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Das Paradies im Herzen

Das Paradies im Herzen

Wer sein Lebensglück so lange vertagt, bis perfekte politische Verhältnisse herrschen, wird es verfehlen.

„Eine Insel in der Weite der Hoffnung, wo die Menschen keine Furcht zu haben bräuchten — lieblich und ruhig wie dein Spiegel“ — so poetisch beschrieb der große belgische Chansonnier Jacques Brel sein Paradies. 1975, viele Jahre, nachdem er das Lied „Une île“ komponiert hatte, ließ sich Jacques Brel auf den idyllischen Marquesas-Inseln nieder, einer tropischen Welt mitten im Pazifik, voll artenreicher Regenwälder, schöner Strände und einem ganzjährig warmen Klima. Leider nimmt sich man auch ins Paradies immer selbst mit — einschließlich seiner schlechten Angewohnheiten. Jacques Brel starb 1978 an Lungenkrebs. Er war Kettenraucher.

Das Paradies, das keines war

Brel folgte mit seinem Traum vom Südseeparadies einer langen Tradition europäischer Inselromantik. Rund 90 Jahre vor ihm war der Maler Paul Gauguin nach Tahiti und später auf die Marquesas gegangen, hatte mit eingeborenen Frauen zusammengelebt und seine berühmten farbentrunkenen Bilder gemalt: Auf fast allen waren nackte Maori-Frauen zu sehen, in lässiger Haltung, vor einer Kulisse exotischer Pflanzen in berückenden Farbtönen.

Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa schrieb über Gauguins Leben den Roman „Das Paradies ist anderswo“. Er beschreibt darin vor allem die Sehnsucht des Malers, alles, was die Zivilisation zerstört habe, „auf den Marquesas unversehrt, unberührt, rein und echt“ vorzufinden.

Gauguin hoffe, „dass dort das Volk der Maori noch immer dasselbe wie früher sei, das stolze, freie, barbarische, kraftvolle primitive Volk, eins mit der Natur und mit den Göttern; dass es noch immer in der Unschuld seiner Nacktheit, seines Heidentums, seiner Feste und seiner Musik lebe.“

Paul Gauguin hat sein Paradies verloren, weil es nie wirklich eines war. Und weil seine Vorstellungen von den Inseln und ihren Menschen mehr den Wunschvorstellungen zivilisationsmüder Europäer als der Realität entsprangen. „Frei“, „barbarisch“, „kraftvoll“, „eins mit der Natur“ und vor allem sexuell völlig unverkrampft — das alles entstammt eher der Mottenkiste der Klischees vom „edlen Wilden“.

Die Wahrheit war härter. Gauguin war Mitte der 1890er an der Syphilis erkrankt. Er litt an Schmerzen, die er mit Morphium betäubte, und an Depressionen. Die Frauen, die er früher mühelos in seine Hütte locken konnte, ekelten sich vor dem Gestank seiner verfaulenden Beine. In Wahrheit hatten sie an ihm sowieso immer mehr die materielle Sicherheit als ihn selbst geliebt. Der Maler des Paradieses starb in einer Hölle körperlicher Verwahrlosung, charakterlichen Verfalls und geistiger Verwirrung.

Die Geschichte menschlicher Suche nach dem Paradies ist vor allem eine Geschichte gescheiterter Hoffnungen. Warum eigentlich?

War Gauguins Weg zu egozentrisch gewesen? War es illegitim gewesen, aus der Heimat zu fliehen, anstatt zu versuchen, diese in eine bessere Welt zu verwandeln? Der Roman „Das Paradies ist anderswo“ enthält interessanterweise auch die Geschichte von Gauguins Großmutter Flora Tristan, einer Anfang des 19. Jahrhunderts bekannten frühsozialistischen Aktivistin.

Flora verkörperte ein entgegengesetztes Modell der Suche nach dem Paradies. Sie kämpfte unermüdlich gegen Ausbeutung und Entrechtung und versuchte so, auf längere Sicht ein irdisches Paradies zu schaffen. In der wohlmeinenden Absicht, die ganze Welt zu beglücken, versäumte es Flora Tristan jedoch, sich selbst glücklich zu machen. Sie rieb sich auf in ihrem Kampf gegen die Unnachgiebigkeit des französischen Establishments und die dumpfe Fügsamkeit der unterdrückten Arbeiterschaft. Letztlich starb sie mit nur 41 Jahren an „Burnout“, an Erschöpfung.

Der Kampf um das „Arbeiterparadies“ war die Hölle für die Kämpfer

Der Traum vom sozialen Paradies scheiterte. Warum eigentlich? Offenbar hatte Paul Gauguins Großmutter doch etwas begriffen, was zu begreifen bis heute vielen schwerfällt: Das Paradies muss immer eines sein, das allen Menschen offensteht. Denn ein Paradies, das auf Kosten anderer errichtet wird — oder darauf beruht, dass man ihr Leiden ausblendet —, hinterlässt den schalen Nachgeschmack des Selbstbetrugs.

Flora Tristan war zweifellos eine Vorläuferin moderner Ideologen und Aktivistinnen, die wir bewundern, die uns aber immer auch ein bisschen unheimlich sind.

Dürfen wir die Schaffung irdischer Paradiese Menschen anvertrauen, die nichts von Freude, nichts von Leichtigkeit zu verstehen scheinen? Menschen, die ihre vitalen Bedürfnisse so radikal unterdrücken, wie es kein äußerer Tyrann jemals könnte?

Auf heutige Verhältnisse übertragen: Wir halten es mit gutem Grund für notwendig, gegen das Corona-Regime aufzubegehren. Aber macht uns dieser aufreibende Kampf „gegen“ auch glücklich? Weiter gefragt: Ist es überhaupt legitim, sich angesichts des Elends auf der Welt um das eigene Glück zu sorgen?

Ein später und erfolgreicherer Erbe Flora Tristans war Karl Marx. Für den großen Wirtschaftsphilosophen war die angestrebte „Diktatur des Proletariats“ nur ein Zwischenstadium, Endziel war die „klassenlose Gesellschaft“. Da Geschichte immer durch den Konflikt zweier Klassen vorangetrieben werde, könne die Aufhebung von Klassengegensätzen einen konfliktfreien Endzustand der Geschichte schaffen — eine Art irdisches Paradies.

So weit die Theorie. Und wie sah die Realität aus? Dass Honeckers DDR von ihren Anhängern als „Arbeiter- und Bauernparadies“ bezeichnet wurde, erscheint uns heute als Lachnummer. Kann es ein Paradies geben, in dem alles Bunte und Lustvolle unter dem Mehltau ideologischer Strenge und Korrektheit erstickt wird? Und vor allem: Ist ein Paradies denkbar, in dem die Freiheit nicht zum Inventar gehört?

Der veruntreute Himmel

Die Tragik der heutigen Situation im kapitalistischen Westen besteht darin, dass das Paradies, zumindest materiell gesehen, seit einigen Jahrzehnten möglich ist, dass wir ihm aber trotzdem dem Empfinden nach nicht wesentlich nähergekommen sind. Die Produktivität bei der Herstellung von lebensnotwendigen Gütern ist enorm gestiegen. Von 1992 bis 2019 hat sich zum Beispiel die jährliche Produktivität in Deutschlands Stahlindustrie in etwa verdoppelt.

Das heißt, es konnte mit der Hälfte an Mitarbeitern das Gleiche produziert werden. Eine schlechte Nachricht für den Arbeitsmarkt? Eigentlich eine gute. Bei fairer Verteilung der verbleibenden Arbeit und der Früchte dieser gemeinsamen Anstrengungen könnte jeder Mensch auf der Erde auf einem materiellen Niveau leben, das früher als paradiesisch gegolten hätte. Viele Bürger in den westlichen Ländern leben schon jetzt so. Wir gehen durch die prall mit Köstlichkeiten gefüllten Regale unserer Supermärkte und können nach fast allem greifen, worauf wir Appetit haben.

Wenn wir — relativ — Reichen aber im Paradies leben, warum fühlt es sich dann nicht so an? Auch in einem Schlaraffenland, in dem gebratene Hühner, Mangos und Rotwein zum Alltag gehören, kreieren wir uns Psycho-Höllen.

Wenn Menschen ihre gröbsten materiellen Probleme gelöst haben, erschafft ihr Geist Probleme einer höheren Ordnung, verfeinerte Formen des Leidens. „Bin ich schön? Bin ich beliebt? Riskiere ich, meinen Job zu verlieren? Ist mein Leben nicht eigentlich sinnlos?“

Vielleicht haben ja doch bestimmte spirituelle Autoren recht, die behaupten, die Erde sei eine Schule und das Lernziel „Problemlösungskompetenz“. Vielleicht wurde in die menschliche Seele deshalb ein Mechanismus eingebaut, der dafür sorgt, dass uns die Probleme nie ausgehen.

Unbefriedigt jeden Augenblick

Wo Schönes ist, quält uns die Sehnsucht nach Schönerem — oder die Furcht vor seinem Verlust. Und selbst wo das Schöne von Dauer ist, ist kein Frieden, denn dann droht die Langeweile. Was für eine seltsame Konstruktion ist der menschliche Geist! Das Angenehme, an das man sich gewöhnt hat, wird nach einer Weile nicht mehr als außergewöhnlich beglückend wahrgenommen. Oder in einer poetischen Beschreibung Jacques Brels über die Marquesas-Inseln: „Da es keinen Winter gibt, ist dies hier nicht der Sommer.“

Sind wir Menschen etwa „strukturell paradiesunfähig“, weil wir das Glück nur vor dem Hintergrund des Unglücks genießen können?

Der Sage nach hielt sich ein gewisser Tannhäuser Jahre lang im „Venusberg“ auf, dem Inbegriff des sexuellen Paradieses. Sogar Göttin Venus selbst gibt sich ihm willig hin, und was tat dieser Idiot? Er lief davon: „Nicht Lust allein liegt mir am Herzen, aus Freuden sehn ich mich nach Schmerzen.“ Leider treffen diese Verse von Richard Wagner die menschliche Psychodynamik recht gut.

Das Paradies gleicht eher dem Horizont als einem geografisch fixierbaren Ort. Es neigt dazu, sich von uns zu entfernen, egal, wo wir es suchen. Zu dieser pessimistischen Einschätzung kann man jedenfalls kommen, wenn man verschiedene Wege untersucht, die Menschen auf der Suche nach dem Paradies beschritten haben.

Künstliche Paradiese (Drogen)? Katerstimmung und Absturz folgen ihnen auf den Fuß. Virtuelle Paradiese (Computerspiele)? Nur ein gepixeltes Glück, das den Körper nicht mit einbezieht. Urlaubsparadiese? Nur ein Glück auf Zeit, bei dem man mit Grausen den Abreisetermin herannahen sieht. Sexuelle Ausschweifung? Wird rasch schal und lässt die Seele unbefriedigt. Milliardär sein? Na ja, probieren Sie‘s aus, ich kann dazu aus eigener Erfahrung nichts sagen. Aber ich vermute: Was Geld und Erfolg anbelangt, so wächst der Hunger eher noch beim Essen.

Ist Glück „unter unserem Niveau“?

Ist die menschliche Existenz eine Fehlkonstruktion, die schon an einer ihrer Grundbedingungen scheitert — dem Sterben? Ein Film, von dem man schon vorab weiß, dass er mit dem Tod des Helden enden wird, taugt nicht zum „Feelgood Movie“. Es sei denn, wir begreifen, dass wir nicht die sterbliche Filmfigur sind, sondern der unsterbliche Zuschauer. Solche Glaubensvorstellungen haben in den östlichen Religionen Hinduismus und Buddhismus eine lange Tradition. In einem hinduistischen Quellentext, der Katha-Upanishad, führt der Totengott Yama den sterbenden Nachiketa ins Jenseits.

Er bietet ihm den Aufenthalt in einem paradiesartigen Jenseitsreich an. Der Sterbende aber weigert sich, das Paradies zu betreten. Seine Begründung ist — sinngemäß — folgende: Solange ich im Paradies bin, befinde ich mich noch immer in der Welt der Dualität. Glück ist hier bedingt durch sein Gegenteil, das Unglück. Ich bin also nach wie vor im Kreislauf der Wiedergeburten gefangen. Die Befreiung jedoch kann ich nur außerhalb der Dualität finden: in meinem wahren Selbst (Atman), das eins ist mit dem universellen Selbst (Brahman).

Die östlichen Religionen vertreten hier eine strenge, eher pessimistische Auffassung. Glückseligkeit ist für ernsthaft Suchende quasi „unter ihrem Niveau“.

Denn wenn der Meditierende die Bewusstseinsschicht der Ekstase durchdringt, gelangt er zu einer noch tiefer liegenden Schicht, die „Leere“ genannt wird oder „Auslöschung“. Das Paradies wäre demnach nur ein Zwischenschritt, nicht das Ziel.

Wenn sie ihren Körper und die Außenwelt vollkommen ausblenden, können fortgeschrittene Yogis Geisteszustände erreichen, die wir „gewöhnlichen Menschen“ nur erahnen können. Das Ganze hat aber eine Kehrseite: Wer die Dualität abwertet, die immer Freude und Leid beinhaltet, muss auch die Außenwelt verneinen, die nun einmal als dual — in Gegensätzen — erlebt wird. Im Osten neigen Menschen deshalb dazu, die innere Welt zu kultivieren und die äußere verwahrlosen zu lassen, im Westen ist es eher umgekehrt.

Frei sein heißt, nicht mehr auf Befreiung zu hoffen

Hier stellt sich eine spannende Frage: Sind wir Menschen nur deshalb „inkarniert“ (wörtlich: Fleisch geworden), um Wege zu suchen, der Materie gleich wieder zu entfliehen? Dazu eine kleine Geschichte:

Ein tibetischer Lama ging an einer Höhle vorbei, wo ein asketischer Yogi unablässig meditierte. Da er wusste, dass der Besucher ein bedeutender Meister war, fragte ihn der Asket, wie viele Male er sich noch auf der Erde inkarnieren müsse. „Noch dreimal“, antwortete der Meister. „Mist“, fluchte der Höhlenbewohner.

„Noch dreimal auf dieser elenden Erde! Ich werde noch strengere Askese üben müssen, dann schaffe ich es vielleicht in zwei Leben, von hier fort zu kommen.“

Bald darauf ging der Lama an einem Feld vorbei, auf dem ein Bauer gerade pflügte. Auch dieser fragte ihn, wie oft er sich noch inkarnieren müsse. „Noch 679-mal“, sagte der Lama. „Wie schön!“, freute sich der Bauer.

„Das heißt, ich darf noch 679-mal die liebe Erde zwischen meinen Fingern zerbröseln, in den blauen Himmel sehen, den Wind auf meiner Haut spüren, frisches Wasser trinken und den Duft von frisch geschnittenem Heu riechen.“

Vor lauter Freude über die gute Nachricht tanzte der Bauer ausgelassen auf dem Feld. Es heißt, noch im selben Augenblick habe er die volle Erleuchtung erlangt.

In dieser Geschichte besteht die Befreiung darin, gar nicht mehr befreit werden zu wollen. Die Vollkommenheit tritt nur dann ein, wenn wir auch im scheinbar Unvollkommenen das Heilige erblicken können. Mit anderen Worten: Auf dieser Erde finden wir das Paradies nur unter Einbeziehung des Unvollkommenen, oder wir finden es nie.

Eine Insel, die wir erst erschaffen müssen

Es kann tröstlich sein, zu denken, dass wir auf dem Grund unserer Seele dem Paradies angehören, dass wir sozusagen auf das Paradies hin „konstruiert“ wurden. An die Vorstellung, dass wir das Paradies — manche sagen: die Buddhanatur, das Christus-Bewusstsein — eigentlich immer in uns tragen, kann man glauben oder nicht. Jedenfalls bedeutet dies aber nicht, dass wir die Gestaltung unseres äußeren Lebensumfelds vernachlässigen sollten. Im Gegenteil. Das, was wir im Innersten sind, ruft uns auf, nach außen getragen zu werden.

Also pflanzt Himbeersträucher und Ringelblumen, legt Teiche an, lasst eure Körper mit duftenden Ölen massieren, lauscht der wundervollsten Musik, die je geschrieben wurde, liebt euch — und sorgt nicht zuletzt auch für eine Gesellschaftsordnung, in der es gerecht zugeht.

Es mag nicht unmöglich sein, einsam in einem grauen Betonsilo zu wohnen, von autoritären Parteien regiert zu werden und dennoch das Paradies im Herzen zu tragen. Aber es ist höllisch schwer. Machen wir es uns doch ein bisschen leichter!

Jacques Brel jedenfalls hielt die Kluft zwischen dem Paradies, das unerreichbar scheint, und dem Fegefeuer, das unseren Alltag ausmacht, nicht für unüberwindlich: „Eine Insel, die wir erst noch erschaffen müssen“, nannte er das Paradies in seinem eingangs zitierten Lied. „Schau, die Insel ist schon unterwegs zu uns. Seit sich die Pforten der Kindheit öffneten, hat sie in unseren Augen geschlafen.“


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