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Das falsche Pferd

Das falsche Pferd

Juan Guaidó, dem die USA in Venezuela partout zur Macht verhelfen wollen, kann die Hoffnungen seines Volkes nicht erfüllen.

Stille vor dem Sturm?

Es ist in den deutschen Medien still geworden um Juan Guaidó. Er ist von den Titelseiten der Printmedien immer weiter auf die hinteren Bänke geschoben worden. Auch bei den Öffentlich-Rechtlichen steht er nicht mehr so sehr im Mittelpunkt. Die Berichterstattung ist knapper und insgesamt sachlicher, wenn auch immer noch sehr parteiisch. Aber man scheint zurückhaltender geworden zu sein. Liegt es nur daran, dass es weniger aus Venezuela zu berichten gäbe oder wartet man einfach nur ab?

Auffällig ist, dass Medien und Politik in Europa das Thema mittlerweile mit mehr Vorsicht zu behandeln scheinen. Darin unterscheidet man sich ganz erheblich von den USA, wo der Regime Change offensichtlich und mit Nachdruck weiterverfolgt wird. Dabei scheint der Regierung in Washington die Meinung der Welt mittlerweile ziemlich schnuppe zu sein. Man nimmt kein Blatt mehr vor den Mund und gibt sich keine Mühe, die eigenen kriminellen Absichten zu verbergen.

Auch das Völkerrecht kümmert die US-Regierung einen feuchten Kehricht und schon gar nicht die venezolanische Verfassung, mit der Washington und der Wertewesten ursprünglich Guaidós Anspruch auf das Präsidentenamt begründet hatten. Denn „die maximale Amtszeit eines Interimspräsidenten von 30 Tagen ist inzwischen überschritten“ (1). Er ist also gar kein Übergangspräsident mehr, sondern nur noch selbsternannt.

In diesem Konflikt scheinen die Europäer mehr auf Distanz zu Washington, aber auch zu Guaidó selbst zu gehen. Unüberhörbar war die Ernüchterung in den Beiträgen der FAZ nach dem 23. Februar dieses Jahres, als an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze die wirklichen Kräfteverhältnisse in Venezuela offensichtlich geworden waren.

Guaidó hatte das Kräftemessen verloren. Er verfügte nicht über den Rückhalt in der Bevölkerung, den die Bilder aus Caracas hatten vermuten lassen und die genau diesen Eindruck erwecken sollten.

Noch geringer scheint sogar der Einfluss auf das Militär zu sein, wie die geringe Zahl derer zeigte, die nach Aufforderung Guaidós von der Fahne Maduros gegangen waren.

Aber nicht nur die Medien, auch die europäischen Politiker werden zurückhaltender gegenüber Guaidó. Letzter Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Ablehnung des von ihm als Botschafter entsandten Diplomaten, der von Berlin nicht als Vertreter Venezuelas akkreditiert wurde (2). Allmählich setzt sich in Europa die Erkenntnis durch, „dass die tatsächliche Macht im Land immer noch bei Maduro liege“ (3). Die Wirklichkeit ist eben doch nicht so leicht außer Acht zu lassen und richtet sich auch nicht immer nach den Wünschen und Prophezeiungen derer, die die öffentliche Meinung formen wollen.

Aber diese Wirklichkeit ist für die USA offensichtlich eine andere als für die Europäer. Letztere haben nicht viel zu verlieren in Venezuela außer der Hoffnung, dass das Land sich unter Guaidó weiter für deutsche Investitionen und Waren öffnen könnte. Aber diese Hoffnungen scheint ihr Favorit nicht erfüllen zu können. Also, weshalb dann weiter auf einen lahmen Gaul setzen?

Für die Amerikaner jedoch steht mehr auf dem Spiel: Ihre Vorherrschaft in Lateinamerika, das sie gewohnt waren, als ihren Hinterhof anzusehen. Die Chinesen machen ihnen wirtschaftlich ihre Stellung streitig, die Russen zusätzlich auch noch militärisch. Nach der Niederlage in Syrien, die nicht unwesentlich auf die russische Präsenz dort zurückgeht, ihrem Einflussverlust im gesamten Nahen Osten, ihren gescheiterten Regime-Change-Versuchen in Teilen der islamischen Welt und dem schmählichen Versagen in Afghanistan droht nun vor der eigenen Haustür eine weitere Blamage.

Und selbst das kleine Nord-Korea konnte den USA die Stirn bieten. Venezuela wird für die USA zur Nagelprobe, ob sie überhaupt noch in der Lage sind, ihre Vorherrschaft in der Region zu behaupten.

Sind die USA noch eine Weltmacht oder nur noch ein zahnloser Papiertiger mit einem überteuertem, aber wirkungslosen Militärapparat? Vor diesen Herausforderungen stehen die Europäer nicht in dem Konflikt um Venezuela. Für sie geht es eher nur ums Geschäft und da sehen sie eher die zwanghafte Sanktionssucht der USA zunehmend auch als Problem für sich selbst an.

Diese erstreckt sich ja mittlerweile nicht mehr nur auf sogenannte Schurkenstaaten wie Iran, Nordkorea und andere. Immer häufiger geraten sogar die Partner selbst in den Bann der amerikanischen Sanktionitis wie die Türkei, aber auch Deutschland und andere Europäer, denen man das Gasgeschäft mit Russland und den 5G-Ausbau mit Huawei vermiesen will. Das behindert die Geschäfte und schwächt die Wirtschaft, nicht nur die der Sanktionierten, sondern auch die Weltwirtschaft insgesamt.

Große Hoffnungen

Dabei hatte doch alles so verheißungsvoll begonnen. Ach, wie gerne hatten seine Förderer im Westen Guaidós Prophezeiungen geglaubt, berauscht und besoffen von den Bildern der Menschenmassen, die ihm anfangs in Caracas zugeströmt waren. Wie bereitwillig hatten sie diese Bilder aufgenommen und voll freudiger Erwartung dem eigenen Medienvolk vorgelegt. Endlich naht für den Despoten Maduro die Götterdämmerung. Endlich scheinen seine Tage gezählt zu sein. Endlich kehren Demokratie und Freiheit zurück nach Caracas, unsere Demokratie, unsere Freiheit, die einzig wahre und richtige, die westliche.

Endlich schien sie wieder zum Greifen nah, die Freiheit, in Venezuela investieren zu können ohne Auflagen vonseiten der Regierung, ohne Angst vor staatlichen Eingriffen, ohne Rücksichtnahme auf die Interessen der Venezolaner, einzig und allein orientiert am Kapitalinteresse, so wie es Guaidó in Aussicht stellte.

Oh, glorreiche Zeit des freien Marktes! Oh, goldene Investitionsfreiheit! Sollte sie endlich wieder einziehen in Venezuela, die Freiheit des Individuums, des kapitalkräftigen Individuums, des Geldgebers, der gerne gibt, aber nur, um noch mehr zu nehmen? Nun schienen sie wieder anzubrechen, die herrlichen Zeiten des Investors, der genau so lange bleibt, wie es sich lohnt. Sollte nun endlich wieder das Recht des Unternehmers auf die Freizügigkeit seines Kapitals gelten: ungehindert weiterziehen zu können, wenn die Märkte nichts mehr hergeben, die Arbeitskraft zu teuer wird, die Ölquellen leer, die Minen ausgebeutet, die Böden ausgelaugt sind. Glorreiche Zeiten schienen wieder anzubrechen in Venezuela dank des smarten Guaidó, dem Freund der Märkte, dem Musterschüler der liberalen Wirtschaftstheorien.

Große Ernüchterung

Aber nun wird er nicht mehr so sehr gefeiert und bejubelt wie noch vor wenigen Wochen, der smarte Guaidó. Es hat sich die herbe Erkenntnis durchgesetzt, dass der Umbruch in Venezuela nicht so einfach ist, wie die westlichen Medien und Politiker es sich vorgestellt hatten. Sie hatten wohl geglaubt, dass es reiche, einen Messias zu präsentieren, der dem Volk Versprechungen macht und gleichzeitig das Format hat, endlich die zerstrittene Opposition zu einen. Wie der Phoenix aus der Asche war er vor das Volk getreten, der venezolanische Obama, der Macron von Caracas, ein Held der großen Worte mit Begeisterungspotential.

Aber diese modernen Messiasse kommen nicht daher in Jesuslatschen. Sie tragen saloppe Anzüge, nicht steif wie die Altvorderen, sondern locker mit offenem Hemd. Sie sind Uni-Absolventen mit einem von Visionen verklärten Blick, der über die Massen vor ihren Tribünen hinweg in weite Zukunft zu schweifen scheint. Keine Busfahrer wie Maduro, keine Vorstadtmenschen wie die Gelbwesten.

Nein, sie sind die charmanten, gebildeten, kultivierten Jungs mit Charisma, mit leuchtenden, luftigen Idealen und eingängigen Parolen wie „Yes, we can“ oder ähnlich Wohlklingendem ohne Sinn. Zu ihrem Glück fragte niemand aus der Schar der Jubelnden: „WAS können wir denn?“. Angesichts ehrlicher Antworten wären der Hype und die Verzückung der Jünger schnell vorüber gewesen.

Die konkrete politische Praxis eines Obama wie nun auch die Gelbwestenbewegung in Macrons Reich offenbaren sehr schnell, dass die Bäume der Visionäre mit dem glitzernden Lametta der Sprechblasen nicht in den Himmel wachsen.

Alltag und Wirklichkeit holen die Phrasendrescher sehr schnell zurück aus den luftigen Wolken der Gedankenwelten und der ach so tollen und intellektuell ausgeklügelten Ideen auf den harten Boden der unbestechlichen Wirklichkeit.

Was hatte nicht Guaidó schon alles angekündigt? Wo waren die Hunderttausenden von Unterstützern, von denen er noch wenige Tage vor seinem großen Auftritt an der Grenzbrücke gesprochen hatte? Ja, in Caracas, aber nicht dort, wo eine Konfrontation mit der Macht drohte, wo es nach Pulverdampf und Tränengas roch.

Wo sind die Interventionstruppen der Nachbarstaaten und der USA, mit deren Einsatz Guaidó seinen Gegnern gedroht und die Zuversicht seiner Anhänger genährt hatte? Nach dem fehlgeschlagenen Kräftemessen mit Maduro und seinem Militär hatten sich die Staaten der Lima-Gruppe sehr schnell von militärischen Optionen distanziert. Selbst die USA beließen es bei unverbindlichen Drohungen und neuen Sanktionen.

In großen Worten hatte Guaidó nach den massiven Stromausfällen von Anfang März den Venezolanern angekündigt, „dass das Licht mit dem Ende des Regimes zurückkehre“ (4). Aber es war gerade nicht Guaido sondern das Regime, das trotz der fortgesetzten Sabotageakte dafür gesorgt hat, dass das Licht wieder schneller nach Venezuela zurückkehrte. Denn die Venezolaner konnten nicht so lange warten, bis Guaidó seine Versprechungen in die Wirklichkeit hätte umsetzen können — ihnen verdarben derweil die Lebensmittel.

Aber dieses unsensible Auftreten angesichts der drängenden Alltagsprobleme veranschaulicht die Blauäugigkeit eines Mannes, der sich berufen fühlt, ein Land und ein Volk aus Elend und Unterdrückung zu führen. Er findet keine Lösung für die drängenden Probleme und glaubt, dass es für die Venezolaner angesichts verrottender Lebensmittel nichts Wichtigeres gibt, als dass er, Guaidó, in den Präsidentenpalast einzieht. Als wären damit die Probleme im Alltag der einfachen Menschen gelöst. So kann nur denken, wer diese Probleme nicht zu kennen scheint.

Die Quittung folgte auf dem Fuße. Am 11. März, mitten in der Stromkrise, hatte Guaidó die Bevölkerung aufgerufen, „ihren Unmut auf die Straße zu tragen“ (5). Am 14. März musste die FAZ kleinlaut und beschönigend melden: „Zahlreiche Venezolaner sind am Dienstag einem Aufruf von Oppositionsführer Juan Guaidó gefolgt und auf die Straße gegangen“ (6). Bisher war in der Berichterstattung der FAZ über die Massenversammlungen von Guaidós Anhängern nur in Hunderttausenden und Zehntausenden abgerechnet worden. „Zahlreiche“ deutet in diesem Zusammenhang auf ein eher enttäuschendes Aufgebot hin, das man aber so nicht bezeichnen will.

Großes Unverständnis

Große Worte und große Hoffnungen machen nicht satt. Nicht das Volk, nicht den Investor. Das Volk heißt die kleinen Brötchen willkommen, denn sie füllen den Magen, die großen Worte nicht. Der Investor braucht keine kleinen Brötchen. Sein Bauch kennt keinen Hunger, denn seine Rendite stimmt. Seine Kinder besuchen die Eliteschulen, ihre Zukunft ist freundlich. Und trotzdem kennt auch er den Hunger, den Hunger nach Kapitalverwertung. Auch er leidet Not und Mangel, aber es ist nicht die Not des Volkes, nicht der Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten, guter Bildung. Seine Not ist der Anlagenotstand, der Mangel an Investitionsmöglichkeiten.

Wo hinein soll er noch sein Geld stecken, wenn die alten Märkte des Wertewestens nur noch dürftige Renditen abwerfen und neue Märkte nicht in Sicht sind? Wie soll er noch seinen Schnitt machen, wenn Länder wie Venezuela, Vietnam, Syrien, Iran, Kuba, Nordkorea, China, Russland und die vielen anderen sein Geld nur noch zu den Bedingungen ins Land lassen, die sie selbst bestimmen? Wo soll er noch Mehrwert erwirtschaften, wenn es den Regierungen dieser Länder zuerst um die eigene Entwicklung geht und nur in zweiter Linie darum, dass der Investor möglichst viel aus ihrem Boden und der Arbeitskraft ihrer Menschen herausholen kann?

Wie soll er noch eine ordentliche Rendite erwirtschaften, wenn die Chinesen ihn nicht an ihren einträglichen öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen lassen, wie er es aus dem goldenen Westen gewohnt ist? Wie soll der Investor Industrie und Arbeiter dieser Länder weiterhin als billige Arbeitskraft nutzen, ihnen sein technologisches Wissen vorenthalten, wenn diese ihren Anteil an seiner Produktion verlangen, an seinem Gewinn, an seinem technologischen Fortschritt, an der Steigerung der Produktivität?

Für all diese Probleme wäre im Falle Venezuelas Guaidó die gewünschte Lösung gewesen. Und in der Vorstellung dieser Guaidós, Macrons und der Herrschaften in Washington scheint es auszureichen, den Führer des Staates auszutauschen und dem Volk einen neuen vorzusetzen. Denn sie, die Visionäre, halten nicht viel vom einfachen Volk. Sie glauben, das Volk ist auf ihre Visionen angewiesen, um eine Orientierung zu haben.

Aus diesem Grunde können sie die Unterstützung, die Maduro von den einfachen Leuten erfährt, nicht anders verstehen als das Ergebnis von Unterdrückung und Unfreiheit. Mit Gewalt halte Maduro die Menschen bei der Stange. Damit sie aber frei werden, bedürfe es der Visionäre, die das Volk in die Freiheit des Individuums und des Marktes führen.

Die Guaidós und die Herrschaften in Washington können sich nicht vorstellen, dass die Anhänger Maduros ihm aus freien Stücken folgen trotz der Sanktionen, trotz der Entbehrungen, trotz der Stromausfälle, trotz des tagtäglichen Elends, trotz der Drohungen mit der militärischen Intervention — oder vielleicht gerade deswegen?

Auch wenn die Guaidós sich volkstümlich geben, können sie sich nicht vorstellen, dass Maduro nur deshalb überlebt, weil das Volk bereit ist, die Opfer zu ertragen, die ihm die Sanktionen abverlangen. Sie ertragen das — nicht weil er der Diktator ist, als den ihn der Wertewesten aus tiefster Überzeugung darstellt. Sie stehen zu Maduro, weil er der Ausdruck eines Volkswillens ist, den man sich in den von Interessen zerfressenen und gelähmten Gesellschaften der westlichen Wertegemeinschaft nicht mehr vorstellen kann.

Denn solange Maduro regiert, herrscht auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft, eine Zukunft, die besser ist als die Vergangenheit, aus der die meisten Venezolaner kommen. Das Leben in Venezuela ist hart, es mangelt an vielem. Aber es ist Hoffnung da und das politische Bewusstsein eines Volkes, das zu wissen scheint, dass es um die eigene Zukunft geht, um die nationale und wirtschaftliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Und es ist genau diese Kraft, die damals das Volk von Vietnam das übermächtige Amerika hat besiegen lassen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-03/bundesregierung-juan-guaido-diplomat-venezuela-botschafter
(2) ebenda
(3) ebenda
(4)Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.3.2019: Guaido: Bald beziehe ich meine Büro im Präsidentenpalast
(5) https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/guaido-ruft-anhaenger-zu-massenprotesten-am-dienstag-auf-16036579.html
(6) FAZ vom 14.3.2019: Guaido: Bald beziehe ich meine Büro im Präsidentenpalast.

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