Kurz vor Bekanntgabe des Friedensnobelpreises gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt, dass sich der ukrainische Präsident Selenskyj per Videobotschaft die diesjährige Frankfurter Buchmesse beglücken wird. Für einen kurzen Augenblick schien die Möglichkeit zu bestehen, dass er als Friedensnobelpreisträger zugeschaltet wird. So kam es dann ja nicht. Es wäre auch peinlich gewesen, einem Mann den Friedensnobelpreis zu übergeben, der just am Tag der Bekanntgabe einen westlichen Präventivschlag gegen Russland forderte. Andererseits hat dieser Preis schon manches Kriegers Vita geziert.
Auf Nachfrage beim Börsenverein, auf wessen Geheiß man sich dazu entschließt, Selenskyj sprechen zu lassen, erhielt ich keine konkrete Antwort. Stattdessen schwadronierte der Pressesprecher, dass man „praktisch Unterstützung leisten möchte für die Kultur- und Buchbranche in der Ukraine“. Was das mit Selenskyj zu tun hat, erschließt sich mir jedoch nicht. Auch meine Nachfrage, wie man denn reagiere, wenn er auf der Messe erneut für einen Präventivschlag werbe, blieb selbstverständlich unbeantwortet.
Muss man den Mann wirklich ständig ertragen? Ob Grammys, Buchmesse oder Vogue: Überall erhält er ein Forum. Manche sagen, er sei ein Popstar — aber das ist untertrieben: Diese Omnipräsenz trägt totalitäre Züge.
Großer Bruder Wolodymyr
Michael Radford stand 1984 vor einer schwierigen Aufgabe: Wie sollte er „1984“, den legendären Roman von George Orwell inszenieren? Wie bildlich umsetzen? Ohne dem Regisseur zu Nahe treten zu wollen: Letztlich hat er bessere Arbeiten abgeliefert, kurz erinnert sei hier nur an „Il Postino“, in dem ein Postbote auf Capri poetische und menschliche Lehrstunden beim chilenischen Dichter Pablo Neruda nimmt. Eine Szene aus Radfords „1984“ hat die Zeiten aber überdauert. Sie prägt bis heute unsere Vorstellung vom Orwells Dystopie. So sehr, dass manche sogar Zitate aus dem Film für einen Inhalt des Romans halten, wie kürzlich Wolf Wetzel berichtete.
Die Rede ist hier von jener Szene, in der Ozeaniens Bürger ihre tägliche Dosis an Indoktrination erhalten und sich vor einem gigantischen Gesicht des Großen Bruders formieren. Dieses überdimensionale Antlitz blickt streng auf die Menschen herab. Es hat alle im Blick: Big Brother is watching you! Radford hat den Beschreibungen Orwells ein Bild gegeben und es hat sich eingestanzt ins kollektive Gedächtnis. Wer heute an den Roman denkt, sieht diese Visage vor seinem geistigen Auge.
In den letzten Monaten haben sicher viele unwillkürlich an „1984“ gedacht. Zum einen, weil wir uns als Land — auch wenn wir es nach wie vor leugnen — in einem Krieg befinden und qua dieses Sachverhalts immer wieder mit Kriegspropaganda und Kriegslügen konfrontiert werden. Andererseits aber auch, weil der Personenkult zurückgekehrt scheint, ganz im Stile des Großen Bruders. Zu allerlei Gelegenheiten lässt man nämlich so ein Riesengesicht von der Bühne hinabsprechen über die im Vergleich hierzu winzigen Köpfe. Und wie in Radfords Verfilmung jubeln die Massen am Ende fast schon euphorisch.
Dieser Große Bruder ist der derzeitige ukrainische Präsident und möchte mit seinem Land Mitglied von Ozeanien werden. Hier folgt die Beobachtung nicht mehr Orwells Plot. Nur visuell gleicht das Hofieren dieses Wolodymyr Selenskyj den Bildern „anno 1984“. Die wirken wie aus einer Dystopie, in der der Totalitarismus sich entfaltet und den Rezipienten atemlos, aufgewühlt, empört zurücklässt. Der großflächige Selenskyj, demnächst dann auf der Frankfurter Buchmesse: So geht die Ästhetik des Totalitären.
Die totale Haltung
Ob am Ticketautomaten, am Bus oder einfach nur beim Nachbarn gegenüber: Die Ukraine-Flagge sieht man allerorten. Sie scheint so präsent wie das Antlitz des ukrainischen Präsidenten.
Wohin man auch blickt: Die Ukraine ist schon da. Sie wird gepusht von Leuten, die dort nie waren, die niemals vorhatten, dort Urlaub zu machen. Ja, die dieses Land noch nicht mal geographisch richtig einordnen konnten. Aber jetzt tickt man ukrainisch. Und zeigt es bei jeder Gelegenheit, an jeder Ecke, überall dort, wo man mit dieser Haltung zu glänzen glaubt.
Genau darum geht es: Um Haltung. Sie ist das Schlagwort der Stunde in dieser Republik. Niemals war Haltung so wichtig. Sie ist ein Türenöffner und eine Karrierevoraussetzung. Dieses Land hält sich sogar Journalisten, die nur aus Haltung zu bestehen scheinen. Haltung bedeutet dabei nicht, dass man zu seiner eigenen Anschauung steht. Sie verteidigt und auch gegen Widerstände weiterhin hochhält. Haltung bedeutet hier, die Ansichten von Wirtschaft und Politik hochzuhalten. Auch wenn sie offensichtlich fadenscheinig sind. Dann muss man erst recht in die Bresche springen und Haltung bewahren.
Diese Haltung, wie sie seit Jahren postuliert wird, ist keine demokratische Grundeinstellung, sondern nimmt mehr und mehr totalitäre Züge an. Sie wird ja gerade nicht als Option angepriesen, die man auch ablehnen kann. Man hat sie zu haben. Besser noch: Aktiv zu propagieren. Wer das nicht tut, macht sich verdächtig. Diese Haltung führt zu einem Symbolismus, der versucht, die Öffentlichkeit gleichzuschalten.
Dieser Symbolismus behängt etwa alles mit Ukraine-Flaggen oder setzt unbescholtenen Buchmessebesucher einen ukrainischen Präsidenten vor, der Präventivschläge anregt. Jeder Besucher wird also zwangsläufig mithineingezogen in ein Politikum, auch wenn er nur Kochbücher sichten wollte. Verlage, für die der Börsenverein spricht, machen sich dadurch mit dieser Haltung gemein. Anwesende Autoren nehmen ungefragt und ungewollt eine Rolle ein, wenn der Big Brother Reden schwingt. Es gibt kein Entkommen.
Über die öffentliche Sphäre hinaus
Der Brockhaus definiert Totalitarismus unter anderem so: „das Prinzip derjenigen politischen Herrschaft, die einen uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die von ihr Beherrschten stellt und ihn über die öffentliche Sphäre hinaus auf den Bereich des Persönlichen ausdehnt“. Ziel sei es, „ein umfassendes neues Wertesystem durchzusetzen“. Wenn es beim uneingeschränkten Verfügungsanspruch auch hier und da noch hapert: Über die öffentliche Sphäre hinaus wirken die Mechanismen der Haltung schon lange. Denn sie strahlen massiv ins Privat- und Berufsleben hinein.
Sie fordern Unterwerfung. Wenn schon nicht aktiv, so doch stille Akzeptanz. Im richtigen Augenblick, wenn man mit der allgemeinen Haltung konfrontiert wird, gebietet es die Etikette, auch der Haltung konform zu antworten. Jedenfalls nicht zu widersprechen. Das Totalitäre der Haltung hat Familien gesprengt. Nämlich zur Corona-Zeit. Es wurden klare Rituale eingefordert. Vorgegebene Floskeln verlangt. Wer da danebengriff, wurde geächtet und ausgeschlossen. Der verlor Freundschaften, Familie und manchmal sogar die Arbeitsstelle.
Der Besuch einer Messe mag zwar einen öffentlichen Raum darstellen, wirkt aber tief ins Private der Besucher hinein. Die Besucher sind einerseits geschäftlich, andererseits privat vor Ort: In beiden Sphären galt bis vor einiger Zeit das Politische noch als etwas, was man besser außen vor lässt. Nun ist es mitten unter uns angekommen. Und das nicht als diskussionswürdiges Sujet, sondern als etwas, das man ohne Kritik abzunicken und zu akzeptieren hat.
Was wir erleben, ist ein noch softer Totalitarismus, der jederzeit dazu ansetzen kann, sich zu radikalisieren.
Solche Tendenzen spürt man ja schon heute. Selenskyjs überdimensioniertes Gesicht ist dabei das Sahnehäubchen jenes totalitären Rollbacks. Das „1984“-Gefühl quasi. Wenn sie zu ihm aufsehen, ihm lauschen und dazu angehalten sind zuzustimmen, wird in manchem noch eine kleine sehnsüchtige Erinnerung an jene Tage aufkeimen, in denen es noch Rückzugsräume gab, in denen Haltung überhaupt keine Rolle spielte.