Das Fehlurteil

Der Internationale Strafgerichtshof agierte als verlängerter Arm der NATO.

Andrej Zgonjanin beschäftigt sich in seinem Buch „Der Umgang mit Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien 1991–1999“ mit der Verantwortung für Kriegsverbrechen im jugoslawischen Bürgerkrieg und der strafrechtlichen Verfolgung. Die Reaktionen der Generäle auf Kriegsverbrechen stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen, da sie zunächst mit den Taten ihrer unterstellten Soldaten konfrontiert waren. Gegenstand der Untersuchung sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Vukovar, in der Krajina und im Kosovo, mithin in erster Linie Verbrechen der serbisch-jugoslawischen und der kroatischen Seite. Die Verfolgung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht hing stark von der politischen Bereitschaft dazu ab. Der politische Wille war jedoch nahezu inexistent, um Straftaten juristisch zu ahnden. Untätigkeit gegenüber Kriegsverbrechen, so Zgonjanin, ist ein Zugeständnis an die eigenen Soldaten, Morde, Plünderungen und Brandstiftungen zu verüben. Deswegen ist die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen von Bedeutung, um die eigenen Militärangehörigen abzuschrecken. Die wichtigste Quellenbasis des Buches bilden die Gerichtsprozesse, Urteile und Archivdokumente des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (ICTY). Aus den Gerichtsprozessen vor dem ICTY haben sich große Bestände mit tausenden Dokumenten, Befehlen und Berichten angesammelt, die eine Basis für die Erforschung der post-jugoslawischen Kriege darstellen und bislang kaum ausgewertet sind. Rubikon veröffentlicht exklusiv ein Kapitel aus dem Buch. Die Quellen und Anmerkungen zu diesem Beitrag entnehmen Sie bitte der Original-Publikation.

Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die NATO-Staaten über einen hohen Einfluss auf das ICTY verfügen. Der Einfluss der NATO ist im Ojdanić-Gerichtsurteil insbesondere an einer Stelle offenkundig, wo der Bruch zwischen einer seriösen Betrachtung und einer direkten Parteinahme zugunsten der NATO deutlich zu erkennen ist. Das Gerichtsurteil stellte an der betreffenden Passage über das JCE folgende Behauptung auf:

»The NATO bombing provided an opportunity to the members of the joint criminal enterprise – an opportunity for which they had been waiting and for which they had prepared by moving additional forces to Kosovo and […] to deal a heavy blow to the KLA and to displace, both and without Kosovo, enough Kosovo Albanians to change the ehtnic balance in Kosovo and maintain control over the province. And now this could all be done with plausible deniability because it could be blamed not only upon the KLA, but upon NATO as well.«

Man muss schon zwei Mal lesen, um richtig zu erfassen, was hier geschrieben steht. Gemäß dem Gericht war für die serbisch-jugoslawische Seite ein Krieg gegen die NATO eine ideale Gelegenheit, auf die Milošević sowie Pavković nur gewartet und den Kriegsbeginn scheinbar geradezu herbeigesehnt hätten, da sie in einem bewaffneten Konflikt gegen die NATO eine große Chance erkannten. Dieser Gerichtsurteilsstelle zufolge sollen nämlich die Mitglieder des JCE wie Milošević, Pavković und Šainović davon ausgegangen sein, sie könnten in einem Luftkrieg gegen die NATO eine andauernde Kontrolle der BRJ über das Kosovo erreichen. Der NATO-Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und Serbien wurde durch das Gericht umfunktioniert, als ob dieser Krieg im Interesse der serbisch-jugoslawischen Staatsführung gelegen hätte, um das JCE auszuführen und die Kontrolle über das Kosovo sicherzustellen. Eine solche Annahme ist jedoch völlig abwegig, wenn man das militärische Kräfteverhältnis zwischen der NATO und der VJ einer näheren Betrachtung unterzieht. Die Luftwaffe und die Luftabwehr der VJ waren den Luftstreitkräften der NATO deutlich unterlegen. Die zusätzlichen Truppenverstärkungen der VJ wurden durch das Gericht in der zitierten Passage einseitig als Vorbereitung zur Durchführung des JCE gewertet, dabei wurde außer Acht gelassen, dass diese Truppenverstärkungen auch in der Absicht erfolgt sein konnten, eine mögliche Bodenoffensive durch die NATO abzuwehren. Die NATO-Staaten hatten eigene Truppen in Mazedonien konzentriert und sprachen seit Monaten Kriegsdrohungen gegen die BRJ aus. Ojdanić erklärte an der Generalstabssitzung am 11. März 1999, es sei nicht sicher, ob die NATO-Truppen in Mazedonien einer reinen Machtdemonstration dienten oder für eine Bodenoffensive ins Kosovo bereitgestellt würden. Aber die VJ könne auf diese Bedrohung nicht untätig warten und müsse daher ihre Truppen im Kosovo verstärken, um auf einen möglichen Einmarsch der NATO reagieren zu können. Angesichts solcher Kriegsdrohungen hätten jedes Land und jeder professionelle Generalstab die eigenen Truppen verstärkt. Aber diese Aspekte spielten in der obigen Passage keine Rolle. Ohne die Kriegsdrohungen der NATO hätten die BRJ und die VJ auf zusätzliche Truppenverstärkungen womöglich verzichtet. Auch nach Beginn des NATO-Luftkrieges am 24. März ging der Generalstab der VJ davon aus, dass die nächste Stufe des Krieges der Einsatz von NATO-Bodentruppen sein dürfte und deswegen wurden die Streitkräfte der VJ innerhalb des Kosovo zusätzlich erhöht. Das strategische Ziel des jugoslawischen Generalstabes für das Kosovo bestand darin, die UCK zu zerschlagen und zu besiegen, bevor NATO-Bodentruppen ins Kampfgeschehen eingriffen.¬¬ In den folgenden Abschnitten wird das Kräfteverhältnis zwischen der NATO und der VJ analysiert.

Die jugoslawische Luftabwehr befand sich während des Krieges gegen die NATO in einer aussichtslosen Lage. Die Luftabwehr verfügte über insgesamt 99 Einheiten bzw. Batterien, davon waren 12 Einheiten mit dem Luftabwehrsystem »Newa« ausgestattet und 20 Batterien besaßen das Luftabwehrsystem »Kub«. Beide Systeme verschossen Luftabwehrraketen. Die übrigen 67 Batterien waren nicht mit Luftabwehrraketen ausgestattet und konnten lediglich Ziele in einer Höhe bis zu 3500 Meter bekämpfen und das auch nur bei Tag. Nur die Luftabwehr-Einheiten mit den Systemen »Newa« und »Kub« waren fähig, Ziele über 3500 Meter und bei Nacht zu bekämpfen. Flugzeuge der NATO, die auf über 5000 Metern flogen, befanden sich praktisch außerhalb der Reichweite der jugoslawischen Luftabwehrsysteme. Die Luftabwehr wurde zusätzlich dadurch stark eingeschränkt, dass die Luftabwehr-Einheiten mit den Typen »Newa« und »Kub« nur knapp 30 Prozent des Luftraumes der BRJ abdecken konnten. Die meisten Batterien mit den Systemen »Newa« und »Kub« hatten zudem seit Jahren keine Luftabwehrraketen in Gefechtsübungen abgefeuert.

Die Luftabwehr der VJ war gegen die NATO nahezu unwirksam und konnte in 78 Kriegstagen lediglich zwei Kampfflugzeuge der NATO abschießen, nämlich eine F-117 und eine F-16. Die Radaranlagen und Luftabwehrsysteme der VJ waren stark veraltet. Mehr als die Hälfte aller Radaranlagen wiesen eine Betriebszeit von über 25 Jahren auf. Die Radaranlagen hatten insgesamt eine geringe Reichweite, was die Möglichkeiten der Luftabwehr zusätzlich einschränkte. Die VJ besaß keine modernen Versionen der Luftabwehrsysteme »Newa« und »Kub«, sondern benutzte ältere Vorgängermodelle. Die Systeme »Newa« und »Kub« der VJ waren noch in den 1960er-Jahren entwickelt worden und befanden sich in Serbien seit 18 bis 25 Jahren im Dienst. Der amerikanische Luftwaffengeneral Michael Short hatte am 10. Oktober 1998 einem General der VJ erklärt, dass die NATO die stärksten Luftstreitkräfte, die es jemals gab, zur Verfügung habe und gegenüber der jugoslawischen Luftwaffe sowie Luftabwehr einen technologischen Vorsprung von 25 bis 30 Jahren aufweise. General Spasoje Smiljanić war seit dem 15. Januar 1999 Befehlshaber der jugoslawischen Luftwaffe sowie Luftabwehr und er weist darauf hin, dass dies alles Gründe waren, warum jeder in der VJ einen Krieg gegen die USA und die NATO vermeiden wollte. Die einzige Sorge der NATO lag darin, dass die VJ in Besitz moderner russischer Luftabwehrraketen vom Typ S-300 sein könnte. Das war die größte Furcht der westlichen Militärstrategen. Smiljanić führte am 18. März 1999 das letzte Gespräch mit dem amerikanischen Militärattaché in Belgrad. Der US-Militärattaché John Pemberton versuchte dabei, Smiljanić über das Raketensystem S-300 auszuforschen und fragte ihn direkt, ob die jugoslawische Armee S-300 Luftabwehrraketen zur Disposition habe. Smiljanić antwortete Pemberton: »Wenn Sie uns angreifen, werden Sie es erfahren.« Die VJ besaß jedoch keine S-300 und so blieben die Verluste der NATO im folgenden Krieg minimal.

Die jugoslawische Luftwaffe war ebenfalls in einem desolaten Zustand und numerisch der NATO gegenüber vollständig unterlegen. Die Jagdflugzeuge der Luftwaffe hatten keine Chance, ein Kampfflugzeug der NATO abzuschießen. Die jugoslawische Luftwaffe zählte am 24. März 1999 57 einsatzfähige Jagdflugzeuge, davon 47 veraltete MiG-21 und 10 MiG-29. Dagegen setzte die NATO in ihrem Luftkrieg gegen die BRJ 1040 moderne Flugzeuge ein. Darunter waren 719 Kampfflugzeuge. Die USA stellten mit 748 Flugzeugen den größten Anteil an der Luftstreitmacht der NATO. Es wurden mindestens 220 F-16, 80 F-18, 60 Tornados, 40 A-10, 18 B-52 und 6 B-2 eingesetzt. Die MiG-21 hatte eine Radarreichweite von 20 Kilometern und die Schussreichweite ihrer Raketen betrug lediglich 10 bis 15 Kilometer. Smiljanić besaß eine 29-jährige Flugerfahrung auf der MiG-21 und er hatte noch als Luftwaffenchef Flüge mit der MiG-21 absolviert. Als ihm am 24. März 1999 um 19 Uhr 55 gemeldet wurde, die NATO habe mit Bombardierungen von Zielen in der Bundesrepublik Jugoslawien begonnen, verbot er sofort den Einsatz von MiG-21 Flugzeugen gegen die NATO und erteilte allen MiG-21 ein Flugverbot, da Smiljanić ganz genau wusste, wie inferior die MiG-21 gegenüber den modernen Kampfflugzeugen der NATO war.

Das Einsatzverbot für alle MiG-21 war auch für Milošević nachvollziehbar und wurde von ihm gutgeheißen. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme wurden aber 29 MiG-21 von der NATO am Boden vernichtet. Damit verblieben der jugoslawischen Luftwaffe zur Abwehr ihres Landes nur 10 MiG-29. Die Radaranlagen der MiG-29 verfügten über eine geringe Reichweite und wurden durch elektronische Störmanöver der NATO zusätzlich vermindert bis nahezu neutralisiert. Die Kampfflugzeuge der NATO konnten ihre Luft-Luft-Raketen aus 75 bis über 100 Kilometern abfeuern, während die jugoslawischen MiG-29 eine deutlich geringere Zielreichweite von unter 50 Kilometern aufwiesen. In Kampfeinsätzen gegen die NATO konnten die MiG-29 der VJ keine einzige Rakete gegen feindliche Kampfjets lancieren und es wurde kein einziges NATO-Flugzeug von der jugoslawischen Luftwaffe zerstört. Die Flugzeuge der NATO blieben außerhalb der Zielreichweite der MiG-29 und schossen aus einer Entfernung von 60 bis 80 Kilometern sechs MiG-29 in Luftkämpfen ab, während eine MiG-29 in der Luft schwer beschädigt wurde und später abstürzte. Außerdem wurden von der NATO drei MiG-29 am Boden zerstört. Zusätzlich hat die NATO sechs Attrappen von MiG-29 Kampfflugzeugen vernichtet. Ojdanić erteilte der Luftwaffe am 9. April 1999 ein Einsatzverbot gegen NATO-Kampfflugzeuge. Die NATO zerstörte während des Luftkrieges gegen die BRJ insgesamt 79 Kampfflugzeuge, zwei Aufklärungsflugzeuge, sieben Transportflugzeuge und 26 Schulungsflugzeuge der jugoslawischen Luftwaffe. Nur acht Kampfflugzeuge der VJ wurden in der Luft abgeschossen, nämlich sieben MiG-29 und ein Kampfbomber. Alle übrigen Flugzeuge wurden am Boden zerstört. Es war für die jugoslawische Luftwaffe nur schwer möglich, ihre Flugzeuge vor Angriffen der NATO auf den Flughäfen zu verbergen und die wichtigsten Schutzanlagen in Form von armierten Betonanlagen erwiesen sich als unwirksam gegen Bomben der NATO. Die Luftwaffe und Luftabwehr der VJ waren gegenüber der NATO praktisch wehrlos.

Die Luftwaffenführung der VJ ging davon aus, dass die Luftabwehr selbst gegen einen schwächeren Gegner als die NATO höchstens 21 Tage einsatzfähig sein könnte. Smiljanić orientierte in einem Vortrag am 12. Februar 1999 Milošević und die serbisch-jugoslawische Staatsführung über diesen Sachverhalt und den schlechten Wartungszustand der Luftwaffe und Luftabwehr der VJ. Er wies eingehend auf alle Defizite hin, so z. B. die hohe Empfindlichkeit der Radaranlagen, die geringe Reichweite der Luftabwehr, den Ersatzteilmangel und die technologische Unterlegenheit der jugoslawischen Kampfflugzeuge gegenüber der NATO. Abschließend erklärte Smiljanić, dass die Bundesrepublik Jugoslawien wegen der geringen militärischen Leistungsfähigkeit ihrer Luftwaffe und Luftabwehr unbedingt einen Krieg gegen die NATO vermeiden und der Kosovo-Konflikt auf friedliche Art gelöst werden sollte. Das war auch die Ansicht der gesamten Armeeführung. Milošević und die serbisch-jugoslawische Staatsführung wussten also sehr genau, wie chancenlos die VJ in einem Krieg und insbesondere in einem Luftkrieg gegen die NATO sein würde. Milošević war auch bekannt, dass sich die Luftabwehr wahrscheinlich nicht länger als 21 Tage gegen die NATO behaupten könnte, bevor sie vollständig zerschlagen wäre und die NATO dann gefahrlos in Höhen von unter 2000 Metern ihre Angriffe hätte fliegen können. Dies wäre mit verheerenden Konsequenzen für die Bodentruppen der VJ im Kosovo verbunden gewesen und hätte zu hohen Verlusten geführt. Die serbisch-jugoslawische Luftabwehr blieb jedoch bis zum Kriegsende intakt und hielt damit Kampfflugzeuge der NATO auf Distanzen von über 4000 Metern Lufthöhe. Das war aber nicht zu erwarten gewesen. Smiljanić hatte sich am 24. März noch wenige Minuten vor Angriffsbeginn gefragt, ob es nach dem ersten Kriegstag überhaupt noch eine Luftwaffe und Luftabwehr der VJ geben würde. So groß war die Achtung des jugoslawischen Luftwaffenchefs vor den militärischen Fähigkeiten der NATO, welche der VJ hundertfach überlegen war, dass er den Luftstreitkräften der NATO zutraute, die jugoslawische Luftwaffe und Luftabwehr in einer kurzen Zeitperiode zu vernichten bzw. auszuschalten.

Milošević musste jedenfalls davon ausgehen, dass er höchstens 21 Tage Zeit haben könnte, das JCE in die Tat umzusetzen und danach die VJ von der NATO zertrümmert würde, wodurch alle Resultate des JCE wieder rückgängig gemacht worden wären. Es ist daher nicht plausibel, dass Milošević eine solche strategische Vorgehensweise im Sinn hatte und sich hierbei der Luftangriffe der NATO bedienen wollte, um das JCE zu realisieren.

Die VJ war eine veraltete Armee, die der NATO nichts entgegenzusetzen hatte und die Souveränität der BRJ letztlich nicht schützen konnte. Die VJ konnte nur versuchen, den NATO-Luftangriffen auszuweichen und sich möglichst gut zu verbergen, um die Verluste gering zu halten. Ojdanić vertrat die Ansicht, dass ein Krieg den sicheren Verlust des Kosovo für Serbien bzw. die BRJ bedeuten würde und eine militärische Lösung des Konflikts durch die BRJ nicht möglich sei. Ojdanić wusste natürlich, dass die VJ in einem Krieg gegen die NATO verlieren würde und die NATO danach der serbisch-jugoslawischen Kriegspartei höchstwahrscheinlich ihren Willen aufzwingen würde, das Kosovo verlassen zu müssen. In der Perzeption des Gerichts hingegen war für die JCE-Mitglieder der Krieg gegen die NATO ein Mittel bzw. eine Möglichkeit, um die dauerhafte Kontrolle über das Kosovo sicherzustellen, obwohl sich die VJ mit 10 einsatzfähigen MiG-29 und einer veralteten Luftabwehr in einer militärisch aussichtslosen Lage befand. Die Konzeption, wonach Milošević und die Mitglieder des JCE die Bombardierungen der NATO als günstige Gelegenheit betrachteten und darauf nur gewartet hätten, erscheint jedoch angesichts der militärischen Faktoren und der Überlegenheit der NATO-Staaten gegenüber der VJ als völlig irrational. Die dauerhafte Vertreibung von 715.000 albanischen Bewohnern hätte sich in einem Krieg gegen die NATO-Staaten nur durchsetzen lassen, wenn die VJ fähig gewesen wäre, die NATO in einem Luft- oder Bodenkrieg zu besiegen. Das war aber nicht der Fall und die jugoslawische Armee musste am Ende des Krieges im Juni 1999 das Kosovo verlassen, woraufhin alle albanischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehrten. Aufgrund der Schwäche der VJ war ein Krieg gegen die NATO-Staaten kein Mittel, um eine andauernde Kontrolle über das Kosovo zu bewerkstelligen.

Die Befehlshaber der NATO rechneten aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit ebenfalls mit einem Sieg über die BRJ und gingen davon aus, sie könnten die VJ innerhalb weniger Tage vernichten. Die zitierte Gerichtspassage ist daher eine unqualifizierte Beurteilung, die von großer militärischer Unkenntnis zeugt und letztlich einzig dem Zweck dient, die NATO von einer Mitschuld an den Flüchtlingsbewegungen im Kosovo zu entlasten. Die Verfasser des Gerichtsurteils haben mit dieser Passage die Ebene einer seriösen Betrachtung verlassen: Obwohl Milošević die Schwäche der VJ bis ins letzte Detail bekannt war, wurde entgegen jeder militärischen Logik den Mitgliedern des JCE eine irrationale strategische Konzeption unterstellt, um die NATO reinzuwaschen und von jeglicher Schuld an der Flüchtlingskatastrophe freizusprechen. Diese These wird auch dadurch widerlegt, dass Milošević dem Friedensabkommen mit Ahtisaari zustimmte, was die Beendigung des NATO-Krieges gegen die BRJ und die Rückkehr der Flüchtlinge bzw. Vertriebenen zur Folge hatte. Falls Milošević tatsächlich eine solche Konzeption verfolgt hätte, dann hätte es in seinem Interesse liegen müssen, dass die NATO ihre Luftangriffe nicht beendete und er das JCE hätte weiterführen können. Die Problematik besteht auch darin, dass Milošević im Oktober 1998 die Stationierung der OSZE-Friedensmission akzeptiert und die BRJ gegen den Abzug der OSZE-Mission am 20. März 1999 protestiert hatte. Außerdem hatte Milutinović der amerikanischen Außenministerin Albright in Rambouillet ein Angebot von Milošević unterbreitet, dass die USA einen Militärstützpunkt im Kosovo errichten könnten. Die Truppenpräsenz der US-Armee sollte dabei auf das Gebiet des Kosovo beschränkt bleiben. Natürlich sollten bei diesem Angebot an Albright die VJ sowie die serbische Polizei weiterhin im Kosovo verbleiben. Die Clinton-Administration ging aber auf dieses Angebot nicht ein, weil sie einen Regimewechsel in Serbien erreichen wollte.

Das sind alles Belege, die nahelegen, dass Milošević einen Krieg mit den NATO-Staaten vermeiden wollte und das JCE für ihn keine Priorität hatte. Denn in Anwesenheit der OSZE-Friedensmission und von US-Truppen, welche die Führung der BRJ im Kosovo akzeptieren wollte, wäre eine Vertreibungskampagne undurchführbar gewesen. An der Generalstabssitzung der VJ am 9. April 1999 wurde die Beendigung des Krieges ebenfalls als wichtigstes Staatsinteresse der Bundesrepublik Jugoslawien formuliert. Diese Ansicht wurde von allen anwesenden Generälen geteilt, da sich die VJ gegenüber der NATO in einem ungleichen Kampf befand und Friedensverhandlungen die einzige Option boten, um weitere Zerstörungen der zivilen Infrastruktur und militärischer Einrichtungen in der BRJ abzuwenden. Die Tatsachen stehen in Widerspruch zu den Behauptungen des Gerichtsurteils und sprechen eindeutig dafür, dass die Staats- und Armeeführung der BRJ einen Krieg gegen die NATO nicht als vorteilhaft erachteten. Die zitierte Gerichtsstelle ist aus militärischer Sicht argumentativ höchst unlogisch und beweist nur, dass die politischen Führungseliten der NATO-Staaten einen hohen Einfluss auf das ICTY ausüben können, um mithilfe des Haager Tribunals jede Schuld von sich zu weisen und die eigene Kriegführung zu rehabilitieren.

Die besprochene Gerichtspassage ist aber noch in einer anderen Hinsicht interessant, da man sie als sehr belastend gegen die NATO interpretieren kann. Auf den ersten Blick ist die Passage ein Entlastungsversuch zugunsten der NATO, gleichzeitig verbirgt sich darin ein schwerer Schuldvorwurf gegen die NATO-Staaten. Denn, falls Milošević darauf setzte, die NATO-Luftangriffe abzuwarten, um diese als günstige Gelegenheit auszunützen, das JCE zu beginnen, dann ist es erstaunlich, warum die NATO nicht fähig war, dies zu erkennen und ihm diese Chance bot. Die ganze Konzeption von Milošević wäre in diesem Fall davon abhängig gewesen, dass die NATO zunächst die OSZE-Friedensmission abzog und danach den Luftkrieg gegen die BRJ eröffnete. Solange die OSZE-Friedensmission im Kosovo präsent war und die NATO ihre Bombardierungen noch nicht eingeleitet hatte, konnte Milošević die geplante Vertreibungskampagne nicht starten, weil er ohne die NATO-Luftangriffe die westliche Militärallianz nicht für die Flüchtlingsbewegungen hätte verantwortlich machen können. Wenn man somit der Logik des Gerichts folgt, hätte Milošević ohne die NATO-Bombardierungen auf die Durchführung des JCE verzichtet. Die zitierte Passage ist damit vor allem ein Beweis, dass die NATO-Staaten niemals die OSZE-Mission aus dem Kosovo hätten abziehen und einen Luftkrieg gegen die BRJ beginnen dürfen. Den Verfassern ist in ihrem Bestreben, die NATO von jeglicher Schuld an den Flüchtlingsströmen zu entlasten, somit unbeabsichtigt ein gedanklicher Fehler unterlaufen: Sie haben nämlich nicht bemerkt, dass man aus dieser vermeintlichen Entlastungsstelle gleichzeitig eine schwere Schuld der NATO-Staaten ableiten kann. Die Mitglieder des JCE waren dieser Urteilslogik zufolge auf die Mithilfe der NATO-Staaten angewiesen, denn die wichtigste Voraussetzung für die Umsetzung des JCE waren die Bombardierungen der NATO.

Darauf soll der Plan des JCE basiert haben, nämlich den NATO-Luftangriffen, welche man sich zunutze machen wollte, auch wenn viele Tatsachen in Widerspruch dazu stehen. Die Verfasser haben zudem nicht realisiert, dass die VJ bei dieser JCE-Konzeption die NATO im Luftkrieg hätte besiegen müssen. Dazu wäre es erforderlich gewesen, dass die jugoslawische Luftwaffe und Luftabwehr der NATO empfindliche Verluste hätten zufügen müssen, damit die NATO-Staaten den Luftkrieg beenden und das Ergebnis des JCE dadurch akzeptiert hätten. Nur unter dieser Voraussetzung hätte sich das JCE dauerhaft umsetzen lassen. Denn einzig im Falle eines serbischen Sieges über die NATO hätten die Mitglieder des JCE weiterhin die Kontrolle über das Kosovo ausgeübt und somit den 715.000 vertriebenen Menschen dauerhaft die Rückkehr verweigern können, da die VJ und die serbische Polizei auf dem Gebiet des Kosovo verblieben wären. Es kann aber ausgeschlossen werden, dass die Staatsführung der BRJ einen Sieg der VJ über die NATO erwartete und somit entfällt zugleich die Grundlage für diese JCE-Konzeption des Gerichtsurteils. Der Abschuss von zwei NATO-Kampfflugzeugen konnte die NATO-Staaten nicht zwingen, den Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einzustellen und niemand aus der Staats- und Armeeführung der BRJ rechnete mit hohen Abschusszahlen, denn der Luftabwehr der VJ fehlten moderne Luftabwehrraketen vom Typ S-300.

Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass die Mitglieder des JCE gemäß der zitierten Passage die ethnische Struktur des Kosovo soweit verändern wollten, um eine dauerhafte Kontrolle sicherzustellen. Aber aus der damaligen südserbischen Provinz waren lediglich 715.000 Menschen albanischer Nationalität geflüchtet oder vertrieben worden. Mit der Vertreibung von 715.000 Menschen ließ sich jedoch die Bevölkerungsstruktur nicht zu serbischen Gunsten umwandeln, da die verbliebenen Albaner immer noch knapp eine Million Einwohner zählten und gegenüber den etwa 250.000 Serben trotzdem eine deutliche Mehrheit im Kosovo gebildet hätten. Es ist daher unklar, warum Milošević nicht mehr albanische Bewohner vertreiben ließ. Im Gerichtsurteil findet sich dazu eine bemerkenswerte Erklärung: Die VJ habe zwar viele albanische Bewohner zum Bleiben aufgefordert und auch albanische Flüchtlinge in ihre Dörfer zurückgeschickt, aber dies sei nur geschehen, damit die VJ nicht allein im Kosovo verblieb, sondern durch die Anwesenheit von Zivilisten geschützt und damit den Luftangriffen nicht völlig ausgeliefert war. Aus diesem Grund waren die Befehle von Pavković und Lazarević, die Rückkehr der albanischen Flüchtlinge zu forcieren, in Bezug auf die Existenz eines JCE nicht entlastend gewertet worden. Die Präsenz der Zivilbevölkerung wurde gemäß Gerichtsurteil von Befehlshabern der VJ als wichtiger Schutz vor den Bombardierungen der NATO betrachtet und deswegen sei ein großer Teil der albanischen Bevölkerung nicht deportiert worden. Das ist ein klares Eingeständnis, dass die NATO-Luftangriffe keine Gelegenheit sein konnten, um die Bevölkerungsstruktur für eine permanente Kontrolle zu verändern, da die Mehrheit der albanischen Bevölkerung offensichtlich im Kosovo zurückbleiben musste, um eine Schutzfunktion für die VJ zu erfüllen. Die zitierte Passage ist auf diese Erklärungen nicht abgestimmt und bietet zu viele Angriffspunkte. Daran ändert auch nichts, dass das Gericht zum Ziel des JCE folgende Einschränkung nachträglich tätigte:

»the common purpose was to displace a number of them (Kosovo Albanians) sufficient to tip the demographic balance more toward ethnic equality and in order to cow the Kosovo Albanians into submission.«

Eine ethnische Gleichheit ließ sich aber mit der Vertreibung von 715.000 albanischen Bewohnern nicht herbeiführen und auch nicht annäherungsweise erreichen. Die Unterwerfung der zurückgebliebenen Kosovo-Albaner wäre ebenso nur im Falle eines serbischen Sieges über die NATO möglich gewesen. Es ist allerdings unrealistisch, dass die Mitglieder des JCE ein solches strategisches Konzept verfolgten und tatsächlich annahmen, sie könnten in einem Krieg gegen die NATO 715.000 Menschen deportieren und die übrigen, eingeschüchterten albanischen Bewohner beherrschen.

Die zitierte Passage hätte trotz der nachträglichen Einschränkung vorsichtiger formuliert werden müssen, ohne die Behauptung aufzustellen, dass die NATO-Luftangriffe für die Mitglieder des JCE die Chance kreierten, durch die Veränderung der Bevölkerungsstruktur die Kontrolle über das Kosovo zu behalten. Das ist eine realitätsfremde Behauptung, die nicht auf einer soliden Grundlage beruht und aufgrund der militärischen Faktoren verworfen werden kann. Das Konzept des JCE, wie es im Gerichtsurteil entwickelt wurde, wäre undurchführbar gewesen und ist nicht logisch überlegt. Dieses Konzept wird auch durch die Tatsachen widerlegt: Der Krieg gegen die NATO endete mit einer Niederlage der BRJ und die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte mussten das Kosovo verlassen. Trotzdem gelangte das Gericht zur Einsicht, die Mitglieder des JCE hätten während des NATO-Luftkrieges gegen die BRJ die dauerhafte Vertreibung von über 715.000 Menschen beabsichtigt und sogar für möglich erachtet, obwohl die wichtigste Voraussetzung, um dieses Ziel zu erreichen, ein Sieg der VJ über die NATO gewesen wäre. Da die Mitglieder des JCE wussten, dass die VJ keinen Sieg über die NATO erringen konnte, scheidet aber die Möglichkeit für eine dauerhafte Vertreibungsabsicht aus. Es ist offensichtlich, dass die Verfasser des Gerichtsurteils militärische Faktoren nicht in ihr JCE-Konzept einkalkuliert haben. Das Gericht hätte besser argumentieren sollen, dass das JCE eine temporäre Vertreibungsabsicht beinhaltete. Bei diesem Ausgangsszenario hätte das JCE besser konstruiert werden können, ohne so viele gedankliche Fehler im militärischen Bereich aufzuweisen und auch die bisher vorgebrachten Kritikpunkte hätten sich eher in ein temporäres JCE-Konzept bzw. in eine temporäre Vertreibungskampagne integrieren lassen.

Es sind noch weitere Problempunkte vorhanden, welche aus dem NATO-Luftkrieg resultieren. Die NATO warf in ihrem Luftkrieg mehr als 22.000 Tonnen Bomben auf das Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien ab, dabei beschränkten sich die Luftangriffe nicht auf militärische Ziele. Die NATO bombardierte ebenso die zivile Infrastruktur, Wirtschaftsbetriebe, Industrieanlagen und Gesundheitseinrichtungen. 90 Schulen und Krankenhäuser wurden von Bomben der NATO getroffen. Am 2. Mai 1999 setzte die NATO Graphitbomben gegen die Energieversorgung ein, sodass 70 Prozent der serbischen Stromversorgung ausfielen. Der finanzielle Gesamtschaden, der durch die NATO-Zerstörungen in Serbien und der BRJ entstand, belief sich nach Schätzungen auf 50 bis 100 Milliarden US-Dollar, davon entfielen auf die VJ und ihre militärischen Einrichtungen jedoch nur 7,7 Milliarden Dollar. Die NATO-Bomben trafen also vorwiegend zivile Ziele und nicht legitime militärische Einrichtungen. Die NATO hatte offensichtlich Mühe, zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden. Die VJ konnte die NATO nicht daran hindern, Ziele in Serbien und der BRJ zu bombardieren und war nicht fähig, Schäden abzuwenden. Die BRJ und Serbien waren den NATO-Luftangriffen machtlos ausgeliefert. Aufgrund dieser Tatsachen ist es nicht plausibel, dass die Staatsführung der BRJ die Bombardierungen der NATO als günstige Gelegenheit betrachtet haben soll. Die NATO warf zudem 347.000 unpräzise Streubomben ab, denen mehr als 200 Menschen zum Opfer fielen, viele von ihnen waren Zivilisten gewesen. Am 7. Mai hatte die NATO Angriffe gegen die serbische Stadt Niš geflogen und hierzu Streubombenbehälter eingesetzt. Ein Teil der Streubomben landete auf dem Marktplatz von Niš und tötete 13 Zivilisten. Das war ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, da man beim Abwurf von Streubomben auf zivile Städte immer mit Verlusten unter der Zivilbevölkerung rechnen muss.

Es wird angenommen, dass 2000 bis 3500 Zivilisten durch die Bombardierungen der NATO getötet wurden. Es handelt sich hierbei allerdings lediglich um Schätzungen. Gemäß Smiljanić ist nur die Tötung von 500 Zivilisten und die Verwundung von 900 Zivilpersonen durch die NATO-Luftangriffe wirklich gesichert. Das Gebiet des Kosovo war ebenso intensiven Bombardierungen ausgesetzt. Bis zum 4. Mai flog die NATO ihre Angriffe auf Ziele im Kosovo hauptsächlich in der Nacht und ab dem 5. Mai zusätzlich tagsüber. Dabei setzte die NATO panzerbrechende Bomben mit abgereichertem Uran ein und verfeuerte insgesamt etwa 10 bis 15 Tonnen Uranmunition auf das Gebiet des Kosovo. Auf das restliche Territorium der BRJ wurden dagegen nur 1,5 Tonnen Uranmunition abgeworfen. Mehr als die Hälfte aller Todesopfer im Kosovo, welche durch die NATO-Luftangriffe ums Leben kamen, waren Menschen albanischer Nationalität. Das heißt, die NATO tötete mit ihren Luftangriffen im Kosovo primär nicht Soldaten der VJ oder serbische Polizisten, sondern hauptsächlich albanische Bewohner. Es ist daher unrealistisch, dass die albanischen Bewohner des Kosovo keine Angst vor den NATO-Kampfflugzeugen hatten und fast niemand von ihnen vor den Bombardierungen der NATO geflüchtet sein soll. Von den 50 albanischen Zeugen im Ojdanić-Prozess hatte jedoch niemand die NATO-Luftangriffe für Zerstörungen von zivilen Häusern oder für Todesfälle unter der Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht. Auch zwei albanische Zeugen, die nach nächtlichen Luftangriffen auf das Dorf Nogavac geflüchtet waren, hatten vor Gericht behauptet, es sei nicht die NATO gewesen, die für diesen Luftangriff verantwortlich gewesen sei. Stattdessen hatten sie die serbisch-jugoslawische Luftwaffe beschuldigt, den nächtlichen Luftangriff ausgeführt zu haben. Beim Luftangriff auf Nogavac am 2. April 1999 waren 11 Bewohner ums Leben gekommen und die übrigen Bewohner verließen am nächsten Tag Nogavac, weil sie Angst vor einem weiteren Angriff hatten. Gemäß den Angaben von Smiljanić war jedoch die jugoslawische Luftwaffe zu keinen nächtlichen Luftangriffen in der Lage und die verursachten Zerstörungen im Dorf Nogavac wiesen auf die Benutzung einer Luft-Boden-Rakete vom Typ HARM-88 hin. Dieser Waffentyp wird von Luftstreitkräften der NATO eingesetzt. Die Wahrscheinlichkeit ist somit sehr groß, dass NATO-Flugzeuge für den Luftangriff auf Nogavac verantwortlich waren. Aber offensichtlich hatten die albanischen Zeugen aus Nogavac eine idealisierte Vorstellung über die NATO und sie konnten sich nicht vorstellen, dass NATO-Kampfflugzeuge ihr Dorf bombardiert und albanische Bewohner mit Bomben getötet hatten. Das Gerichtsurteil gegen Ojdanić unterstrich, dass kein einziger albanischer Zeuge die NATO-Luftangriffe als Fluchtgrund genannt hatte.

Da sich die Richter bei der Bewertung der NATO-Bombardierungen ausschließlich auf die Aussagen albanischer Zeugen abstützten, haben sie daraus gefolgert, dass die NATO-Luftangriffe keine Fluchtursache für mehr als 700.000 albanische Bewohner darstellten, auch wenn sie die Einschränkung tätigten, die NATO-Bombardierungen und die Aktivitäten der UCK hätten die Situation im Kosovo verkompliziert. Der Dreh- und Angelpunkt des Gerichtsurteils im Ojdanić-Prozess besteht aber letztlich darin, dass die NATO-Luftangriffe keinen Faktor für die Flüchtlingsbewegungen darstellten. Smiljanić wiederum vertritt die Ansicht, dass die intensiven Angriffe und Bombenabwürfe der NATO den Hauptgrund für die Flucht der albanischen Bewohner aus dem Kosovo bildeten. Die Bewertung von Smiljanić geht in dieser starken Form zu weit und man sollte ihr nicht vorbehaltlos zustimmen, denn die Kriegsverbrechen von Angehörigen der serbisch-jugoslawischen Truppen im Kosovo hatten mit Sicherheit die Flucht von einem großen Teil albanischer Bewohner bewirkt, aber dass die NATO-Luftangriffe für keine Flüchtlingsbewegungen verantwortlich waren und Flüchtlingsströme nicht ebenfalls ausgelöst haben sollen, ist unwahrscheinlich. Die meisten NATO-Bomben verfehlten nämlich militärische Ziele innerhalb des Kosovo und diese fehlgeleiteten Bomben führten vielfach zu Kollateralschäden, indem sie zivile Häuser zerstörten oder den Tod von Zivilisten verschuldeten. Für die Bewohner des Kosovo ging somit eine erhebliche Gefahr vor den NATO-Luftangriffen aus und es ist schwer vorstellbar, dass fehlgeleitete NATO-Bomben keinen Fluchtgrund darstellten. Gleichzeitig kann man ausschließen, dass die NATO-Luftangriffe allein die Flucht von mehr als 715.000 Menschen hätten bewirken können. Denn bereits vor der Ankunft der OSZE-Mission hatte es im Kosovo 300.000 Flüchtlinge gegeben, als die NATO noch gar keine Luftangriffe flog und die serbisch-jugoslawische Seite gemäß Gerichtsurteil keine gezielten JCE-Vertreibungskampagnen durchgeführt oder angestrebt hatte. Es müssen verschiedene Faktoren zur Flüchtlingskatastrophe im Jahr 1999 beigetragen haben.

Die Bodenkämpfe zwischen der VJ und der UCK waren vermutlich ein solcher Faktor, der die Flüchtlingskatastrophe im Kosovo verschärft haben dürfte, da Menschen bzw. Zivilisten vor allen Formen der Kriegsgewalt flüchten, um sich und ihre Familienangehörigen aus umkämpften Gebieten in Sicherheit zu bringen. Während der OSZE-Präsenz im Kosovo wurde zudem sichtbar, dass albanische Zivilisten bereits aus ihren Wohngebieten flüchteten, wenn sie anrückende Einheiten der serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte wahrnahmen, um sich vorsorglich in Sicherheit zu begeben, bevor es zu Kampfhandlungen zwischen der UCK und serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräften kam. Manche albanische Bewohner verließen ihre Dörfer aber auch bereits nach Ankunft von UCK-Einheiten, »weil man dann mit Angriffen von jugoslawischer Seite rechnen musste«.

Innerhalb des Kosovo hatten die intensivsten Kämpfe zwischen der VJ und der UCK in den ersten zwei Wochen des NATO-Luftkrieges stattgefunden, danach verlagerte sich das Kampfgeschehen an die albanisch-kosovarische Grenze. In diesen zwei Wochen hatte die VJ viele Gebiete und Dörfer, die unter Kontrolle der UCK gestanden hatten, besetzt und es ist unstrittig, dass die Bekämpfung der UCK in diesen zwei Wochen mit einem großen Gewalteinsatz verbunden war. Viele UCK-Soldaten flüchteten daraufhin aus dem Kosovo nach Albanien und Mazedonien. Die Familienangehörigen von diesen UCK-Soldaten und die Bewohner der besetzten Dörfer waren häufig ebenfalls mit ihnen geflüchtet. Es ist auffällig, dass in diesem Zeitraum die meisten albanischen Bewohner aus dem Kosovo geflüchtet waren oder zu Vertreibungsopfern wurden. Vom 24. März bis 5. April 1999 hatten nämlich 613.530 Albaner das Kosovo verlassen. Außerdem war ein Teil der albanischen Bewohner erwiesenermaßen von jugoslawischen Soldaten vertrieben worden, wie es die Zeugenaussagen von drei früheren Soldaten der VJ belegen. Zwei dieser Soldaten hatten zudem ausgesagt, sie hätten albanische Bewohner auf mündliche Anweisungen ihrer vorgesetzten Offiziere vertrieben. Alle genannten Faktoren, nämlich verübte Kriegsverbrechen, Luftangriffe der NATO, Flucht vor Kampfhandlungen aus umkämpften Gebieten und direkte Vertreibungen hatten schlussendlich die Flucht und Vertreibung von mehr als 700.000 albanischen Bewohnern aus dem Kosovo nach Mazedonien, Albanien und Montenegro bewirkt. Die Richter des ICTY haben jedoch insbesondere die Bekämpfung der UCK durch die VJ und die Flucht von albanischen Bewohnern aus umkämpften Kriegsgebieten letztlich als gezielte Vertreibung der albanischen Zivilbevölkerung durch serbisch-jugoslawische Sicherheitskräfte gewertet. Nur so kann erklärt werden, warum Kampfhandlungen zwischen der UCK und den serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräften im Gerichtsurteil nicht als mögliche Fluchtursache in Betracht gezogen wurden.

Der NATO-Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien hat gezeigt, dass die territoriale Integrität eines Landes, das über eine schwache Armee verfügt, nicht gesichert ist. Smiljanić und die übrigen Generäle der VJ hätten aus diesem Grund eine diplomatische Lösung des Kosovo-Konflikts bevorzugt. Nach Ansicht von Smiljanić war aber eine friedliche Lösung nur schwer möglich, weil die UCK auf eine bewaffnete Intervention der NATO setzte. So hatte die UCK im Jahr 1998 bei ihren Angriffen und Aktionen 173 Zivilisten, 115 serbische Polizisten und 37 Soldaten der VJ getötet und 667 Personen verwundet, darunter 403 Polizisten, 106 Soldaten und 158 Zivilisten. Die 173 getöteten Zivilpersonen waren vorwiegend serbischer oder montenegrinischer Nationalität, aber auch vermeintliche albanische Kollaborateure befanden sich unter den Toten. Außerdem waren bis zu 300 Menschen von Mitgliedern der UCK entführt bzw. verschleppt worden.

Die NATO-Staaten hatten ebenfalls eine militärische Option favorisiert und aus diesem Grund keinen Druck auf die UCK ausgeübt, sondern sie gewähren lassen. Das Rambouillet-Abkommen von März 1999 forderte auf dem gesamten Territorium der BRJ, einschließlich ihres Luftraumes und ihrer Gewässer, den ungehinderten Zugang für die NATO-Truppen und deren militärisches Gerät. Mit dieser Forderung war von den politischen Machthabern aus den NATO-Staaten bewusst eine Hürde gelegt worden, damit die serbische Seite dem Abkommen nicht zustimmen konnte und der Krieg gegen die BRJ unvermeidlich wurde. Die führenden Mitglieder der UCK waren in der albanischen Verhandlungsdelegation von Rambouillet ebenfalls vertreten und an ihnen führte in der Entscheidungsfindung kein Weg vorbei. Die Vertreter der UCK unterzeichneten das Rambouillet-Abkommen, nachdem sie erkannt hatten, dass das Abkommen für die serbische Seite unannehmbar war und die Unterzeichnung den Kriegseintritt der NATO auf der Seite der UCK zur Folge haben würde. Damit hatte die UCK ihr strategisches Ziel erreicht. Der NATO-Luftkrieg gegen die BRJ und die Kooperation mit der UCK sollten aus der Sicht der Clinton-Regierung dabei als Mittel dienen, um einen Regimewechsel in Serbien zu bewerkstelligen. Mit der Präsenz der OSZE-Friedensmission und der Bereitschaft der BRJ zur Stationierung amerikanischer Truppen im Kosovo wäre jedoch die Chance vorhanden gewesen, um den Konflikt friedlich beizulegen, aber für eine diplomatische Lösung wäre es erforderlich gewesen, dass die NATO-Staaten und insbesondere die Clinton-Regierung nicht einseitig gegen die serbisch-jugoslawische Seite fixiert gewesen wären und die UCK ebenfalls zur Mäßigung aufgefordert und ihre Gewaltakte sanktioniert hätten. Aber diese Chance wurde nicht nur leichtfertig vertan, sondern bewusst hintertrieben. Gemäß den Angaben des damaligen Vizepräsidenten der parlamentarischen Versammlung der OSZE, nämlich Willy Wimmer, hatten die USA die OSZE-Friedensmission mit vielen Spionen unterwandert, deren Aufgabe es war, Zielmarkierungen innerhalb des Kosovo anzubringen, um der NATO den Luftkrieg gegen die BRJ zu erleichtern.

Die Verhandlungen in Rambouillet sollten ebenso der Kriegsvorbereitung bzw. Kriegsrechtfertigung gegen die BRJ dienen und ein erfolgreicher Abschluss war seitens der Clinton-Administration nicht wirklich beabsichtigt. Außerdem ließ der US-Amerikaner William Walker als Leiter der OSZE-Friedensmission sogar Berichte der OSZE-Beobachter umschreiben und manipulieren, um den Druck auf die serbische Seite zu erhöhen und vermutlich auf diese Weise zugleich die eigenen Verbündeten auf Kriegskurs gegen die BRJ zu bringen. Die US-Regierung übte dadurch einen höchst destruktiven Einfluss auf die OSZE-Mission aus. Die Konsequenzen dieser Konfrontations- und Kriegspolitik mussten vor allem die Bewohner des Kosovo aber auch der BRJ tragen. Im Ojdanić-Gerichtsurteil wurden dagegen die Rolle der NATO und die Kriegsdrohungen der NATO-Staaten gegen die Bundesrepublik Jugoslawien naturgemäß positiv bewertet, obwohl es sich beim ICTY um ein UN-Tribunal handelt und die UN-Charta die Androhung von Gewalt gegen andere Staaten eigentlich untersagt. So stellte das Gerichtsurteil fest:

»the threats of the use of force by NATO should have been eyeopeners and warnings to the FRY (Federal Republic of Yugoslavia) and Serbian leadership of the need to seetle the controversy with the Kosovo Albanians, who were then more than 90 percent of the population, in a responsible manner and without delay.«

Das Gericht vertrat mit dieser Stellungnahme sehr deutlich die Linie der NATO und ignorierte dabei das Gewaltverbot der UN-Charta. Ein friedlicher Ausgleich hing allerdings nicht allein von der BRJ ab, da die serbische Seite nicht die einzige Konfliktpartei war. Solange die NATO-Staaten die UCK nicht zur Zurückhaltung drängten und die albanische Befreiungsarmee sich Chancen auf ein militärisches Eingreifen der NATO ausrechnete, war eine friedliche Beilegung nahezu unmöglich. Aber das Gericht verkehrte diesen Sachverhalt sogar ins Gegenteil, indem es gegen die serbisch-jugoslawische Seite zusätzlich den Vorwurf erhob, dass sie den Kampf gegen die UCK selbst nach dem Oktober-Abkommen zwischen Milošević und Holbrooke fortgesetzt habe und damit gegen das Waffenstillstandsabkommen dieser Vereinbarung verstoßen habe. Gleichzeitig blieben die Aktivitäten der UCK an der entsprechenden Stelle des Gerichtsurteils unerwähnt. Der größte Problempunkt bei dieser Wertung besteht darin, dass die Gewalt im November-Dezember 1998 hauptsächlich von der UCK ausging, wie selbst ein NATO-General eingeräumt hatte. Die UCK war ebenso für die meisten Gewaltverstöße im Oktober 1998 verantwortlich, während sich die serbisch-jugoslawische Seite um die Einhaltung des Oktober-Abkommens bemühte.

Das Gericht ignorierte damit den Umstand, dass es in erster Linie die UCK war, die gegen das Waffenstillstandsabkommen verstieß und ihre Angriffe gegen Einheiten der VJ sowie der serbischen Polizei nicht beendete. Die UCK verfolgte mit diesen Angriffen das Ziel, ihre serbisch-jugoslawischen Kriegsgegner in neue Kampfhandlungen zu verwickeln und somit die Chancen auf eine NATO-Intervention zu erhöhen, nachdem die NATO-Staaten im Oktober 1998 eine Kriegsdrohung gegen die BRJ ausgesprochen hatten. Die serbisch-jugoslawischen Truppen erwiderten natürlich das Feuer, wenn sie angegriffen wurden und dadurch nahmen die Kämpfe nach dem Oktober-Abkommen kein Ende. Die meisten Kämpfe erfolgten von Oktober 1998 bis zum 20. März 1999 nach vorangegangenen Angriffen der UCK auf serbische Polizisten und in den anschließenden Kämpfen setzten beide Seiten Gewalt ein. Da die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte über eine größere Feuerkraft verfügten, setzten sie bei diesen Kämpfen mehr Gewalt ein. Allerdings beschuldigte das Gericht die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte nicht für einen übermäßigen Gewalteinsatz nach vorangegangenen Angriffen der UCK, sondern machte ihnen die Bekämfpung der UCK an sich zum Vorwurf, obwohl es für die VJ und die serbische Polizei praktisch kaum möglich war, das Waffenstillstandsabkommen trotz Angriffen der UCK zu befolgen. Den Verfassern des Gerichtsurteils ging es darum, die Kriegsdrohungen der NATO gegen die BRJ positiv zu interpretieren, um davon abzulenken, dass diese Drohungen die Entwicklung zu einer Kriegseskalation begünstigt hatten. Die einseitigen Kriegsdrohungen der NATO-Staaten gegen die BRJ ermutigten nämlich die UCK zu einem provokativen Verhalten, um einen Kriegseintritt der NATO zu erwirken und waren somit nicht geeignet, um einen friedlichen Ausgleich zu fördern.

Diese einseitigen Kriegsdrohungen gegen Serbien und die BRJ öffneten damit vor allem der UCK die Augen, wie sie einen Kriegseintritt der NATO gegen Serbien herbeiführen konnte. Die BRJ trug für das Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet nicht die Hauptverantwortung. Das Ultimatum in Rambouillet sabotierte eine diplomatische Lösung und war für die Führung der BRJ höchstens ein klares Indiz, dass die NATO-Staaten einen Krieg gegen die BRJ anstrebten. Die Forderungen in Rambouillet waren für die serbische Seite unannehmbar und entsprachen faktisch einer uneingeschränkten Kapitulation, wie sie ein Staat nur nach einer vollständigen militärischen Niederlage akzeptieren kann. Aber diese ultimativen Bedingungen blieben im Gerichtsurteil fast unerwähnt oder wurden heruntergespielt, weil sie den unbedingten Willen der Clinton-Regierung zum Krieg gegen die BRJ bezeugt hätten und die NATO-Staaten dann kompromittiert gewesen wären. Der Abzug der OSZE-Mission erfolgte ebenfalls ohne Zustimmung oder Mitwirkung durch die BRJ, obwohl die Präsenz der OSZE-Mission eine wichtige Voraussetzung für eine friedliche Beilegung gewesen wäre. Auch nach der Ablehnung des Rambouillet-Abkommens durch die BRJ hätte die OSZE-Mission von den NATO-Staaten nicht abgezogen werden müssen, da sie einen stabilisierenden Faktor darstellte und die Situation im Kosovo es nicht erforderte, dass durch den Kriegseintritt der NATO eine neue Stufe der Gewalteskalation beschritten werden musste. Der Abzug der OSZE-Mission war die folgenschwerste Entscheidung und hatte entsetzliche Konsequenzen für die Bewohner des Kosovo. Die Fragwürdigkeit dieser Entscheidung und anderer Verhaltensweisen wurde in der obigen Passage nicht beachtet und so konnten die Kriegsdrohungen der NATO-Staaten in ein vorteilhaftes Licht gerückt werden.

Der Einfluss und die Handschrift der NATO sind an den besprochenen Urteilspassagen evident. Die NATO-Staaten stellen Richter, Anklagevertreter und andere Mitarbeiter beim ICTY und besitzen dadurch offensichtlich die Möglichkeit, die eigene Rolle im Kosovo-Konflikt günstig zu bewerten. Das kann man an den verklärenden Textstellen des Ojdanić-Gerichtsurteils zur Rolle der NATO und der Einschätzung zu den NATO-Luftangriffen durch das Gericht erkennen. Die NATO-Bombardierungen waren für die Bundesrepublik Jugoslawien eine große Gefahr und führten zu schweren Zerstörungen, aber die Richter werteten die Luftangriffe als günstige Gelegenheit für die Staatsführung der BRJ, obwohl die Luftabwehr der VJ keine modernen Luftabwehrsysteme besaß und die BRJ somit den Bombardierungen der NATO schutzlos ausgeliefert war. Das Fallbeispiel beweist, dass die Richter beim ICTY sehr stark die Perspektive und Positionen der NATO übernehmen. In jedem Fall lassen sich bedeutende Wirkungsmöglichkeiten der NATO-Staaten auf das UN-Tribunal ICTY ausmachen. Dies geht soweit, dass sich Repräsentanten der NATO für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht nicht vor dem ICTY verantworten mussten. Die Vertreter der NATO-Staaten mussten nicht einmal befürchten, dass es zu einer Anklageerhebung gegen sie kommen könnte, wie dies von Jamie Shea offen eingeräumt wurde.


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