Klaus Schwab, immer stärker in das gesellschaftliche Sein, zentralistisch und ausbeuterisch.
Der technisch digitale Umbau — eine Raubkopie des natürlichen Seins und Zwangsjacke gleichermaßen? Eine Herabwürdigung der Geheimnisse des Lebens, die meiner Auffassung nach metaphysischer Natur sind, auf dumpfe Instinkte.
Kreativität als entfesselte Beliebigkeit monströser Möglichkeiten. Der Weg, der uns hierher geführt hat, wird uns schwerlich da herausholen können, sondern Mensch und Natur immer weiter ausbluten lassen. Mir fallen die Gedichtzeilen von Annette von Droste-Hülshoff ein:
„Da floss ihr grünes Blut ...“
Das Sterben der Blumen erfasst sie mit den Worten:
„Nur dunkel ward ihr Angesicht
Wie wenn der Himmel graut.“
Diese Formulierung erinnert mich an das eigenartig verlöschende und fahle Licht bei einer Sonnenfinsternis. Es ist das grüne Blut, das das rote Blut belebt.
Das Grün, das aus verwandeltem Sonnenlicht entsteht, ist die Mischung aus lichtem Gelb und Himmels- oder Wasserblau, der Anfang der Nahrungskette. Das kalte feuchte Grün ist ganz hingegeben an das Licht. Grün wirkt beruhigend und weitend.
Ingrid Riedel schreibt in ihrem Buch „Hildegard von Bingen. Prophetin der kosmischen Weisheit“, die Äbtissin sei davon überzeugt, dass es keine Dürrezonen auf der Erde geben würde, wenn der Mensch im Bund mit der Natur und der Quelle der Grünkraft geblieben wäre. Nur durch die hybriden Handlungen gegenüber der Erde sei Unfruchtbarkeit entstanden.
Nach Hildegard bedürfte es nicht einmal der Pflege der Gärten und Felder, wenn der Mensch in der ursprünglichen Schöpfungsordnung geblieben wäre; dann vermöchte die Grünkraft alles zu durchpulsen. „Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit“, sagt Hildegard, „und diese Kraft ist grün.“ „Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und alle Schönheit der Welt.“
Aus welchem Stoff ist das Blattgrün, sind die Blütenblätter gemacht? So neu und unversehrt, fein und durchlässig, dass die Gewebe im Gegenlicht in strahlend schöner Anmut leuchten, sauber und vollkommen.
Mit feinen Adern und Poren sind sie ausgestattet, Düfte verströmend. Vom Windhauch umspielt und von überwiegend fliegenden Insekten besucht, wünschen sie keine stärkere Berührung als die Wahrnehmung über unsere Sinne.
Exakt nachzuzählen sind Blüten-, Kelch-, Neben- und Staubblätter. Klar bestimm- und nachprüfbar sind die Erscheinungsformen und lassen sich eindeutig zuordnen. Und doch gibt es die faszinierenden unendlichen Spielarten in den Modifizierungen jedes einzelnen Blattes als Kennzeichen alles Lebendigen.
Deshalb war es mir wichtig, die klare Signatur der Formen und ihre Gestalthaftigkeit und doch die jeweilige Einmaligkeit auch auf dem Foto zu zeigen.
So birgt die Natur Erkenntnismöglichkeiten vielfältiger Art: Konzentration, Gewahrsam im Immergleichen und in der Wiederkehr, die stets erneut überrascht.
Fotos: Ulrike Kirchhoff
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