Eine meiner zahllosen Unterlassungssünden bestand bis unlängst aus einem gepflegten Desinteresse für die Frage, ob das menschliche Dasein ähnlich von Naturgesetzen bestimmt wird wie das materielle Universum. Um genau zu sein: Ich fand, dass sich das Problem von freiem Ausdruck versus Determiniertheit unserer Lebensäußerungen nicht abschließend lösen ließe, und damit könne auch niemand festlegen, ob beziehungsweise welche Entscheidungen richtig oder falsch, das heißt moralisch oder unmoralisch sind.
Wohl habe ich ein wenig in diesen philosophischen Auen gewildert, bin Fragen wie „Was ist Gerechtigkeit?“ nachgegangen und habe Überlegungen zur Freiheit des Individuums angestellt. Dabei gelangte ich sehr oft, sowohl dank eigener Erfahrungen als auch aufgrund von Beobachtungen, Recherchen und Schlussfolgerungen, zu denselben Erkenntnissen, die andere Denker diverser Kulturen in den letzten zweieinhalbtausend Jahren gewonnen haben.
Das ehrt weniger mich selbst als eben jene Mystiker und Philosophen, deren Einsichten in die Natur des Seins sich nach so langer Zeit unter solch veränderten Umständen auch heute bewahrheiten. Es spricht des Weiteren für eine Regelmäßigkeit, ein natürliches Gesetz, das immerwährend, überall, unveränderlich und unausweichlich den Erfolg oder Misserfolg menschlichen Zusammenlebens bestimmt. Dieses Gesetz wird in der westlichen Philosophie „Naturrecht“ genannt.
Das Wort Natur leitet sich vom lateinischen „natura“ (Geburt) ab; es weist im naturrechtlichen Zusammenhang auf die Herleitung unserer Rechte aus den Eigenschaften ab, die dem Menschen qua Geburt von der Natur beziehungsweise von Gott gegeben wurden. Darum bezieht sich das Naturrecht in seiner Geltung auf die menschliche Natur, die conditio humana.
Mein lebenslanges Herumstochern hatte den Nachteil, dass es lang dauerte, bis sich Vermutungen zu Gewissheiten verdichteten, dafür aber den großen Vorteil, dass ich die Zusammenhänge, die das Naturrecht herstellt, nicht einfach als einen weiteren Satz beliebig gestaltbarer Geisteskonstrukte abtun konnte. Man kann es Prüfungen mit herkömmlichen Werkzeugen zur Wahrheitsfindung unterziehen und bestätigt finden.
Die Herleitungen bekannter Naturrechtler wie Jesus von Nazareth, Thomas von Aquin, Gautama Siddhartha, Immanuel Kant und seiner französischen und englischen Aufklärungsgenossen sowie der amerikanischen Gründerväter offenbaren spannende Facetten. Es würde allerdings den Rahmen eines einzelnen Artikels völlig sprengen, unsere Erörterung sozusagen bei Adam und Eva zu beginnen und alle Verästelungen und Varianten zu untersuchen.
Für unsere Zwecke — den selbstbestimmt handelnden Menschen wiederherzustellen, bedarf es keiner Herleitung aus Schriften philosophischer Autoritäten. Naturrecht, wie es hier im Artikel beschrieben wird, ist selbstevident. Es meint ein der Welt intrinsisches Prinzip von Ursache und Wirkung des menschlichen Sozialverhaltens, das radikal vom frei geborenen, zu Vernunft und Gewissen begabten Individuum ausgeht. Es kann nicht nur im Alltag angewendet werden, sondern ist für bestimmte Zwecke sogar unumgänglich. Zur Erläuterung benutze ich zeitgenössische Texte von eher selten in diesem Zusammenhang zitierten Denkern, die es in ermutigend großer Zahl gibt.
Die Hilfestellung des Naturrechts beziehungsweise seiner Fürsprecher ist in dem Sinne konkret, wie die Leserinnen und Leser bereit sind, ihr Leben in seinem Sinne zu führen, nachdem sie seine Grundlagen als wahr erkannt haben.
Wie wenige von jenen, die mit dem Schlachtruf „Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“ durch Deutschlands Straßen ziehen, verstanden haben, dass die Antwort auf die Schleifung des Grundgesetzes mehr Naturrecht statt mehr Demokratie sein müsste, will ich lieber nicht wissen. Mit Gewissheit sagen kann ich aber, dass die folgenden Ausführungen höchste Relevanz für unser aller Leben — nach meiner Meinung sogar für den Fortbestand des essenziell Menschlichen — haben.
Festhalten, es wird aufregend!
In den fast zweihundert Staaten der Erde gibt es ebenso viele verschiedene Festlegungen dessen, was Recht und was Unrecht ist und wie Rechtsbrüche sanktioniert werden sollen. Diese Vielzahl verschiedener Rechtsnormen — man denke an solch extreme Beispiele wie die Scharia, die US-Verfassung oder das Bürgerliche Gesetzbuch —, die sich überdies im Lauf der Zeit in Inhalt und Charakter wandeln, verleitet Menschen häufig dazu, in moralischen Relativismus zu verfallen.
Moralischer Relativismus ist die Auffassung, dass das, was richtig ist, beliebig festgelegt werden kann. Nun ist natürlich nicht abzustreiten, dass sowohl rechtliche als auch moralische Vorstellungen — die sich im weitesten Sinn aneinander anlehnen — tatsächlich genau solcher Willkür entsprungen sind. An welchen Regeln wir unser Verhalten ausrichten, hängt in letzter Instanz von unserem Bild des Menschen und seines Platzes in der Welt ab, und dieses Bild unterscheidet sich von Kultur zu Kultur, von Land zu Land und von Mensch zu Mensch.
In diesem unübersichtlichen Wust miteinander oft unvereinbarer Normen ist zweierlei untergegangen: erstens, die Unterscheidung von Recht, Moral und Ethik, und zweitens, der objektive Unterschied zwischen Richtig und Falsch. Letzterer führt in der Philosophie den Namen „Naturrecht“, aber es gab und gibt ihn unter diversen Namen in allen Kulturen. Am ehesten bekannt sind wahrscheinlich „Thomismus“, „Ursache und Wirkung“, „Karma“ und „Goldene Regel“.
Was sind Recht, Moral und Ethik?
Recht im juristischen Sinne besteht aus durch Autoritäten festgelegten formalen Regeln, die mithilfe staatlicher Gewalt das Verhalten von Individuen und Gruppen in einer Gesellschaft lenken sollen. In den verschiedenen Gesellschaften legen jeweils andere Autoritäten hierbei unterschiedliche Maßstäbe an; allen gemeinsam ist jedoch die Erwartung unbedingten Gehorsams und die Sanktionierung von Verstößen durch staatliche Gewalt.
Juristisches Recht — Verfassungen, Gesetze, Verordnungen und Urteilssprüche — befindet sich, wie wir sehen werden, in direktem Gegensatz zu natürlichem Recht. Letzteres ist, „ein Satz nicht vom Menschen gemachter, bindender und unveränderlicher Bedingungen, die die Folgen des Handelns aller Wesen regeln, die zu ganzheitlicher Intelligenz fähig sind“, so der Naturrechtsaktivist Mark Passio.
Im Sinne des Naturrechts ist ein Recht eine Handlung, die anderen empfindungsfähigen Wesen keinen Schaden verursacht.
Eine simple Feststellung, die in allen Kulturen seit urdenklichen Zeiten verankert ist und die wir als „Goldene Regel“ bezeichnen. Der Verstoß gegen ein natürliches Recht schädigt den Empfänger des Verstoßes; es berechtigt diesen zur Notwehr. Verstöße entfalten langfristige Wirkungen im Gemeinwesen, die zu Unordnung, Unfreiheit und kollektivem Leid führen. Doch nicht nur der Verstoß, auch das Beachten natürlichen Rechts hat Folgen: Das Gemeinwesen gewinnt langfristig an Zusammenhalt, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand. Der bekannteste Begriff für diese Dynamik ist „Karma“ — ein Konzept, das leider meist völlig falsch als persönliches Sündenkonto verstanden wird.
Moral im derzeit geläufigen Sinne ist häufig, aber nicht notwendigerweise, identisch mit dem Befolgen von Gesetzen. Die jeweils gültige Moral ist festgelegt in den konkreten Verhaltensregeln, die in einer Gemeinschaft gelten, also darüber, wie man leben sollte. Sind diese Regeln normiert, spricht man von einem Verhaltenskodex. Abhängig von Kultur und Subkultur der Gruppe, zu der Menschen sich zählen, definiert Moral deren sozial akzeptables Verhalten. Ein Pazifist wird jegliche Kraftanwendung gegen Personen verurteilen, ein Soldat wird das ganz anders sehen.
Im Naturrecht ist jede Handlung moralisch, die keinen Schaden verursacht. Wer anderen Schaden zufügt, also gegen ihre natürlichen Rechte verstößt, handelt unmoralisch.
Stets unmoralisch und damit unrecht sind im Naturrecht Lüge, Diebstahl, Eigentumszerstörung, Einbruch, Nötigung, Vergewaltigung, Körperverletzung, Sklaverei, Gefangennahme und Mord — Handlungen, die das Opfer eines Rechts berauben. Notwehrhandlungen sind dagegen moralisch akzeptabel und stellen niemals Gewalt dar.
Ethik und Moral werden häufig synonym verwendet und es gibt auch eine Vielzahl verwirrender Definitionen ihrer Bedeutung. Landläufig werden unter Ethik jedoch veränderliche Werte und Grundsätze verstanden, die das Handeln des Individuums bestimmen. In der Philosophie dagegen ist Ethik, so der Philosoph Christian Wellmeier, das Nachdenken über die Moral, deren Begründung.
Im Naturrecht ist das Nachdenken über Richtig und Falsch die Voraussetzung für moralisch richtiges Handeln.
Damit handelt, wer nicht bewusst über moralisch richtiges Verhalten nachdenkt, unbewusst und unethisch. Wer nicht ethisch denkt, kann nicht moralisch handeln, das heißt er nimmt seine Rechte nicht wahr und verletzt mit hoher Wahrscheinlichkeit die seiner Mitmenschen. Ohne es zu wissen, handelt er unter Umständen unmoralisch und unrecht.
Bemerkenswert am Naturrecht ist, dass sich ethisches Denken und moralisches Handeln immer harmonisch zueinander verhalten, weil sie sich auf dieselbe Quelle zurückführen lassen: das objektive Wissen um Richtig und Falsch. Dieses Wissen gründet sich auf der Beobachtung von Ursachen und Wirkungen, die unsere Spezies seit ihrem Bestehen führt. Menschen haben daher über Jahrhunderttausende so selbstverständlich in egalitären Gemeinschaften gelebt wie Vögel in Schwärmen. Erst mit dem Entstehen von Zivilisationen, also dem Zusammenleben in hierarchisch organisierten Gesellschaften mit einer Gesetz stiftenden Autorität an der Spitze, die das Befolgen von Befehlen kultivierten, beginnen Recht, Moral und Ethik zu divergieren. Der Schweizer Philosoph Chnopfloch beschreibt treffend die Dynamik, die sich hieraus ergibt:
„Es ist Krieg in dieser Welt, ein Krieg zwischen Moral und Ethik. Um das zu verschleiern, werden diese beiden Wörter gleichgesetzt — um zu verschleiern, dass die Ethik des Einzelnen und die Moral der Gesellschaft auseinandergelaufen sind und sich weit voneinander entfernt haben. Denn nur die Moral kann von den Kontrolleuren manipuliert und für ihre Zwecke missbraucht werden, und nur über die Moral können Menschenmassen kontrolliert werden. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, zu entscheiden, auf welcher Seite wir kämpfen, und wir müssen uns für eine Seite entscheiden, denn heute hat der Mensch nur noch die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: moralisch zu sein und unethisch, oder ethisch zu sein und unmoralisch. Hörst du auf die Gesellschaft und auf das, was andere dir sagen, oder hörst du auf die Gesetze des Lebens, die innere Stimme, welche die Natur eigenhändig in dein Herz geschrieben hat?“
Wie kommt es zu dieser Dynamik?
Wie bereits in vielen meiner Artikel sowie in meinem Buch „Mach was!?“ beschrieben und hergeleitet handelt es sich bei Zivilisationen um Kulturen, die ein Programm zur Kontrolle der Welt beziehungsweise Wirklichkeit abspulen. Ihr gesamtes Tun ist darauf ausgerichtet, unerwünschte Ereignisse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen und gewünschte Ereignisse mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit eintreten zu lassen.
Das erfordert eine Kategorisierung von Phänomenen in positive und negative, denen man sodann mit normierten Handlungen begegnet. Sowohl Kategorisierung als auch Normierung sind nichts anderes als willkürliche Festlegungen. Sie orientieren sich zwar an Schaden und Nutzen, doch die Festlegungen waren von Beginn an — und sind bis heute — stets am Interesse desjenigen orientiert, der sie trifft. Daraus folgen drei naturrechtlich unmoralische Tatsachen:
- Die im Recht kodifizierten Festlegungen erzwingen die Ethik des Gesetzgebers, und diese ist, weil sie die Freiheit der „Untertanen“ verleugnet, intrinsisch soziopathischer Natur, also naturrechtlich unmoralisch;
- Die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Handlungen sind häufig — und die vorgeschriebenen Sanktionen für Nichtbefolgung immer — mit Gewalt gegen Befehlsempfänger verbunden. Daher sind sie naturrechtlich stets unmoralisch.
- Das Befolgen von Regeln und das Ausführen von Befehlen ist stets unmoralisch, weil die Ethik des Befehlsempfängers für ihre Umsetzung keine Rolle spielt. Entweder muss er gegen sein ethisches Verständnis verstoßen, dieses entsprechend den Vorschriften zurechtbiegen oder ethische Überlegungen völlig unterlassen. Dies ist naturrechtlich unethisch und daher unmoralisch und daher unrecht — kurz: falsch. Milde ausgedrückt: Nur weil etwas legal ist, ist es nicht moralisch richtig. Wenn eine gesetzliche oder sonstige Regel dem Naturrecht widerspricht, ist sie schädlich und daher unmoralisch und somit ungültig. Entspricht sie dagegen dem Naturrecht, so ist sie überflüssig. Ob eine Regel legal oder illegal ist, ist naturrechtlich völlig egal.
Der Autor dieser Zeilen lebt in einer intentionalen Gemeinde, nennen wir sie einmal Auringen, die nach den Prinzipien einer Sonderform des Naturrechts gegründet worden ist: des Integralen Yogas. Den Lehren des indischen Philosophen Sri Aurobindo folgend legte die Gründerin, hier nur „M.“ genannt, fest, dass es keine Regierung, keine Gerichte und keine Polizei geben dürfe.
Es sollten keine Gesetze gelten, intern kein Geld verwendet und keine bewusstseinsverändernden Substanzen konsumiert werden. Politik, Tradition und herkömmliche Moral sollten keinen Einfluss auf das Handeln der Stadtbewohner haben, Klatsch und Tratsch vermieden werden. Sie sollten „ein göttliches Leben, jedoch ohne Religion“ führen, ihr Verhalten am höchsten ihnen verfügbaren Bewusstsein ausrichten und ihre Konflikte durch guten Willen lösen. Weshalb? Weil alle hier verneinten Elemente die freie Entscheidung zum Guten beeinflussen, korrumpieren oder gar verhindern.
Nur eine völlig frei gefällte Entscheidung, bei der die objektiven Kriterien für Richtig und Falsch berücksichtigt werden, kann moralisch richtig und gut sein. So stellt Paulus in seinem Brief an die römischen Christen fest, dass sie vom alten, menschengemachten Recht befreit seien, um aus freien Stücken ihrem Gewissen zu folgen, entsprechend der Botschaft des Gottessohns:
„Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, worin wir festgehalten wurden, sodass wir in dem Neuen des Geistes dienen und nicht in dem Alten des Buchstabens.”
Der objektive Unterschied von Richtig und Falsch
Und damit kommen wir zum Kernpunkt, nämlich inwiefern Moralität nicht relativ sondern objektiv feststellbar ist. Moralischer Relativismus bedeutet, dass jede moralische Sichtweise mit jeder beliebigen anderen gleichwertig ist, weil sie alle im Grunde willkürlich eingeführte Regeln darstellen.
Dass dies in der Praxis so gehandhabt wird, ist nicht abzustreiten. Die Vielzahl existierender Moralsysteme zeugt davon. Das heißt jedoch keineswegs, dass es allen moralischen Regeln am konkreten Fundament mangelt. Wir stellen fest, dass bestimmte Regeln — grob gesagt solche, die mit der „Goldenen Regel“ kompatibel sind — in allen Kulturen und zu allen Zeiten gegolten haben. Das spricht bereits für ihre universelle Wirksamkeit in der Welt des Menschen. Es zeigt, dass diejenigen, die ethisch dachten, überall zu denselben Beobachtungen über die menschliche Natur gekommen sind und sie wussten, dass jede Handlung Folgen hat.
Konkret lässt sich feststellen, dass Gemeinschaften, die das Naturgesetz befolgen, zu vermehrter Freiheit, Gerechtigkeit und Prosperität neigen; wo die Naturgesetze bewusst oder unbewusst missachtet werden, verfallen die Sitten, mehrt sich die Ungerechtigkeit und tendiert die Gemeinschaft zu Unfreiheit bis hin zu Sklaverei.
Daher schlossen aufmerksame Beobachter der conditio humana zu allen Zeiten an allen Orten: Ohne Not anderen etwas wegzunehmen, was jenen gehört — Eigentum, Lebenspartner, Leben, Gesundheit, Sicherheit, Freiheit, Wahrheit —, ist unethisch, unmoralisch und unrecht. Oder positiv ausgedrückt: Ein Recht ist eine Handlung, die anderen empfindungsfähigen Wesen keinen Schaden verursacht.
Wenn man Menschen, die glauben, Moral liege im Auge des Betrachters, mit Schaden bringenden Handlungen wie Vergewaltigung, Sklaverei, Mord oder Verlust des Eigentums konfrontiert, werden sie unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund eingestehen, dass solche schlecht sind — außer man hat Psychopathen vor sich. Es ist also nicht egal, welche moralischen Regeln gelten. Die Instanz, die dem Menschen das intuitive Wissen um moralisch richtige und moralisch falsche Handlungen zu Bewusstsein bringt, heißt Gewissen.
Evolutionisten gehen davon aus, dass Lebewesen jede Eigenschaft deshalb von einer Generation an die nächste vererben, weil sie einen evolutionären Vorteil bietet. Gläubige aller Religionen gehen davon aus, dass der Schöpfer den Menschen mit Bedacht derart ausgestattet hat, dass er rechtes von unrechtem Handeln unterscheiden kann und frei ist, von diesem (Ge-)Wissen Gebrauch zu machen.
Die allen Menschen innewohnende Instanz des Gewissens, seine Bestimmung und seine Nützlichkeit zur Erfüllung dieser Bestimmung werden also eher selten offen bestritten. Wir sind von unserer Natur aufgerufen, unser Gewissen anzuhören. Moralischer Relativismus leugnet das Gewissen, Gehorsam unterdrückt es gleich ganz. Beide Haltungen sind kategorisch falsch, nicht nur weil sie unethisch sind, sondern weil sie dem Bösen Tür und Tor öffnen. Totalitarismus bedarf dieser ethischen Armut.
Warum ist die objektive Kenntnis von Richtig und Falsch notwendig?
Dem Gewissen zu folgen, das den objektiven Unterschied zwischen Richtig und Falsch intuitiv kennt, ist zu unser aller Vorteil, denn nur moralisch richtige Handlungen führen zu Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit. Das Gewissen kann vom rationalen Bewusstsein oder den Gefühlen übertönt werden.
Darum ist es wichtig, sich die intuitiven Gewissensinhalte auch rational bewusst zu machen, und es ist gleichermaßen wichtig, ein empathisches Verständnis für das Freiheitsstreben — also die Wahrnehmung von Rechten — anderer fühlender Wesen zu kultivieren. Das Wissen um die Regeln, die die conditio humana bestimmen — mit anderen Worten, das Naturrecht — sind unabdingbar für die Herstellung und den Erhalt eines Gemeinwesens, das Frieden, Glück und Gerechtigkeit dient.
Was sich im Ingenieurswesen von selbst versteht, nämlich dass ein funktionsfähiges Konstrukt nur aufgrund korrekt erhobener Tatsachen und verstandener Gesetzmäßigkeiten gebildet werden kann, gilt auch in der Soziologie: Eine auf Ignoranz gegenüber objektiver Moral basierende Lebensweise kann niemals ein positives Ergebnis nach sich ziehen; dann „funktioniert“ die Gesellschaft eben nicht, sondern versinkt in allen möglichen Formen des Leids. Mehr noch: Nur wenn wir die Gesetze des Lebens befolgen, erlaubt dies die Aussicht auf das Fortbestehen unserer Gattung, stellt der Romanautor Daniel Quinn in seiner Ismael-Trilogie fest.
„Das Gesetz des Lebens beherrscht das Leben nicht, es begünstigt das Leben. Alles, was das Leben begünstigt, fällt unter das Gesetz… das, was ich das Gesetz des Lebens nenne, ist lediglich eine Sammlung evolutionär stabiler Strategien.“
Ivan Illich, wie auch viele andere, war der Überzeugung, dass
„die menschliche Natur ... gerade so vorgegeben (ist) wie die physische Natur, ... eine Gesellschaft kann nur insoweit gut sein, als ihre Prinzipien von der Erkenntnis dieser Natur geprägt sind. (Illichs Werk) „Selbstbegrenzung“ (1973) entstand aus seiner Furcht, dass die Gesellschaft, über die er schrieb, nicht nur die menschliche Natur bedrohte, sondern kurz vor deren völliger Abschaffung stand, ...“
Das Zitat stammt aus David Cayleys neuen Buch „Ivan Illich. An Intellectual Journey“. Diese Abschaffung begann nicht erst mit der Anwendung von Genmanipulationen oder Chip-Implantaten. Sie folgt auf einen lang anhaltenden Erosionsprozesses unserer Fähigkeit, uns selbst zu kennen, das heißt frei im Rahmen dessen zu leben, was man unter anderem als das Gesetz Gottes, das Naturrecht, das Dharma, das Gesetz des Lebens oder den Integralen Yoga kennt.
Wir tun also gut daran, den in unserer menschlichen Natur verankerten Erkenntnissen über Ursache und Wirkung in sozialen Angelegenheiten genauso viel Aufmerksamkeit zu schenken wie den physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Das Gesetz menschlichen Lebens, das heißt die evolutionär stabile Strategie für menschliches Handeln, ist das Naturrecht, wie es von all den unzähligen Gemeinschaften seit Bestehen der Gattung homo praktiziert wurde — nur nicht von unserer Kultur, der Zivilisation.
„Ach!“, höre ich sarkastisch klingende Stimmen rufen. „Das ist ja da, wo du lebst, ganz hervorragend gelungen.“ In der Tat ist das Auringen des 21. Jahrhunderts ein geeignetes Beispiel, das Naturrecht — das Gesetz von Ursache und Wirkung — nachzuweisen.
Gerade weil die Einsichten M.‘s weitgehend unverstanden und unpraktiziert bleiben, gerade weil es in der Bevölkerung eine weit verbreitete Unkenntnis karmischen Wirkens gibt, gerade weil wir mehrheitlich nicht „dem gestorben sind, worin wir festgehalten wurden,“ gerade weil wir Autoritäten mehr vertrauen als dem eigenen Wissen und Gewissen, Polizei durch die Straßen patrouillieren lassen, Gerichte anrufen, uns für unsere Dienste am Nächsten bezahlen lassen, falschen Götzen huldigen, es mit der Ehrlichkeit nicht immer genau nehmen, Politik betreiben, uns durch Amtspersonen einschüchtern sowie uns durch Medien Furcht einflößen lassen und Regelbefolgung mit Moral verwechseln, ist Auringen derzeit ein Ort, der nicht wie proklamiert im Dienste der Wahrheit steht, und daher nicht gerade der Ort, auf den die Welt gewartet hat; denn eben weil wir kollektiv nicht auf unser Gewissen gehört haben, verfehlt unser Gemeinwesen seit Langem seine Bestimmung.
Dass wir uns zweimal überlegen, was wir öffentlich äußern, und dass der Amtsschimmel an allen Ecken wiehert, zeigt unseren heillosen Schrecken vor der (göttlichen) Anarchie, in die hinein uns M. Türen öffnen wollte.
Von der Bedeutung der Freiheit
Nennen wir das Kind doch beim Namen: Anarchie — besser gesagt Anarchonie, die Abwesenheit eines Herrschers — oder Akephalie, die Abwesenheit eines Oberhaupts, sind es, worauf die konsequente Anwendung des Naturrechts gesellschaftlich hinausläuft. Wenn die Ausübung von Macht beziehungsweise Gewalt und das Befolgen von Befehlen oder Gesetzen ausnahmslos unmoralisch, also unrecht und damit falsch sind, dann ist jede Regierung, jede Staatlichkeit, jede Form von Autorität unmoralisch, unrecht, falsch; einschließlich der Demokratie. Wenn in einem Gemeinwesen die freie Entscheidung entsprechend objektiver moralischer Tatsachen gehemmt oder unterbunden wird, und sei es durch Volksabstimmung, dann sind die Menschen in ihm unfrei.
Diese Gesellschaft ist zutiefst unmoralisch, weil sie unsere Lebendigkeit direkt bedroht.
Sie täuscht sich mit weltfremden Debatten über verfassungsmäßige Freiheiten und postmodernen Diskursen zur Wurstigkeit von Definitionen über ihre sklavische Unfähigkeit zu selbstverantwortlichem Handeln hinweg.
„In der Wirklichkeit aber muss man keine langen Bücher schreiben oder lesen, um die Freiheit zu erklären oder zu verstehen. Es reicht völlig aus, etwa auf einen üppig belebten See zu schauen. Alle Wesen, die man dort sieht, sind frei im wahren Sinne des Wortes. Die Freiheit ist die zentrale Regelmäßigkeit der gesamten belebten Natur. Und die ganze Zivilisation hat sich genau gegen diese Regelmäßigkeit gewandt,“
bemerkt Rubikon-Autor Steffen Pichler in seinem Roman „Der goldene Frühling”. Der US-amerikanische Bio-Philosoph George Gorman führt in seinem Buchmanuskript „We the Living, v.1“ an Pichlers Gedanken anknüpfend aus:
„Den eigenen Körper gezielt zu steuern, mit anderen zu interagieren, seine Gewinne zu sichern und seine Optionen abzuwägen, all das spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Erfahrungsprozessen alles Lebendigen. Tiere und Pflanzen verfolgen genau wie wir geschickt den persönlichen Nutzen, denn es ist ausschließlich ihre Willenskraft, die sie beim Leben entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse und Wünsche leitet. … Es ist nur natürlich, dass die Erfahrung eines Daseins ohne Freiheit dem Lebendigen zuwider ist. Selbst die einfachsten Bakterien verhalten sich auf eine Weise unvorhersagbar, die nicht zur Gänze von erkennbaren Ursachen bestimmt ist; das schließt ihre inneren chemischen Prozesse ein — weil sie frei sind, ...“
Und das hat Konsequenzen für die Qualität und das Ende unseres Lebens, wie Steffen Pichler völlig richtig bemerkt. Er folgert, dass es in der Natur — im Gegensatz zu den domestizierten Menschen, Tieren und Pflanzen der zivilisierten Kultur — nur wenig ausgedehntes Siechtum gebe, weil dies die Entfaltungsfreiheit des Lebewesens einschränke. Über das Ende des Lebens schreibt er:
„So ist es sehr wichtig, sich nicht eine natürliche Instanz einzubilden, die das Ende eines jeglichen Lebewesens direkt bestimmt. Sondern es ist umgekehrt so, dass die natürliche Systematik dafür sorgt, dass das Leben eben dann endet, wenn die Existenz nicht mehr bis weit gegen absolut mit der selbstbestimmten Entfaltung der angeborenen Merkmale und somit der Freiheit einhergeht. Das Leben ist insofern quasi die Freiheit, und wenn sie, also die Freiheit, aufhört, dann endet eben auch das Leben.“
Angesichts solcher Überlegungen stelle ich mir schon lange die Frage, ob wir, sofern wir dem Staat und dem Zeitgeist Folge leisten, tatsächlich noch in vollem Umfang lebendig genannt werden können, oder ob man den Zustand der Mehrzahl unserer Mitmenschen nicht als fortgeschrittenes Stadium des Sterbens beschreiben müsste.
Die Korrumpierung des Besten ist das Schlimmste
Und Auringen? Welche Chance hat der Rest der Welt, wenn Modellprojekte wie dieses darin versagen, Naturrecht im Alltag umzusetzen? Nun, zunächst einmal kann man einer Shakespeare‘schen Metapher entsprechend festhalten, dass Unkraut lieblicher riecht als Lilien, die verwesen. Der Gestank nach verrottendem Gedankengut, der von der dominanten Kultur unserer Tage ausgeht, ist belastend genug.
Viel schlimmer ist es jedoch, wenn derselbe Geruch von jenen Menschen oder Orten ausgeht, auf die man mit Bewunderung geschaut hat: der Popstar, der seine Parts von anderen hat einsingen lassen; der Professor, dessen Arbeiten aus den Werken Dritter zusammenkopiert sind; der Priester, der seine Schutzbefohlenen missbraucht; die Umweltschutzorganisation, die sich von den dreckigsten Konzernen ihr Stillhalten hat bezahlen lassen; die Friedenspartei, die unter billigen Vorwänden einen Krieg vom Zaun bricht; der Rebell, der sich gerade dann dem Herdentrieb der Massen unterordnet, wenn seine Fähigkeit zur Kritik gefragt wäre; und eben auch die intentionale Gemeinschaft, die die eigenen Prinzipien nicht mehr versteht und daher das exakte Gegenteil von dem praktiziert, was eigentlich angestrebt war.
Es tut extrem weh, wenn hehre Ziele sich in etwas verwandeln, das Schaden anrichtet, denn nirgends sonst werden Hoffnungen auf eine bessere Welt gründlicher zerstört; nirgends kommt die Irregeleitetheit von Menschen deutlicher zum Ausdruck als dort. Ivan Illich, mit Bezug auf den heilig gesprochenen Kirchenlehrer und Naturrechtler Thomas von Aquin (1225 bis 1274), verwendete für solche Momente den lateinischen Spruch Corruptio optimi pessima — Die Korrumpierung des Besten ist das Schlimmste.
Den Bewohnern von Gemeinschaften wie Auringen, mehr noch als Otto Normalverbraucher, kommt die Aufgabe zu, ihre Grundsätze, den Kern ihres Menschseins, neu verstehen zu lernen. Dass die Gründungsdokumente der Stadt trotz der massiven Unterwanderung durch die Maschine noch immer ungeschmälert Gültigkeit besitzen, kann dabei von Vorteil sein. Das Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen, zwischen Realität und Utopie, erzeugt Irritationen und Schmerzen, die irgendwann an einen Bruchpunkt gelangen, wo es eine Entscheidung erzwingt zwischen „Weiter so“ und „Schluss mit dem Unfug!“ Ich sehe diesen Bruchpunkt erreicht, lokal, national und global.
Das gesellschaftlich Gute manifestiert sich nicht von selbst. Man muss es ohne Zweifel kennen, man muss es mit jeder Faser des Seins wollen, man muss sich bewusst für das Gute entscheiden und schließlich muss man es aktiv umsetzen. Menschen müssen und Menschen werden hierfür ihre gesamte Existenz in die Waagschale werfen, denn alles andere wäre eine Entscheidung im Sinne von „Weiter so“, und dies wäre gleichbedeutend mit einem Todesurteil für das Gute in uns, vielleicht sogar für die Spezies.
Wir sind nicht für Einsamkeit, Sklaverei, Lüge und Gier geschaffen. Das Geschrei jedes an der Flasche hängenden Neugeborenen, die Aufsässigkeit jedes Schlüsselkinds und die unentwegte Rebellion der Teenager, über die schon die alten Sumerer geklagt haben, könnten uns genau so eindeutig die offensichtliche Wahrheit über unsere unmenschliche Kultur erzählen wie das eigene Unwohlsein vor dem morgendlichen Verlassen des Hauses, unser Magengrimmen bei Begegnungen mit sogenannten Autoritäten, die Empfindung von Sinnlosigkeit in unserem Leben, unsere Sucht nach dem „Vergessen“ oder das irrational destruktive Verhalten, das wir in Konfliktsituationen an den Tag legen.
Niemand will so leben, und doch hat sich die überwältigende Mehrheit der Maschine, dem Heuschreckensystem untergeordnet. Die im Naturrecht eingebetteten Regelmäßigkeiten geben allen Suchenden nach Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit ein stabiles Fundament, auf das sie mit den ihnen gegebenen Fähigkeiten bauen können. Wer dagegen meint, ohne Führung nicht leben zu können, für den ist der weitere Pfad klar vorgezeichnet: Als Lohnsklave, Stimmvieh, Zielgruppenmitglied, Konsument, Steuerzahler, Kanonenfutter und Versuchskaninchen für experimentelle Impfstoffe wird er sein Leben im Schweiße seines Angesichts bis ans Ende seiner sinnentleerten Tage fristen. Und wenn man ihn nicht sterben lässt, dann schuftet er auf immer.