Mein Gehirn ist nicht nur dazu in der Lage, Probleme zu lösen, sondern auch, sie zu erfinden. In meinem Kopf spielen sich wahre Kinofilme ab. Eigentlich sitze ich ganz gemütlich da, im Auto zum Beispiel, und habe mich mit nichts Besonderem herumzuschlagen. Die Welt um mich herum ist soweit in Ordnung. Es fallen gerade keine Bomben auf mich herab, ich habe gut gefrühstückt und weiß, dass es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch heute Abend wieder etwas zu essen geben wird.
Ich habe ein Dach über dem Kopf und Kleider am Leib, keine bemerkenswerten Schmerzen, Menschen um mich herum, die ich mag und denen ich traue, eine Arbeit, die mich erfüllt – und als Clou noch das Mittelmeer vor der Haustür. Eigentlich alles gut. Natürlich, da draußen ist eine Zivilisation dabei, ihrem Ende entgegen zu taumeln. Aber da, wo ich gerade bin, sieht es jetzt, in diesem Moment, eher gut aus.
Gedankenspiele
Die Sonne scheint am wolkenlosen Himmel und ich bin auf dem Weg an den Strand. Ein ganzer freier Spätsommernachmittag liegt vor mir. Doch anstatt beglückt tief durchzuatmen und mich zu entspannen, starre ich auf den Verkehr vor mir. Versucht der etwa gerade, sich vorzudrängeln? Ich fahre ein wenig dichter auf meinen Vordermann auf, um ihn daran zu hindern. Wie rücksichtslos die Leute doch immer wieder sind! Wir leben eben in einer Ellenbogengesellschaft. Keiner nimmt mehr Rücksicht auf den anderen.
Es braucht nur mal einer zusammenzubrechen auf offener Straße, dann sieht man, wie abgestumpft die meisten sind. Machen einfach einen Schritt über ihn hinweg und tun, als ob nichts wäre. Gehen weiter ihrer Beschäftigung nach, wahrscheinlich den Blick in ihr Smartphone gesenkt. Jeder in seiner Blase, abgetrennt von seiner direkten Umgebung. Die Verbindung ist unterbrochen. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Genau so verhalten sich Krebszellen in einem kranken Körper. Verkapseln sich und verlernen, mit den umliegenden Zellen zu kommunizieren, bevor sie dann das Ganze unkontrolliert überschwemmen. Orientierungslos und ohne Sinn. So wie wir.
Schlechte Welt
Jetzt ist die Ampel vor mir rot. Langsam quält sich die Autoschlange voran. Ich lese eine Nachricht auf meinem Handy, fische mir ein paar Nüsse aus dem Glas auf dem Beifahrersitz, prüfe im Rückspiegel meinen Lippenstift und trinke einen Schluck Wasser. Wenn das ein Gendarm sehen würde, wäre ich dran. Frankreich zieht die Verkehrsregeln an. Alles, was vom Fahren ablenkt, wird geahndet. Jede auch noch so kleinste Geschwindigkeitsübertretung gibt einen Punkt. Mindestens. Die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer ist dabei nur ein Vorwand. Hauptsache, die Kassen werden gefüllt.
Immer übellauniger staue ich mich weiter voran. Hinter mir wird gehupt. Sieht der denn nicht, dass es hier nicht schneller geht? Wie bescheuert die Leute sind. Man könnte sie nehmen und schütteln. Links und rechts eine geben. Immer diese Aggressivität! Diese Ungeduld! Nervös trommele ich mit den Fingern auf das Lenkrad. Ich spüre, wie sich mein Nacken verspannt und der Kopf beginnt zu schmerzen. Da haben wir es!
Endlich komme ich an meinem Ziel an. Die Sonne ist hinter ein paar Wolken verschwunden. Die werden sich ja wohl hoffentlich gleich wieder verziehen! Ich bin nicht allein am Strand. Natürlich liegen da um diese Zeit auch andere. Ich stapfe durch den Sand, auf der Suche nach einem möglichst freien, möglichst wassernahen Platz. Schließlich will ich vor allem das Meeresrauschen hören und kein Kindergeschrei. Als ich eine geeignete Stelle gefunden zu haben glaube, breite ich mein Handtuch aus.
Monkey Mind
Immer noch finde ich keine Ruhe. In meinem Kopf rumort es. Ich denke an einen vergangenen Streit, an die Ferien, die bald zu Ende sind, an das Verhalten einer Freundin, die immer wieder dieselben Geschichten erzählt. Durch mein Gehirn winden sich Bilder und Szenen von vergangenen Sorgen und künftigen Problemen. Ich bin überall. Nur nicht hier und jetzt am Strand. Denn hier ist ja eigentlich alles in Ordnung.
In diesem Moment ärgert mich niemand. In diesem Moment tut mir nichts weh. Mein Leben ist durch nichts bedroht, außer vielleicht von der Möglichkeit, dass in den nächsten Stunden ein Tsunami vorbeikommt. Und genau deswegen verbringe ich einen guten Teil meiner Zeit damit, vergangene und unabänderliche Unannehmlichkeiten wiederzukäuen und eventuelle zukünftige Gefahren zu analysieren.
Es nimmt kein Ende. In meinem Kopf sitzt das, was die Buddhisten Monkey Mind nennen. Monkey Mind plappert unaufhörlich vor sich hin. Immer hat er irgendwelche Geschichten zu erzählen. Wie eine geschwätzige Nachbarin, die Hände in die Hüften gestemmt, nimmt er dies auseinander, argwöhnt über jenes und zerreißt sich das Maul über das Angebliche und Vermutete.
Nur um eines kümmert er sich nicht: um das, was jetzt gerade da ist. Jetzt ist alles gut. Jetzt gibt es gerade kein Problem. Also ist es jetzt für Monkey Mind nicht interessant. Denn Monkey Mind braucht einen Job. Sonst fühlt er sich nicht wichtig. Er muss immer etwas zu tun haben. Und so interpretiert er und analysiert, beschuldigt er, rechtfertigt und hat Recht, trägt nach und sieht voraus, und tut alles, um mich davon abzulenken, dass ich ihn im Moment eigentlich gar nicht brauche.
Für einen Moment ganz da
Als mir das auffällt, stehe ich auf. Ich gehe zum Wasser und lasse Monkey Mind auf dem Handtuch zurück. Das leise wogende Meer hüllt mich ein. In Gedanken lasse ich langsam alles los, was mich schwer und trübe macht. Ich lasse es vom Meerwasser aus mir hinausziehen und forttreiben. Dann lege ich mich auf den Rücken und breite die Arme aus. Das Wasser trägt, wenn ich ihm vertraue. Ich muss dafür gar nichts tun.
Zum ersten Mal an diesem Tag bin ich ganz da. Das Meer unter mir, der Himmel über mir. Mögen an Land Monkey Mind und seine Kumpanen sitzen und darauf warten, mich wieder mit ihren Geschichten zu belagern, ich schere mich nicht darum. Mir geht es jetzt gut. Ich fühle mich jetzt leicht. Ich habe jetzt in diesem Moment kein einziges Problem. Ich atme tief durch und bin glücklich.