Sei lieb, sei gut, sei still, mach schneller, stell dich nicht so an, das bildest du dir nur ein — seit jeher scheint unsere Erziehung darauf ausgerichtet zu sein, aus uns etwas anderes zu machen als das, was wir sind. Kaum sind wir auf der Welt und kaum ist die Perfektion des neugeborenen Körpers bewundert worden, da geht es auch schon los mit dem Ernst des Lebens.
Wenn die kleinen Füßchen, Fingerchen und Wimpern, die die Natur hat wachsen lassen, zu Genüge bestaunt worden sind, wird versucht, sie zurechtzubiegen. Man möchte, dass einmal etwas aus uns wird. Entsprechend der Wünsche, Sehnsüchte und Ängste derer, die uns auf dieser Welt empfangen, zupft und stutzt man an uns herum und versucht, uns zu etwas zu machen, was wir ursprünglich nicht sind.
In dem Bestreben, dem Ideal der Familie und der Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, Genüge zu tun, sollen wir in eine bestimmte Richtung wachsen. Wir sollen Vater, Mutter, Verwandten, Lehrern und Institutionen zu Freude und Nutzen gedeihen und werden dazu angehalten, die Vorgaben, die man uns auferlegt, zu achten. Von kleinst an werden wir entsprechend gefördert und in die Arenen einer auf Konkurrenzkampf basierenden Gesellschaft geschickt, die aus jedem von uns das herauszupressen versucht, was ihr dienlich ist.
Ursprüngliche Weisheit
Obwohl im Gegensatz zu früheren Zeiten Kindern heute zugestanden wird, Gefühle und Rechte zu haben, ignorieren und missachten wir heute wie früher die Sensibilität und die Weisheit, die in den kleinen, unverfälschten Wesen steckt, ihren Sinn für Zusammenhängendes und Wesentliches.
Wenn wir an ihnen herumerziehen, denken wir nicht daran, dass in ihnen schon alles vorhanden ist, was sie zum Heranwachsen brauchen. Alles, was sie benötigen, ist eine liebevolle und unterstützende Begleitung ihres Wachstumsprozesses, um sich so unverfälscht wie möglich entfalten zu können. Wie eine Blume wird ein Mensch nicht schöner und besser dadurch, dass man an ihm herumzieht, dreht und schneidet.
Das Kind in den Arm nehmen
Weihnachten ist eine Gelegenheit, vor dem Kind in die Knie zu gehen und sich erneut zu beugen vor dem Wunder der Geburt und der Perfektion des Lebendigen. Denn nur, wenn wir dem Kind mit Respekt begegnen, wird es uns gelingen, eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der Harmonie, Freude und Liebe herrschen.
Nehmen wir das Kind in den Arm: das Kind in der Weihnachtsstube und das Kind, das wir selbst einmal waren. Das fröhliche, das herumspringende, das entdeckende Kind, vor allem aber das kleine, schwache und hilflose Kind in uns. Das zurechtgestutzte Kind, das glaubt, nichts wert zu sein, wenn es nicht den Ansprüchen der Erwachsenenwelt genügt, die es schließlich so verinnerlicht hat, dass es selbst zu seinem erbarmungslosesten Kritiker geworden ist.
Aussöhnen mit der Familie
In der hawaiianischen Kultur gibt es ein Ritual zur Aussöhnung und Vergebung innerhalb der Familien: Ho’oponopono. Man glaubt, dass jede Art von Problem mit einem uneingestandenen Fehlverhalten in Zusammenhang steht. Seit jeher weiß man hier, was die Neurowissenschaften heute bestätigen: Ärger, Groll und Stress machen krank.
So werden innerhalb der Familien regelmäßig Versammlungen abgehalten, in denen Schmerzhaftes und Blockierendes ausgesprochen werden. Die Gefühle jedes einzelnen werden dabei berücksichtigt. Nachdem das Problem sozusagen auf den Tisch gelegt wurde, bekennen sich die Betroffenen zu ihrem Fehler, zeigen Reue und bitten um Vergebung. Voraussetzung ist, dass es jeder Teilnehmer ernst meint und ehrlich ist.
Die Heilerin Morrnah Simeona hat dieses traditionelle Vergebungsritual an die heutige Zeit angepasst. Sie erweiterte es zu einem allgemeinen Problemlösungsverfahren und zu einer psychospirituellen Selbsthilfetherapie. Simeonas Schüler Stanley Hew Len prägte das heute bekannte Mantra „Es tut mir leid. Bitte vergib mir. Danke. Ich liebe dich.“
Sich von gleich zu gleich begegnen
Für mich sind dies die schönsten und größten Worte überhaupt. Und gleichzeitig die, die ich am schwersten ausspreche. Denn mit ihnen schiebe ich für einen Moment mein Ego, das immerzu die erste Geige spielen will, in die hinteren Reihen des Orchestergrabens. Ich beuge mich vor dem anderen, auch wenn ich ihm vorher am liebsten mein Weihnachtsgeschenk um die Ohren gehauen hätte, damit er erkennt, was er mir angetan hat.
Es tut mir leid. Bitte vergib mir. Danke. Ich liebe dich: es sind Worte der Verbindung, mit deren Hilfe wir uns von gleich zu gleich begegnen. Auch wenn ich mich noch so winde in dem Spiegel, den mir der andere vorhält, hier erkenne ich: ich bin nicht „besser“ als er. Wir stehen zusammen auf einer Ebene.
Das ist verdammt unbequem. Stehe ich nicht auf der richtigen Seite? Bin ich nicht besser informiert? In meiner Entwicklung weiter? Doch es ist offensichtlich: Wenn ich mit jemand anderem in Konflikt stehe und mit ihm streite, dann muss ich erkennen, dass wir beide gerade im Sandkasten sitzen und uns gegenseitig die Schaufeln über die Köpfe ziehen.
Innerer Dialog
Die Erfahrung ist so schmerzhaft, weil ich mich gegen diese Erkenntnis sperre. Hier hilft Ho’oponopono — auch wenn ich leider meistens nicht im Moment der Auseinandersetzung daran denke, sondern erst danach, wenn sich die Wogen schon etwas geglättet haben. Aber ich übe.
Es ist zunächst eine Sache unter zwei Augen, ein Gespräch mit sich selbst. Ich sage dem verletzen Teil in mir, dass es mir leid tut, dass es zu dieser Situation gekommen ist, und bitte ihn um Verzeihung. Es ist das verletzte Kind in mir. Es stampft mit den Füssen, es schreit seinen Kummer heraus, es wirft sich zu Boden, es zieht sich schluchzend in eine Ecke zurück.
Ho’oponopono hilft, zu diesem Kind vorzudringen. Sich ihm vorsichtig anzunähern und es bei der Hand zu nehmen: „Entschuldige bitte, dass ich dir weh getan habe. Ich bitte dich um Vergebung dafür, nicht genug auf dich geachtet zu haben.“ So kann das Kind sich beruhigen. Vielleicht lässt es sich in die Arme nehmen und darin wiegen.
Sich von dem Kind an die Hand nehmen lassen
Ich weiß, dass es nicht das Kind ist, das das Problem lösen kann. Dazu hat es Eltern. Mit dem Kind zusammen wohnen sie in mir. Mit bedingungsloser Liebe und Akzeptanz hält die Mutter ihr Kind in den Armen. Sie nimmt sein Problem an, voll und ganz, und zeigt es dem Vater: „Sieh her, unser Kind leidet.“ In diesem Bewusstsein der Erwachsenen liegt die Macht, die das Problem auflösen kann: „Ich liebe dich. Danke.“
So ist die Familie beisammen. Wenn diese innere Familie sich vereint, gebe ich auch der äußeren Familie die Möglichkeit, wirklich zusammenzukommen. Frieden kann eintreten. Wenn ich das Kleine, Schwache und Verletzte in mir umarme, dann kann sich das Wunder der immer wiederkehrenden Neugeburt erfüllen. Das Kind zeigt mir, wie es geht. Und so bin eigentlich nicht ich es, die es bei der Hand nimmt. Es ist das Kind, das mich führt.