Am 15.01.2019 wird sich vor dem Bundesverfassungsgericht ein Wunder manifestieren. Ein echtes, ein Mirakulum, ein „Wunderding“, wie es die alten Römer nannten, die glasklare Durchbrechung von Naturgesetzlichkeiten. Es findet dort in Sachen Hartz IV eine mündliche Verhandlung statt, die es nach der Ausgestaltung des deutschen Sozialrechts eigentlich niemals hätte geben dürfen.
Auf dem Prüfstand ist — über eine Richtervorlage aus Gotha — die vieldiskutierte Sanktionspraxis der Jobcenter: das Streichen von 30, 60 oder 100 Prozent der Leistungen sowie der Krankenversicherung und der Miete bei den zu 100-Prozent-Sanktionierten. Krass irgendwie, sagt einem der gesunde Menschenverstand, so eine drakonische Strafe für eigentlich so lässliche Sünden wie das Verpassen eines Termins oder das Unvermögen, ausreichend Bewerbungen zu schreiben.
Und nicht nur der gesunde Menschenverstand sieht das so, auch juristisch dürfte die Praxis als klar rechtswidrig zu bewerten sein, allein schon weil sie das vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 höchstrichterlich erkannte Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das neben der körperlichen Unversehrtheit auch ein Minimum an sozialer Teilhabe ermöglichen soll, untergräbt. So die nahezu einhellige Ansicht der sich hierzu äußernden Verfassungsrechtler, der Kirchen, der sozialen Organisationen. Eigentlich ist es nur die jeweilige Regierung, die da beharrlich anderer Meinung ist.
Hartz IV gibt es seit 2005. Circa 5.000.000 Leistungsempfänger. Und 1.000.000 Sanktionen jedes Jahr. Wie kommt es eigentlich, so fragt man sich, dass die Sache erst jetzt — nach vierzehn Jahren — beim Bundesverfassungsgericht gelandet ist? In Deutschland wird doch sonst wegen allem und jedem geklagt, wegen des qualmenden Grills in Nachbars Garten und gegen das Freihandelsabkommen CETA, das endlich die chlorbleichen Gen-Hühnchen auf die bundesdeutschen Teller bringen und zugleich grandiose Schadensersatzansprüche ihrer ausländischen Produzenten für den Fall ihres späteren Verbots wegen Ekligkeit einführen soll.
Vielleicht haben diese „Hartzer“ einfach gar keine Zeit zum Klagen, bei all den vielen Interviews, die sie beständig zu geben scheinen. Von jedem zweiten Cover all der Revolverblättchen an der Tankstelle lacht einem schon seit vielen Jahren ein immer wieder anderer ALG II-Empfänger entgegen, der sich ganz wunderbar eingerichtet haben will in seiner sozialen Hängematte. Vielleicht sind das doch nicht alles nur Fake News?
Aber mal im Ernst, wie läuft das eigentlich mit dem Weg zum Bundesverfassungsgericht in Hartz IV? Nehmen wir an, Herr X ist ein unerschrockener Berliner im ALG II-Bezug. Er ist von seinem Arbeitsvermittler zu 30 Prozent sankioniert worden, weil er statt zehn Bewerbungen nur sechs geschrieben hatte und der Arbeitsvermittler nicht gelten lassen wollte, dass es für Metzger nicht mehr Stellenangebote gegeben hat und Blindbewerbungen in der Branche erfahrungsgemäß nicht viel bringen. Das sei kein triftiger Grund, sagt ihm der Arbeitsvermittler und dass er von jetzt an für drei Monate auf 125 Euro von dem ihm neben seiner Miete und seiner Krankenversicherung zustehenden Mindestsatz in Höhe von 416 Euro verzichten müsse.
Herr X bringt seinen Widerspruch zu Papier und so ist er einer der lediglich fünf bis sieben Prozent aller Leistungsempfänger, die sich gegen eine Sanktion wehren, obwohl Schätzungen zufolge 90 Prozent aller Sanktionen formell oder materiell rechtswidrig sind.
Die meisten Sanktionsbetroffenen sind sich ihrer Rechte gar nicht bewusst, scheuen den Kampf, fürchten Schikanen vom Amt oder sind schlicht damit überfordert, einen Widerspruch, gar eine Klage zu formulieren.
Weshalb die ehemalige Arbeitsvermittlerin und Jobcenter-Whistleblowerin Inge Hannemann auch regelmäßig selbst Hand an die Widersprüche ihrer Klienten gelegt hat. Diejenigen, die wie unser Herr X dann doch klagen, werden mit einer fast fünfzigprozentigen Erfolgschance belohnt.
Widerspruch zwecklos: Wie die Jobcenter die „Hartzer“ zum Hungern zwingen
Ach, wie kann das denn sein, will man rufen, welchen triftigen Grund haben denn eigentlich die Jobcenter für ein so schlampiges Arbeiten, wenn sie doch ihrerseits so streng bei den triftigen Gründen für Versäumnisse ihrer Schützlinge sind? Und das in einem ganz klar grundrechtssensiblen Bereich! Das wären ja 30.000 aktenkundige Fälle einer Grundrechtsverletzung pro Jahr. Und bis zu 470.000 weitere, gegen die nicht geklagt worden ist.
Unfassbar! Insbesondere vor dem Hintergrund, dass im Sozialgesetzbuch II der Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt nicht wie bei jedwedem anderen staatlichen Handeln, das den Bürger belastet, aufschiebende Wirkung hat, also den Vollzug der Maßnahme hemmt.
Was, keine aufschiebende Wirkung? Man muss also auch eine dreimonatige 100-Prozent-Sanktion erst einmal vollumfänglich durchleiden, man hat nichts mehr zu essen, kann mangels Krankenversicherung nicht mehr zum Arzt oder wichtige Medikamente kaufen, verliert seine Wohnung und kann das mit Nichts auf der Welt stoppen, um, falls man überlebt, Jahre später zu erfahren, dass die Sanktion, die einen in die Obdachlosigkeit geworfen und fast das Leben gekostet hat, von Anfang an rechtswidrig war — zum Beispiel weil die Schrift in der Rechtsbehelfsbelehrung nur acht statt zehn Punkt groß war? Was hat denn das noch mit Rechtstaatlichkeit zu tun, mit unantastbarer Menschenwürde?
Dies fragt sich auch unser Herr X und will der Sache genauer auf den Grund gehen, als er im Widerspruchsverfahren mitgeteilt bekommt, dass seine Sanktion ausnahmsweise nun nicht an einem formellen oder materiellen Fehler kranken soll. Für die juristisch saubere Darlegung der generellen Grundrechtsverletzung durch Sanktionen braucht Herr X nun dringend einen Anwalt.
Allerdings: Die gesetzlichen Anwaltshonorare im Sozialrecht sind so niedrig angesetzt, dass ein Anwalt von seiner sozialrechtlichen Tätigkeit nur leben kann, wenn er die Sanktionsfälle quasi als Massengeschäft betreibt. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem einzelnen Vorgang ist unmöglich, unabhängig davon, dass einem Sozialrechtler in der Regel auch die erforderlichen verfassungsrechtlichen Kenntnisse für ein fundiertes Argumentieren fehlen.
Ohne Moos nix los: Wie die Versagung der Prozesskostenhilfe die „Hartzer“ grundrechtslos stellt
Als „Hartzer“ ist Herr X grundsätzlich prozesskostenhilfeberechtigt. Allerdings muss seine Klage dafür Aussicht auf Erfolg haben. Aussicht auf Erfolg meint: im Rahmen von Hartz IV.
Im Rahmen von Hartz IV hat die Klage von Herrn X aber grade keine Aussicht auf Erfolg, weil auch nach Ansicht des den Prozesskostenhilfeantrag prüfenden Richters an der Sanktion — nach den Regeln des SGB II — formell und materiell nichts auszusetzen ist. Anders könne er nur entscheiden, so der Richter, wenn Herr X ihm sein Unbehagen in Bezug auf die mögliche generelle Verfassungswidrigkeit von Sanktionen in der Form einer bereits ausformulierten Klage vorlegen könne. Nein, nachträglich könnten die Kosten einer solchen Klage aber nicht mehr über die Prozesskostenhilfe abgewickelt werden.
Also, das ist ja ein völliger Zirkelschluss!, stöhnt Herr X. Ich habe keine Aussicht auf Erfolg, weil ich nicht begründen kann, dass ich Aussicht auf Erfolg habe, weil ich dafür einen Anwalt bräuchte, den ich nur bezahlt bekommen würde, wenn ich Aussicht auf Erfolg hätte. Wo ist denn hier die Rechtsstaatlichkeit, was ist mit meinem Anspruch auf rechtliches Gehör?
Um seine Frage beim Bundesverfassungsgericht selbst stellen zu können, bliebe Herrn X hier tatsächlich nur dieser Weg: Zu rügen, dass ihm das rechtliche Gehör mangels Gewährung von Prozesskostenhilfe abgeschnitten worden sei. Indirekt ließe sich dann über die Erfolgsaussicht seiner Klage die aufgeworfene Frage verhandeln.
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsbeschwerden eine Annahmequote von inzwischen nur noch einem Prozent, de facto existiert der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht für den grundgesetzlichen „Jedermann“ damit gar nicht mehr. Dass unser mittelloser, durch die Sanktion noch zusätzlich geschwächter, Herr X für diese Verfassungsbeschwerde keine Prozesskostenhilfe erhalten würde, versteht sich von selbst.
Das alte Hamlet-Wort „Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode“ kommt in den Sinn. Irgendwie toxisch ist das ja schon, dass sich ein Hartz IV-Betroffener gegen eine im Rahmen des SGB II rechtmäßige Sanktion nicht aus eigener Kraft wehren kann, indem er das Regelwerk selbst zur Prüfung stellt. Sicher nur ein Versehen, diese Konstruktion, oder nicht?
Niemand wird doch die Absicht gehabt haben, ein Angst- und Strafregime zu errichten, dass sich faktisch seiner Überprüfbarkeit in verfassungsrechtlicher Hinsicht entzieht. Ganz sicher nicht die gute, alte SPD, unter deren Ägide Hartz IV ja damals entstanden war.
Zwar hat sich unser Ex-Kanzler Schröder, ja der, getönt und nicht gefärbt, unlängst so gefreut, dass Deutschland inzwischen über den größten Niedriglohnsektor Europas verfügt — aber das war doch sicher nur, weil er dem Exportweltmeister Deutschland einen weiteren Erfolg von Herzen gegönnt hätte. Fast wäre es uns ja auch tatsächlich gelungen, Hartz IV zu exportieren, nach Frankreich, aber da ist irgendetwas dazwischen gekommen — war das was Gelbes?
Eines sollst du noch wissen, lieber Herr X: Selbst wenn du mit einer wohlformulierten Klage vor dem Richter stehen würdest, weißt du, was das Glück oder eine wundersame Fügung dir dann noch bescheren müsste? Einen Richter, der eines in hohem Maße hat: Mut.
Über sticht Unter: Wie die staatliche Besetzungscouch die Richter knebelt
Dein Richter bräuchte den Mut, die Augen nicht mehr davor zu verschließen, dass die Sanktionen, die die Jobcenter gerne „pauschalierte Verhaltensfolgen“ nennen, in Wahrheit Strafen sind. Strafen, die willkürlich verhängt werden können, für die ein „Im Zweifel für den Angeklagten“ nicht gilt, die in jedem Fall erst einmal abgesessen werden müssen, ganz ohne den selbst einem Schwerverbrecher automatisch beigeordneten Rechtsbeistand. Dein Richter bräuchte aber auch den Mut, die Angst, sich mit einer unbequemen Entscheidung in ein ungünstiges Licht zu setzen und damit möglicherweise berufliche Nachteile in Kauf zu nehmen, zu überwinden.
Deutsche Richter, denkt man ja immer, sind unabhängig. Weisungsgebunden sind sie — anders als Staatsanwälte — im Hinblick auf ihre Entscheidungen nicht, das ist richtig. Aber deutsche Richterkarrieren vollziehen sich über einen Wechsel zwischen Positionen als Richter, Staatsanwalt und Verwaltungsjurist und die jeweilige Ernennung erfolgt durch den Justizminister des Landes. Eine recht plüschige staatliche Besetzungscouch.
In Deutschland kann sich daher — anders als beispielsweise in Italien, wo ein oberster Richterrat in Alleinentscheidungskompetenz die künftigen Kollegen wählt — eine der Regierung unliebsame Entscheidung durchaus als Hemmschuh für die Karriere erweisen.
In Gotha ist nach dreizehn Jahren Hartz IV plötzlich alles zusammengekommen. Es gab einen hartnäckigen Kläger, der die Grundrechtsrelevanz seiner Sanktion erkannt hat. Es gab einen mutigen Richter, dem die objektive Klärung der Rechtsfrage wichtiger war als die Frage, ob er mit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts womöglich anecken könnte. Und es gab Richter am Bundesverfassungsgericht, die es ihrerseits wichtig fanden, dass diese drängende Frage nun endlich entschieden wird, wie den soeben ausgeschiedenen ehemaligen Gerichtspräsidenten Prof. Ferdinand Kirchhof, der sich in der FAZ unlängst öffentlich äußerst besorgt über den sich immer schneller vollziehenden Abbau unseres Rechtsstaats geäußert hat (1).
Nach all dem erkennt man den Termin am 15.01.2019 als das, was er ist: ein Wunder. Es bleibt zu wünschen, dass die Karlsruher Richter diese ihnen nun so wundersam zuteilgewordene Chance dazu nutzen, die Menschenwürde, die ihnen als Hüter unserer Verfassung anvertraut ist, mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.
Quellen und Anmerkungen: