Das opportunistische Manifest
Der Marxismus ist angesichts des Versagens der Linken in der Coronakrise obsolet geworden — dabei könnten wir manche Erkenntnisse des Philosophen heute gut brauchen.
Links ist, wo man dich als rechts beschimpft. Von jener politischen Richtung, die auf eine besonders ausgeprägte revolutionäre Vergangenheit zurückblickt, hört man so gut wie nichts Kritisches zur Coronapolitik der Regierung. Obwohl es der klassischen Klientel von Sozialisten, den sozial Benachteiligten, infolge der Maßnahmen weitaus schlechter geht als zuvor. Vonseiten der Linken kommen diesbezüglich aber nur laue Aufforderungen zu ein wenig mehr Umverteilung von oben nach unten. Sehr viel Energie wird aufgewendet, um sich wortreich von der Corona-Protestbewegung zu distanzieren — so als seien es Querdenker, die uns zu Hause einsperren und uns vorschreiben wollen, wen wir privat zu treffen haben. Zwei naheliegende Gründe gibt es für dieses befremdliche Verhalten der meisten Linken: deren ausgeprägten Materialismus und das traditionell geringe Interesse an den bürgerlichen Freiheiten. Wollen wir die guten Ansätze der Philosophie von Karl Marx wiederentdecken, müssen wir den Philosophen zuerst aus der politischen Quarantäne befreien, in die man ihn gesteckt hat.
Schon im ersten Lockdown, also bald nach dem „Ausbruch“ der Pandemie in Deutschland — es war ja zunächst eher eine ausgerufene als eine ausgebrochene Pandemie — entstand bei mir diese bildliche Vorstellung: „Oh je, das könnte aber in eine Sackgasse führen!“ Wenn Politik und Leitmedien wegen einer solchen Bedrohung, die eben nicht so gewaltig ist wie öffentlich dargestellt, sondern eher am oberen Rand stärkerer Grippewellen verläuft, einen derartigen Notstand inszenieren, wie sollen „wir“ dann da jemals wieder rauskommen? Solche Bedrohungen wird es immer wieder geben.
Im Sommer blieb ich zunächst beim Sackgassen-Bild: Wenn selbst bei insgesamt harmlosen „Zahlen“ und „Fällen“ so viel Aufregung generiert wird, wie soll das erst im Winter werden?
Würde dann für jeweils ein halbes Jahr die Hälfte der bürgerlichen Grundrechte stark eingeschränkt oder quasi ganz aufgehoben? Hier meine ich zum Beispiel das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2), das Verbot jeglicher Benachteiligung aufgrund von religiösen oder politischen Anschauungen (Art. 3), das Recht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4) wie auch jenes auf freie Meinungsäußerung (Art. 5) — mit dem schönen Zusatz „Eine Zensur findet nicht statt“ —, die Versammlungsfreiheit (Art. 8), das Fernmeldegeheimnis (Art. 10), die Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet (Art. 11) und andere mehr.
Eine Sackgasse endet an einer Mauer oder in einer toten Schleife. Wenn man die Schilder zuvor nicht beachtet hat, fährt man bis kurz vor das Hindernis, hat dann normalerweise eine, meist mit Enttäuschung und Ärger verbundene, Einsicht — und wendet. Das Bild von der Sackgasse war indes, wie ich nach und nach erkennen musste, offensichtlich falsch. Ich stand allerdings nicht allein mit meinem Irrtum, denn viele Lockdown-Kritiker und Corona-Entdramatisierer hatten ähnliche Vorstellungen: Irgendwann müssten „sie“, unsere Drama-Verantwortlichen, doch zur Einsicht kommen! Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Eigentlich hatten viele von uns doch noch gar keine so rundum schlechte Meinung von unseren Politikern und Medien: Besser spät als nie würden sie ihren Irrtum einsehen.
Besser spät als nie aber sollten vielmehr wir Skeptiker unsere eigenen falschen Erwartungen und Hoffnungen infrage stellen! Mir ist zwischenzeitlich ein neues Bild gekommen: Politik und Mainstream-Medien sind mit dem Ausrufen der Pandemie keinesfalls in eine Sackgasse abgebogen, sondern haben vielmehr eine mühsam erscheinende Auffahrt auf eine neue Autobahn gewählt. Mittlerweile geht die Fahrt in ziemlich hoher Geschwindigkeit Richtung Zukunft.
Wohin führt diese Reise? Während größere Teile des Mittelstandes abgehängt beziehungsweise zu Arbeitnehmern, Arbeitslosen oder dauerhaften Transferempfängern degradiert werden, bewegt sich das System im Eiltempo auf eine Welt zu, in der es der Pharmaindustrie, großen Digitalkonzernen und den Banken prächtig geht. Eine Welt, in der eine wie selbstverständlich scheinende, dauerhafte Aktivierung des Polizeistaats bei Lappalien — Abstandsregeln, Maskenkontrolle — und eine Militarisierung des Gesundheitswesens — mittels Verordnungen und symbolträchtigen „durchgetakteten“ Impfzentren — dafür sorgen, dass die Masse der Bürger, ihrer Freiheitsrechte zu erheblichen Teilen beraubt, mitzieht.
Eine Welt, in der sich der Staat in unfassbarer Überschuldung unter anderem bei Privatbanken reichlich Gelder leiht, um sie für die „Digitalisierung des Bildungswesens“ an die IT-Konzerne weiterzureichen — für einen „Fortschritt“ in Sachen Bildung, bei dem Eltern und Lehrern gleichermaßen die Haare zu Berge stehen: Homeschooling. Eine Welt mit einem vielleicht nicht ganz originär neuen, aber doch in seiner Qualität „neuartigen“, zwanghaften und mithin die Gesellschaft zwingenden Geschäftsmodell.
Wie gesagt, Bedrohungen vom Schlage „Covid-19“ wird es immer wieder geben, und das ist das Wunderbare an diesem Geschäftsmodell.
Statt eines Hurra! für den Humanismus höre ich ein Heureka! für dieses neue Perpetuum mobile des autoritären Kapitalismus.
Linke Kritik: Die Wurzeln des Versagens
Warum gibt es an dieser Entwicklung keine ausgeprägte Kritik von links? Das habe ich mich in diesem langen Pandemiejahr Nr. 1 immer wieder gefragt. Sicher hat es vereinzelte Wortmeldungen und Artikel von linken Gesellschaftswissenschaftlern, Journalisten oder Politikern gegeben, aber die Betreffenden waren nach meinem Eindruck schon zum jeweiligen Zeitpunkt in ihren Institutionen überwiegend Außenseiter oder sind es spätestens dann sehr schnell geworden. Das Gros der Linken jedenfalls reitet mit den Pandemiewellen und der amtlichen Politik. Es verwendet offenbar überschüssige Energien darauf, Skeptiker der Lockdown-, Test- und Impfstrategien für verrückt bis gefährlich oder gar faschistisch zu erklären.
Es ist nobel, aber auch leicht, sich darüber aufzuregen, dass Corona und Lockdown die Armen oder anderweitig Schwächeren härter trifft als die Reichen und Starken. Von diesen Reflexen und gewohnheitsmäßigen Aufregungen der Linken gibt es auch jetzt reichlich, zum Teil detailliert nachvollzogen und scharf formuliert. Besser als nichts. Aber soll das eine ausreichende linke Kritik des „Corona-Regimes“ sein?
Hätte Marx nicht etwas mehr zu dieser Entwicklung zu sagen gehabt? Ich glaube, er würde sich als Kritiker dieser Situation gut zurechtfinden, aber ich fürchte gleichwohl, von der marxistisch geprägten Linken wird keine solche Fundamentalkritik kommen. Zwei Faktoren scheinen dabei eine maßgebliche Rolle zu spielen: die naturwissenschaftliche Weltanschauung der Linken und deren traditionell geringes Interesse an bürgerlichen Freiheiten.
Punkt 1: Naturwissenschaft und naturwissenschaftliche Weltanschauung sind nicht das Gleiche! Es hat in 150 Jahren Marxismus wenige Marxisten gegeben, die sich für die Grenzen der Naturwissenschaft interessiert haben — und auch nicht sehr viele mehr, die die konkrete Gestalt der Naturwissenschaften beziehungsweise deren Erkenntnisse und deren Nutzen marxistisch hinterfragt hätten.
Und heute? Vielleicht ist der naturwissenschaftliche Glaube mittlerweile so etwas wie die letzte Pseudogewissheit, die Marxisten noch geblieben ist, nachdem die Sache mit der historischen Wahrheitswissenschaft so gründlich danebenging.
Handelt es sich vielleicht um das letzte verbliebene Argument, um einen Fortschrittsglauben zu begründen? Wer aber die „wissenschaftliche Wahrheit“ auf seiner Seite wähnt, für den gibt es keine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern nur feststehende Erkenntnisse und Wissenschaft. Der stempelt sogar wissenschaftliche Minderheiten zu verdächtigen Subjekten ab und findet es wenig problematisch, wenn die so Diffamierten „beobachtet“ werden beziehungsweise im Bedarfsfall diese Personen oder ihre Meinungen aus der wahrnehmbaren Öffentlichkeit verschwinden. Was im vergangenen Jahr diesbezüglich zu beobachten war, kann man durchaus als neue Ketzerverfolgung bezeichnen.
Punkt 2: Bürgerliche Freiheiten sind traditionell kein marxistisches Thema, während sich die nichtmarxistische Linke, etwa der Anarchismus, viel stärker für diese Freiheiten und ihre Radikalisierungen interessierte. Es erschiene vielleicht unfair, über die bürgerlichen Freiheiten im Realen Sozialismus zu ätzen — obwohl Marxisten traditionell gerne ätzen —, weil es irgendwie „gratis“ wäre, aber auch, weil es doch eine Reihe von Marxisten gab und noch gibt, die sich nie mit diesem Realität gewordenen Modell von Sozialismus identifiziert haben oder eben zumindest retrospektiv sehr nachdenklich geworden sind.
Karl Marx und Friedrich Engels waren bekanntlich zum Beispiel in Sachen Religion nicht gerade sensibel. Auch bei anderen Themen, die für sie zu viel mit feudalen Traditionen oder bürgerlicher Verlogenheit zu tun hatten, muss man ihre Kritik als weit übers Ziel hinausschießend beurteilen: Was sind allgemeine Menschenrechte wert, wenn sie für den Großteil der Menschen eben nicht gelten?
Apropos Kritik: Auch gegenüber philosophisch oder politisch Andersdenkenden verhielten sich die beiden nicht eben zimperlich. Auch wenn diese oft pointierte und geistreiche Aggression nur auf dem Papier stattfand und sich heute noch vielfach mit Freude lesen lässt, sollte man die Rigorosität darin gelegentlich in Frage stellen: Ging es noch um die Sache?
Nach ihrem Selbstverständnis waren sie zweifellos Freiheitskämpfer. Sie haben von den politischen Freiheiten, sofern diese bereits existierten, reichlich Gebrauch gemacht. Allerdings gingen sie davon aus, dass es der Freiheiten noch viel mehr geben werde, wenn erst die Unterjochung durch Profitzwang und Ausbeutung enden würde — wenn also das historische Subjekt Arbeiterklasse, das sie konkret vor Augen hatten, die wahre Demokratie erobern könnte. Es ließe sich sagen: Angesichts dieser großartigen Perspektive, heute müsste man von Illusion sprechen, haben sie die bürgerlichen Freiheiten eher gering geschätzt. Der Rest ist bekannt: Der nachlässige bis ignorante Umgang mit bürgerlichen Freiheiten, aber auch die Aggression gegen Andersdenkende und Minderheitenmeinungen et cetera blieb in der Folge nicht mehr auf schriftstellerische Hinrichtungen beschränkt.
Man muss gar nicht die verschiedenen Zerrformen von Realem Sozialismus durchleuchten, denn auch im Westen, wo Marxisten in der Minderheit waren, haben sie sich selten konstruktiv mit Minderheiten in den eigenen Reihen ausgetauscht. Ob in großen Parteien oder Splittergruppen: Irgendwie schien Toleranz ein Fremdwort. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Immer wieder haben sich nach Kriegsende, nach dem breiten Bekanntwerden der stalinistischen Exzesse, nach 1968 und den Erfahrungen mit den K-Bewegungen, aber erst recht nach 1989 Linke und Ex-Linke für bürgerliche Freiheiten, Toleranz und Grundrechte nicht nur interessiert, sondern ihren teilweise erheblichen Nachholbedarf enthusiastisch wie auch öffentlichkeitswirksam befriedigt. Sie hatten damit im Prinzip Recht: Ohne politischen Liberalismus entsteht kein Reich der Freiheit. Letzteres war für Marx der Kommunismus. So weit, so gut.
Warum man sich für nachholende Wertschätzung des Liberalismus so herzhaft an den Busen des Großkapitals drücken muss wie manche bekannte Ex-Linke, das bleibt bis heute — kein Rätsel.
Fürs Mitmachen, zumindest in den Kommandozentralen der Elite sowie für die Posten nach der Politikerkarriere sind Konditionen vorgegeben.
Also, von Links kommt sie vorerst nicht, die Kritik des neuen kapitalistischen Regimes. Es erscheint tatsächlich schwierig, im Werkzeugkoffer des Marxismus ad hoc Nützliches zu finden, um die gegenwärtige Krise der bürgerlichen und politischen Freiheiten zu analysieren. Auch für den grundsätzlichen Umgang mit der Natur — schließlich war bis vor Corona Klima das Thema schlechthin — scheinen wir darin wenig Brauchbares zu entdecken. Die Marxisten heute sehen die Natur, anders vielleicht als Marx, der manchmal in Ansätzen nahezu naturromantisch sein konnte, mehr denn je mit den Augen von Technokraten: primär als Objekt der Ausbeutung und Beherrschung, mit leidenschaftlicher oder manchmal auch nur geheuchelter Begeisterung für jede noch so aberwitzige Produktivkraftsteigerung und technische Revolution.
Marx über die Perspektiven der Menschheit
Die Linke ist in einer Sackgasse, der autoritäre Kapitalismus fährt derzeit frohen Mutes auf der Autobahn. Man studiere die Aktienkurse. Doch Moment mal! Wenn wir vom Marxismus nicht erwarten, was er nicht leisten kann, und wenn wir Marx als Philosophen wertschätzen und seine historischen Prognosen als zumindest vorerst erledigt betrachten — niemand wird behaupten wollen, dass er diese Prognosen aufs 21. Jahrhundert bezog! —, dann können wir von ihm doch etwas lernen, was in diesen Zeiten hilft: den Glauben nicht zu verlieren. Mit Glauben mag natürlich kaum ein Marxist etwas zu tun haben wollen, und es ist wohl schon richtig, dass ohne politische Aktion diesem Glauben die Luft ausgehen wird, aber es bleibt vorerst ein Glaube: in die Menschheit oder „den“ Menschen.
Karl Marx nannte es den „Gattungscharakter“ der Menschheit, dass sie als Subjekt bewusst handelt. In gewisser Weise könnte die gegenwärtige Entwicklung wie eine Karikatur oder Farce darauf wirken, denn „die“ Menschheit scheint während der Corona-Krise in weiten Teilen synchron oder gar koordiniert zu agieren. Allerdings ist, wenn man genauer hinschaut, auch unter denen, die sich an Autoritarismus überbieten, viel Konkurrenz im Spiel — und es gibt Ausnahmen von diesem angeblich alternativlosen Kurs.
Im Kapitalismus, so Marx, sei die Realisierung dieses Gattungscharakters allerdings nur „entfremdet“ möglich: Die Menschheit macht ihre Geschichte zwar irgendwie selbst, aber nicht bei vollem Bewusstsein, sondern gesteuert vom Profitprinzip, das sie entfesselt hat. Der Mensch und die Menschheit sind von ihrem eigenen Potenzial entfremdet. Das heutige Mensch-Natur-Verhältnis entspricht dieser grundlegenden Entfremdung. Für Marx wird die Geschichte nicht vom technischen Fortschritt vorangetrieben, sondern vom Akkumulationszwang des Kapitals, der dazu führt, dass bestimmte Pfade der technischen Entwicklung eingeschlagen werden. So schreibt er im Kapital (1867): „Die kapitalistische Produktion entwickelt nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“
Theodor Adorno und Max Horkheimer haben später in der Dialektik der Aufklärung (1944), unter dem Eindruck von Weltkrieg und Nazidiktatur, aber auch US-amerikanischen Spätkapitalismus, das gestörte Naturverhältnis für die Menschheit gewissermaßen zum unentrinnbaren Schicksal erklärt: Sprache und Verstand seien von Anfang an aus der Notwendigkeit heraus entwickelt worden, über die Natur zu herrschen, ging es doch zunächst ums nackte Überleben, und jeder Zuwachs an Kontrolle der tendenziell feindlichen Natur war ein Fortschritt. Ein empathisches Verstehen der Natur sei diesem Denken nicht möglich. Ende aus, Amen. Pech gehabt? Das Kontrollbedürfnis habe demnach im Lauf der Geschichte dazu geführt, dass Kräfte entfesselt wurden, die nun selbst offenbar kaum noch zu kontrollieren seien. Man kann es so sehen. Die Geschichte jedenfalls hat seither die „anthropologischen“ Argumente noch plausibler erscheinen lassen.
Bei dieser naturgeschichtsphilosophischen Analyse wird jedoch von den konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen abgesehen. Vielleicht war also die Analyse von Marx diesbezüglich plausibler: Solange die Menschen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse nicht bewusst regeln, das heißt, den Profit- und Ausbeutungszwang abschaffen, ist weder der Menschheit noch ihren Individuen eine freie Entwicklung oder ein freier Umgang mit der Natur möglich. Die Natur „rächt“ sich für das irrationale Naturverhältnis, für die rücksichtslose Herrschaft über sie. Und was für die äußere Natur gilt, ihre Zurichtung zwecks Verwertung, trifft nicht minder auf die innere Natur des Menschen zu, also auch auf das Verhältnis von Leib und Seele.
Der Kapitalismus verwandelt alle Zeit in Zeit für die Verwertung. In der Arbeit hat sich der Mensch dabei ständig neuen „Zielen“ zu unterwerfen, die trotz aller Freiheiten und Selbstverwirklichungsaspekte auf Profitmaximierung ausgerichtet sind. Es wird ständig Bilanz gezogen. Wer nicht mitkommt, bleibt eben auf der Strecke. Auch in der „Freizeit“ ist der Mensch als Konsumsubjekt verplant, er soll seine Konsumfreiheit zur eigenen Regeneration und zum Wohl des Ganzen nutzen. Damit haben sich später Adornos Erben ausgiebig beschäftigt, zum Beispiel Erich Fromm und Herbert Marcuse. Sie konnten zeigen, wie viel psychischer und sozialer Zwang in der Konsumfreiheit steckt beziehungsweise welche subtilen Mechanismen, aber auch generalstabsmäßigen Planungen dafür sorgen, dass die eigentlich relevante Frage verdrängt wird: „Wer braucht das?“
Wann haben Sie sich zuletzt gefragt oder verärgert überlegt, aus welchem Anlass oder Grund bestimmte Innovationen in Ihrem persönlichen Warenpark vorgenommen wurden? Warum Sie zum Beispiel Ihr altes Handy oder Ihren alten PC durch ein neues Gerät ersetzt haben? Nun, zumindest im Nachhinein werden die meisten Konsumenten dann doch von den Bequemlichkeiten überzeugt. Wolfgang Fritz Haug, Vertreter einer anderen marxistischen „kritischen Theorie“, hat einmal sinngemäß über diese Zurichtung des Bürgers zum Verbraucher gesagt: „Wer sich in der Konsumwelt hinsetzt, läuft Gefahr, irgendwann nicht mehr aufstehen, geschweige denn gehen zu können.“
Vielleicht besteht ein Aspekt des neuen autoritären Kapitalismus darin, subtile Konsumzwänge in brachiale zu verwandeln.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Zwangsdigitalisierung mithilfe von persönlichen und staatlichen Schulden „durchgezogen“ und auch noch bejubelt oder gar als „viel zu langsam“ kritisiert wird — das gehört zu dem gegenwärtigen politischen Überbietungswettbewerb an Verrücktheit — da kann von Freiheiten keine Rede mehr sein.
Auch die militarisierte Impfkampagne lässt sich als Konsumzwang verstehen: Nachdem uns ein Jahr lang der Gebrauchswert dieser „Lebensversicherung“ schmackhaft gemacht wurde, werden nun Zuckerbrot und Peitsche aus dem Schrank geholt. Wie könnte man W. F. Haugs Formel an diese Zeiten anpassen? Vielleicht so: „Wer auf diesen Stuhl geschnallt wird, der soll gar nicht mehr ans Aufstehen denken — oder sogar Angst davor haben.“
Der Mainstream des Marxismus setzte allzeit auf weitere Produktivkraftsteigerung. Die dahinterstehende Annahme oder nennen wir es heute Utopie: Mit dieser Entwicklung stiege — im Sozialismus (!) — der Anteil der kostenlos abgegebenen Waren und Dienstleistungen. Arbeit würde immer weniger individuell zum Existieren „benötigt“, um also am Konsum teilzuhaben; die Arbeitszeit verkürzte sich mehr und mehr. Gleichzeitig verlören Konsumbedürfnisse ihre Funktion für das profitsuchende Kapital und damit für die konkrete Gestaltung der Arbeit.
Schon um 1880 schien diese Option historisch greifbar nahe: Die allseitige Entwicklung der Bedürfnisse, befreit von den Zwängen des Profits, würde mit der sozialistischen Revolution Schritt für Schritt Wirklichkeit. Die Freizeit geriete mehr und mehr zur wahrhaft freien Zeit, da sie weder an die Produktion noch an die Reproduktion — jene der Arbeitskraft — gekoppelt wäre. So könnte sie selbst als größte Produktivkraft auf die Arbeit zurückwirken. Die sich umfassend bildenden Menschen, heute würde man von „innerem Wachstum“ sprechen, entwickeln neue Bedürfnisse und produzieren für neuen Bedürfnisse. Arbeit kann auf diese Weise von der Last zur Lust werden, zumindest zum größten Teil.
150 Jahre später, nach gigantischen Produktivkraftsteigerungen und mehreren industriellen Revolutionen, könnte man zum einen bemerken, dass ein Teil dieser Freiheiten und Entwicklungspotenziale sogar im sozial gezähmten Kapitalismus selbst möglich und für manche Arbeitnehmer wie auch Unternehmer real geworden war. Soziale Sicherheiten haben fundamentale Freiheiten mit sich gebracht: Dass der Arbeiter und die Arbeiterin ihre Haut nicht mehr ganz ungeschützt zu Markte tragen müssen, hat sie erst zu Bürgern werden lassen, das konnte Marx nicht ahnen. Das linke Projekt Arbeitszeitverkürzung schien zudem darauf hinzudeuten, dass im Kapitalismus noch mehr solcher „Sozialismus“ möglich sein könnte — bis der Neoliberalismus dem ein Ende setzte und die Systemkonkurrenz endete.
Es gab und gibt offenbar mehr wahres Leben im falschen System, als sich die linken Vordenker dereinst vorstellen konnten.
Allerdings galt und gilt dies, und das sahen sie richtig, nicht für alle und geschah oft auf Kosten von anderen, umso deutlich erkennbar, je mehr der Blick global erweitert wurde.
Nicht zuletzt war das alles nur unter zwanghaftem Wachstum möglich. Und offenbar war es nur eine Episode: die „Zähmung“ des Kapitalismus.
Die Liebe zum Menschen und zur Natur
Im Großen und Ganzen klingt die Marxsche „Prognose“ heute wie eine Utopie — und sie sollte doch gerade das nicht sein! Im Übrigen erscheint auch das für irgendwann in ferner Zukunft vorausgesagte Absterben des Staates heute als schwer romantische Utopie. Uns Nachgeborenen leuchtet möglicherweise auch weniger ein, wie durch eine Diktatur die wahre Demokratie entstehen kann. Das wäre ein eigenes Thema und würde wiederum auf die Geringschätzung bürgerlicher Freiheiten seitens des Marxismus führen. Vorerst jedenfalls müssen wir, bei Ausbleiben sozialistischer Perspektiven, froh sein, wenn sich in dieser epochalen Zwischenzeit genügend liberale Geister welcher Couleur auch immer dafür verwenden, dass dem Staat oder der Exekutive Grenzen gesetzt und die bürgerlichen Freiheiten geschützt werden.
Vielleicht besteht ein Grundfehler des Marxismus in seiner aggressiven Abwertung von Utopien beziehungsweise auch immer wieder dessen, was an gelebten „Utopien“ innerhalb der bestehenden Gesellschaft versucht wurde und wird. „Das lohnt nicht, es dient nur der Stabilisierung des Systems und der Verzögerung der Revolution.“ Diese Haltung hängt eng mit der oben beschriebenen, forschen Pseudogewissheit zusammen, die historische, ja, die absolute Wahrheit gepachtet zu haben. Sie bedeutet im Nachhinein auch eine massive Selbstabwertung: Wer so danebenlag, von dem wollen viele heute nicht einmal mehr eine Utopie annehmen.
Marx und die Marxisten sind meines Erachtens dennoch wertvoll — als Philosophen. Zum Beispiel Ernst Bloch oder Leo Kofler, zwei verstoßene Intellektuelle des Realen Sozialismus, auch sie haben sich in einigen Punkten geirrt: Bloch unter anderem bei der Atomenergie, Kofler bei Gorbatschow und bei den historischen Rechtfertigungen für den Demokratiemangel im Sozialismus. Irrtümer sind so vergänglich wie Prognosen. Was bleibt, ist der Gehalt ihrer Philosophie. Bloch und Kofler sind bei aller im Sozialismus erlittenen Unbill nicht dem Realen Kapitalismus in die Arme gelaufen und haben an der Utopie vom Gattungscharakter der Menschheit und einem positiven Menschenbild — poetischer gesagt: an der Liebe zur Natur und zum Menschen — festgehalten.
Solcherart philosophisch begründete Hoffnung wäre ein gutes Antidot zum modernen Kulturpessimismus, welcher da lautet: „Der“ Mensch „bringt es einfach nicht auf die Reihe“. Dieses nihilistische Bild vom Homo Sapiens ist zwar eher in der langen und rauen Realität der kapitalistischen Gesellschaft entstanden, als dass es in den Genen liegt, doch erfüllt es hier wundervoll seinen repressiven Zweck. Wenn es unterm Kapitalismus nicht gelingt, Mensch und Natur füreinander zu befreien und miteinander in Einklang zu bringen, dann soll es am Unvermögen des Menschen „an sich“ liegen. Mit anderen Worten: „Wir“ sind vom Wesen her Versager oder eben alle selbst schuld, statt dass es an der Macht des Kapitals und der Zwanghaftigkeit des Kapitalismus liegt, die Entwicklung zu steuern, auch wenn die Autobahn auf einen Abgrund zuführt.
Vielleicht hilft gegen die philosophische Verdrehung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zum zweckdienlichen Nihilismus auch eine sehr bekannte und sehr fundamentale Hypothese im Kommunistischen Manifest: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ Es mag wie eine ziemlich billige und naive Kopie erscheinen, und doch starte ich meine eigenen Versuche, mir das Corona-Regime zu erklären, immer mal wieder hypothetisch mit einer Variation dieser Formel:
„Die herrschende Vorstellung der Pandemie ist die der herrschenden Klasse.“ Man könnte es auch konkreter formulieren: „Wem nützt der sich so humanistisch, sozial und solidarisch gebärdende akute Autoritarismus?“
Ich bezweifle, dass Humanismus der Kern dieses Regimes ist, dazu fehlt es schon an Ehrlichkeit im Umgang mit Zahlen und Kollateralschäden der Strategie. Humanismus ist jedoch zweifellos der Kern der marxistischen Philosophie. Marx hätte vielen etwas zu sagen. Daher gebe ich die Hoffnung noch nicht auf, dass er demnächst bei der Linken die Quarantäne verlassen darf.