Bei dem aufklärenden Journalisten handelt es sich um Juri Butusov, Chefredakteur der regierungsnahen ukrainischen Nachrichtenwebsite „censor.net“. Butusov vermeldete die Information jedoch nicht als Ergebnis einer investigativ-kritischen Recherche, sondern als ehrfürchtigen Nachruf auf den Schützen, mit dem er persönlich befreundet war. Dieser war am 13. Juli 2018 an einem Herzinfarkt gestorben, berichtete Butusov auf seiner Facebook-Seite. Unter dem Text ist Butusov auf einem Foto in Kiew gemeinsam mit Ivanov zu dessen Lebzeiten zu sehen.
Kein Grund für eine Lüge
Butusov posiert auf seiner Facebook-Seite selbst ausgiebig mit Waffen – dem Kontext zufolge im ostukrainischen Kriegsgebiet. Da der Journalist sich als militanter Patriot präsentiert und als Freund des Verstorbenen gilt, hat er kein plausibles Motiv für Falschbehauptungen über den Verstorbenen. Viele ukrainische Medien übernahmen Butusovs Bericht denn auch ohne jede Kritik und mehrfach illustriert mit Kerzen zum Gedenken an den verstorbenen Maidankämpfer. Proteste oder Forderungen nach Rücknahme der Behauptungen sind nicht bekannt.
Bei der Begräbniszeremonie des Maidanschützen drei Tage später in der prunkvollen Michailowski-Kathedrale im Kiewer Stadtzentrum waren zahlreiche Uniformierte anwesend. Eine bewaffnete Eskorte begleitete den offenen Sarg bei der anschließenden Prozession.
„28 Helden“ feuerten auf Polizisten
Nach dem Soldaten Ivan Bubentschik, der früher bereits zwei Morde an Polizisten gestand, wäre Ivanov somit der zweite namentlich bekannte Schütze aus der Maidankampftruppe im Konservatorium. Die Existenz der Einheit unter Kommando des heutigen Parlamentsabgeordneten Wolodymyr Parasiuk, der ein dritter Schütze gewesen sein könnte, ist keine Neuigkeit (1).
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft streitet jedoch bis heute die Existenz von Schützen in Maidangebäuden ab – dasselbe tun übrigens auch Russlandkorrespondenten der ARD. Der Rubikon berichtete.
Andrei habe in den Medien nie von seinen Schüssen auf die Polizisten gesprochen, schreibt Butusov. Nur wenige hätten von seinen Handlungen während der „Revolution“ gewusst. Doch er sei Teil einer Gruppe von „28 Helden“ gewesen, die mit sechs Jagdgewehren und weiteren Kleinkaliber-Waffen (2) auf Berkut feuerten.
Allein durch die Schüsse an diesem Morgen starben drei Polizisten, rund 40 wurden verletzt. Ob Ivanov selbst direkt für eines der Opfer verantwortlich war, erklärt der Journalist in seinem Facebook-Eintrag nicht.
Nach dem Maidan ging es an die Front
Ivanov sei bis zum Maidan Bauarbeiter an einer Gas-Pipeline in Russland gewesen, heißt es zur Vorgeschichte des Schützen. In seinem Urlaub sei er zu den Protesten nach Kiew gefahren und habe sich dann entschlossen, nicht zur Arbeit zurückzukehren, sondern beim „Freiheitskampf der Ukraine“ dabei zu sein.
Er sei ab Januar 2014 im besetzten Gewerkschaftshaus einquartiert gewesen, wo auch der Rechte Sektor residierte. Ivanov habe sich an den Barrikadenkämpfen in der Gruschewski-Straße beteiligt, wo er durch eine Licht-und-Schall-Granate der Polizei verletzt worden sein soll, schreibt Butusov.
Nach dem Machtwechsel in Kiew habe sich Ivanov freiwillig zu einem Kampfbataillon im Donbass gemeldet. Im Februar 2015 sei er dort in Gefechten schwer verwundet worden und habe einen Arm verloren. In San Antonio (USA) habe er später eine Prothese erhalten. Anschließend sei er in ein Kiewer Veteranenheim gezogen, wo er auch starb.
Kampftruppe feuerte auch aus dem Hotel Ukraina
Die bewaffnete Truppe, der Ivanov angehörte, spielte nicht nur bei den Polizistenmorden am frühen Morgen des 20. Februar 2014 eine Rolle. Nach dem Rückzug der Polizei (wegen der Schüsse aus dem Konservatorium) konnten Maidankämpfern gegen 9 Uhr ins Hotel Ukraina vorrücken. Dazu zählten auch Teile der 28-köpfigen Kampftruppe aus dem Konservatorium.
Im Verlauf des Vormittags wurden auf der Institutska-Straße, die vom Maidan am Hotel vorbeiführt, rund 30 Maidankämpfer erschossen. Laut den Analysen des kanadischen Forschers Ivan Katchanovski sei ein Teil der bewaffneten Truppe während des Massakers im Hotel gewesen und habe aus den Fenstern in Richtung der Todeszone geschossen – unter anderem auch aus einem Zimmer des ZDF.
Das Kamerateam des deutschen Senders hatte den Vorfall gefilmt, jedoch mit einer einmaligen Ausnahme von wenigen Sekunden (in einem „ZDF-Spezial“ zwei Wochen später) nicht über diese brisante Situation berichtet.
Der Verdacht besteht, dass Maidankämpfer unter anderem vom Hotel Ukraina aus nicht nur auf Polizisten feuerten, sondern Maidankämpfern auf der Straße in den Rücken schossen, um die Gesamtsituation zu eskalieren (3). Im Gegensatz zu den Polizistenmorden des 20. Februar wären solche Taten auch in der heutigen pro-westlichen Ukraine strafbar.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Neben Parasyuk soll laut ukrainischen Mainstreammedien auch dessen Vater Sinowi zu der bewaffneten Kampfgruppe gehört haben. Der Georgier Alexander Revazishvili bezeichnete sich in mehreren Fernsehinterviews ebenfalls als Teil dieser Einheit. Auch die BBC sprach mit einem anonymen Mann, der angab, vom Konservatorium aus geschossen zu haben sowie mit dem Fotojournalisten Jewgeni Maloletka, der die Schützen fotografiert hatte.
(2) Dass die Truppe nur mit Jagd- und Kleinkaliberwaffen ausgerüstet gewesen sein soll, ist unglaubwürdig. Sowohl der Geständige Ivan Bubentschik als auch der Fotograf und Augenzeuge Jewgeni Maloletka sprechen von Kalaschnikows – also automatischen Sturmgewehren für den Kriegseinsatz.
(3) Zudem besteht der Verdacht, dass Teile der Kampftruppe im Konservatorium verblieben und im weiteren Verlauf des 20. Februar 2014 auch von dort auf Maidanaktivisten schossen. Die damals oppositionelle und auf dem Maidan sehr aktive Vaterlandspartei vermeldete genau dies bereits am Tag des Massakers. Jedoch beschuldigte die Vaterlandspartei erwartbarerweise die Polizei für dieses Verbrechen. Die Schüsse hätten erst geendet, als Maidanaktivisten auf das Dach des Gebäudes gestiegen seien, vermeldete die Partei damals.