In M. Night Shyamalans Fantasy-Film „Das Mädchen aus dem Wasser“ wird ein Mann gezeigt, der nur die eine Seite seines Körpers trainiert hat. Schenkel und Arme sind auf der einen Seite angeschwollen wie bei einem Bodybuilder; auf der anderen Seite sind alle Gliedmaßen dünn und schwächlich. Diese groteske Figur könnte symbolisch für die Einseitigkeit stehen, mit der wir Menschen seit Jahrhunderten unsere Fähigkeiten ausprägen.
Die Fähigkeiten der linken Gehirnhälfte — Ratio, Logik, diskursives Denken — sind übermäßig ausgeprägt, die der rechten — Gefühl, Intuition — oft geradezu verkümmert. Es wäre höchste Zeit, einen Ausgleich herzustellen. Doch der Teufel steckt nicht nur im Detail, er sch... immer auf den größten Haufen. Das Ungleichgewicht scheint sich immer noch mehr zu vergrößern.
„Das Mädchen aus dem Wasser“ ist eine Wassernymphe von zarter, reiner und höchst spiritueller Ausstrahlung, die die Menschen wieder in Kontakt mit ihrer Seele bringt. Es ist die Figur eines „weiblichen Messias“, wie sie in letzter Zeit in mehreren Büchern und Filmen aufgetaucht ist: etwa in Glenn Kleiers Buch „Jesa“ — die weibliche Form von „Jesus“ — es oder in „Der Goldene Kompass“. Schon klassische Märchen wie „Die sechs Schwäne“ oder „Die Schneekönigin“ kennen starke weibliche Zentralfiguren — Retterinnen.
In Dan Browns Bestseller „Sakrileg“ taucht eine Nachfahrin Christi auf, und Maria Magdalena wird als gleichberechtigte Gefährtin des Erlösers rehabilitiert. Im Buch und der daran anknüpfenden Verfilmung mit Tom Hanks erscheint das unterdrückte Weibliche als das verdrängte Geheimnis der katholischen Kirche. Symbol dafür ist der Heilige Gral. Die oben offene Schale symbolisiert das Weibliche in seinen Aspekten Empfänglichkeit und Hingabe. Der Megaerfolg dieses Stoffes sagt einiges darüber aus, dass große Teile der Öffentlichkeit damals rein waren für ein Wiedererstarken des weiblichen Archetyps.
Die Göttin, die Teil der Welt ist
Neben „Sakrileg“ ist in diesem Zusammenhang auch Paolo Coelhos Bestseller „Die Hexe von Portobello“ interessant. Der Autor präsentiert seinen Lesern dort anhand des Schicksals der „Hexe“ Athena eine eher heidnische Version des Mythos von der Großen Mutter:
„In der heidnischen Tradition ist die Anbetung der Natur wichtiger als die Verehrung heiliger Bücher. Die Göttin ist in allem, und alles ist Teil der Göttin. Die Welt ist nur ein Ausdruck ihrer Güte. (…) Im Kultus der Großen Mutter gibt es nicht mehr das, was wir ‚Sünde’ nennen und was gemeinhin eine Übertretung willkürlicher moralischer Gesetze ist. Geschlechtsleben und Bräuche sind freier, da sie Teil der Natur sind und daher nicht als Frucht des Bösen angesehen werden.“
Coelho unterscheidet „zwischen einem Gott, der die Welt kontrolliert, und der Göttin, die Teil der Welt ist“ und er hat eine Zukunftsvision. „Nach Jahrhunderten männlicher Herrschaft kehren wir zum Kult der Großen Mutter zurück.“
Diese Argumentationslinie ist vor allem aus der spirituellen Literatur bekannt. Vielfach findet man sie auch in der Matriarchatsforschung, in der vom Archetypus der „Großen Mutter“ die Rede ist, die in Gestalt vieler Göttinnen — Isis, Ischtar, Astarte, Freia, Maria — von den Menschheitskulturen verehrt wurde. Menschen, die sich für matrifokale — auf Mütter fokussierte — Kulturen interessieren, ersehnen häufig auch auf eher diffuse Weise die Rückkehr der Großen Mutter.
Das ewig Weibliche
Klassisch ist das Ende von Goethes „Faust II“. Hier wird der ruhelose Mann — Faust — durch die Fürbitte einer irdischen Frau — Gretchen — und die Gnade der Himmelskönigin erlöst. „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin, bleib uns gnädig“, beten die himmlischen Geistwesen. Der Schlusssatz des gesamten, gewaltigen Faustwerkes könnte eindeutiger und zugleich vieldeutiger nicht sein: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Was ist darunter zu verstehen? Bei Goethe ist wohl in erster Linie die erlösende Macht der Gnade gemeint. Durch „strebendes Bemühen“ allein ist sie nicht zu erreichen; es braucht dafür das Entgegenkommen einer voraussetzungsfreien Liebeskraft von oben.
Psychologisch hat Gnade zweifellos ihre Entsprechung in der Mutterliebe, jedenfalls in einer idealisierten, von menschlicher Fehlbarkeit „gereinigten“ Form davon. Der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm schreibt darüber:
„Das mütterliche Prinzip ist das der bedingungslosen Liebe. Die Mutter liebt ihre Kinder, nicht weil sie ihr Freude machen, sondern weil sie ihre Kinder sind. Deshalb kann die Liebe der Mutter auch nicht durch ‚gutes Verhalten’ erworben oder durch ‚schlechtes Betragen’ verloren werden. Mutterliebe ist Gnade und Barmherzigkeit (im Hebräischen rachamim, das auf rechem, Gebärmutter, zurückgeht).“
Fromm führt dann weiter aus, dass väterliche Liebe im Gegensatz zu mütterlicher „an Bedingungen geknüpft“ sei. „Sie hängt von den Leistungen und dem guten Betragen des Kindes ab. (…) Die väterliche Liebe ist Gerechtigkeit.“
Man kann auf den ersten Blick erkennen, dass unsere Gesellschaft, allen voran „Vater Staat“ vor allem dem väterlichen Prinzip huldigt. Leistungs- und Erfolgsdenken, das Prinzip „Fördern und Fordern“, der Ruf nach „härteren Strafen“ bestimmen die aktuelle politische Diskussion.
Eine schon penetrante Ideologie der „Eigenverantwortung“ ist dabei, die letzten Reste von Solidarität der Stärkeren für die Schwächeren auszuhöhlen. Erich Fromm bringt den Boom „erbarmungsloser“ Ideologien in Politik und Religion auch mit dem Verschwinden des Kultus um die „Große Mutter“ in Verbindung, die in verschiedenen Kulturkreisen verschiedene Namen trug.
Das unterdrückte „Yin“
Von der Sufi-Heiligen Rabia al Adawiyya, die im 8. Jahrhundert lebte, ist folgende Anekdote überliefert: Man habe sie in den Straßen von Basra gesehen, mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt, was das bedeute, habe sie geantwortet:
„Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer im Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen.“
In dem schwedischen Spielfilm „Wie im Himmel“ sagt die Frau des Pfarrers: „Gott vergibt uns nicht — weil er uns gar nicht erst verurteilt“. Ein solcher Gott ist wohl gleichzeitig eine „Göttin“. Tiefenpsychologisch verbinden wir eine alles verstehende, nichts verurteilende Haltung mit einem idealisierten Mutterbild.
In einem noch umfassenderen Sinn kann man das weibliche Prinzip aus dem Yin-Yang-Gegensatz der chinesischen Philosophie ableiten. Dabei repräsentiert „Yin“ den weiblichen Archetypus, die weibliche Urkraft. Es gibt unzählige Yin-Yang-Tabellen, die den Gegensatz zwischen den beiden Urkräften verdeutlichen können, aus deren Spannungsfeld und gegenseitiger Ergänzung die Schöpfung aufgebaut ist. Die folgende habe ich aus dem Buch von Fritjof Capra, „Wendezeit“, entnommen:
Capra kommentiert die Aufzählung in seinem Buch folgendermaßen:
„Sieht man sich diese Liste von Gegensätzen an, erkennt man sofort, dass unsere Gesellschaft ständig das Yang gegenüber dem Yin höher bewertet hat — rationale Erkenntnis galt mehr als intuitive Weisheit, Wissenschaft mehr als Religion, Konkurrenz mehr als Kooperation, Ausbeutung von Naturschätzen war wichtiger als ihre Bewahrung, und so weiter.
Diese Betonung des Yang, noch unterstützt durch das patriarchalische System und weiter ermutigt durch die Vorherrschaft der auf rationaler Evidenz beruhenden Kultur während der vergangenen Jahrhunderte, hat zu einem tiefgreifenden kulturellen Ungleichgewicht geführt, das seinerseits die Wurzel unserer heutigen Krise ist. Das mangelnde Gleichgewicht betrifft unser Denken und Fühlen, unsere Wertvorstellungen und Verhaltensweisen sowie unsere gesellschaftlichen und politischen Strukturen.“
Licht, Wachstum, Wille
Sehr schön kann man das Ungleichgewicht von Yin und Yang anhand dreier Begriffe demonstrieren, die sowohl der psychologisch-spirituellen, als auch der politisch-ökonomischen Sphäre zugehören: „Licht“, „Wachstum“ und „Wille“.
Das Ideal des „Lichts“ dominiert sowohl in der Spiritualität als auch in Philosophie und Wissenschaft. Begriffe wie „Erleuchtung“ oder „Aufklärung“ zeugen davon. Sie suggerieren, dass das Helle besser sei als das Dunkle, der Tag besser als die Nacht, die Sonne besser als der Mond, das Bewusste besser als das Unbewusste. Ebenso verhält es mit dem Begriff „Erwachen“, den man in der östlichen Spiritualität, aber auch bei den Zeugen Jehovas — „Erwachet!“ — kennt. Was ist eigentlich so erstrebenswert am Wachsein, was so schlimm am Träumen und Schlafen? Ist es die Hingabe, der Verlust an Kontrolle, den männlich dominierte Spiritualität so fürchtet? Auf Lichtideologien fixierte Menschen gleichen chronisch Schlaflosen, sie sind aus dem Gleichgewicht, aus der Harmonie gefallen.
Ein weiteres Beispiel für Männerdominanz im herrschenden Zeitgeist ist der Wachstumsbegriff: Die patriarchalisch geprägte Ökonomie liebt Wachstumskurven, die von links unten nach rechts oben verlaufen. Das Logo der Deutschen Bank symbolisiert den Wachstumswahn auf einer platten materiellen Ebene. Wohin diese Wachstumsideologie geführt hat, können wir anhand des Schuldenwachstums und des bedrohlichen Überhandnehmens von Umweltzerstörung beobachten. Dem archetypisch Weiblichen ist dagegen ein rhythmisches Empfinden eigen. Statt der als unendlich gedachten Aufwärtsentwicklung bejaht dieses das rhythmische Auf und Ab der Entwicklungslinien wie wir es bei den Mondphasen und beim Wechsel der Jahreszeiten finden.
Spezifisch männlich ist auch eine einseitige Philosophie des Willens und — daraus abgeleitet — der Verantwortung. Eine vereinseitigte Philosophie des freien Willens hat zunächst den psychologischen Reiz, dass durch sie alles machbar und manipulierbar erscheint. Moderne „Macher“-Spiritualität gleicht einem Pfeil, der zu einem Ziel irgendwo hoch in den Wolken abgeschossen wird. „Dorthin will ich“, sagt der Schütze, wobei die Betonung auf der Kraft des Willens und auf der Fiktion eines separaten „Ich“ liegt.
Empfänglichkeits-Spiritualität gleicht dagegen der nach oben offenen Schale — dem Gral —, die die herabströmende Gnade in sich aufnimmt, so wie auch die Erde den Regen in sich aufsaugt. Die menschliche Seele — auch die des Mannes — ist in vielen Kulturzeugnissen als weiblich dargestellt worden, so im islamischen Sufismus und im Hohelied der Bibel — also in einem Zeugnis der jüdischen Kultur. Gott tritt als der „Geliebte“ auf, der von der „Braut“, der Seele, sehnsüchtig erwartet wird.
Der Weg des gespannten Bogens
Fritjof Capra sagte, dass die Wurzel der gegenwärtigen Krise in einem Ungleichgewicht der Kräfte — Yin und Yang — liegt. Umgekehrt bedeutet das, dass die Lösung der Krise darin bestünde, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Aktuelle politische und gesellschaftliche Missstände können einem Heilungsprozess zugeführt werden kann durch einen Zustrom weiblicher Energie.
Im Lukasevangelium sagt Maria, die Mutter Jesu über Gott: „Er stößet die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern und lässt die Reichen leer.“ Hier spricht nicht allein ein jüdisches Mädchen, das zufällig einen berühmten Sohn gebar, ihre Privatmeinung aus. Diese Bibelstelle offenbart die „Logik“ des mütterlichen Prinzips. Eine gute Mutter sucht immer den Ausgleich und, so gut es geht, Gerechtigkeit. Sie würde niemals einem ihrer Kinder im Überfluss zu essen geben und andere Kinder hungern lassen. Wenn eine Mutter überhaupt jemandem größere Aufmerksamkeit und Fürsorge angedeihen lässt, so ist es das schwächste und hilfsbedürftigste ihrer Kinder.
Die global dominierende Wirtschaftslehre besagt genau das Gegenteil. Es schikaniert die Schwachen und hofiert die Starken. Es füllt die Reichen mit Gütern und lässt die Armen leer.
Der große chinesische Weise Laotse rät dem Politiker daher, den Staat „aus dem mütterlichen Prinzip heraus“, zu regieren. Das meint vor allem das Gesetz des Ausgleichs: „Der Weg des Himmels ist wie ein gespannter Bogen: Das Hohe drückt er nieder, das Tiefe hebt er hoch.“ (Tao Te King) Es meint aber auch Gnade, Bescheidenheit und Vertrauen.
Das mütterliche Prinzip
- schwingt harmonisch mit den Zyklen der Natur. Unnatürliches Wachstum und die Vergewaltigung des Natürlichen sind ihr fremd.
- versucht einfühlsam zwischen verschiedenen Interessen zu vermitteln, statt einen aufreibenden Wettkampf um größtmögliche Härte, Stärke und Durchsetzung zu inszenieren.
- verschenkt großzügig und uneigennützig und gesteht jedem Wesen ein uneingeschränktes Recht auf Leben zu.
- wünscht, dass die überlebenswichtigen Güter wie Boden, Wasser, Luft und Nahrungsmittel nicht wenigen gehören, sondern allen gleichermaßen zur Verfügung stehen.
- denkt vor allem mit dem Herzen und misst Fantasie und Intuition eine größere Bedeutung zu als Logik, Berechnung und Sachzwang.
Mütter im Fokus
Aber sind das nicht idealisierende Wunschvorstellungen? Gibt es historische Beispiele an denen man ablesen kann, wie Gesellschaften funktionieren, bei denen „Mütter im Fokus“ sind? Heide Göttner-Abendroht, die wahrscheinlich bekannteste lebende Matriarchats-Forscherin, hat zusammengetragen, was wir über historische „Matriarchate“, aber auch über die wenigen überlebenden matriarchalen Kulturen wissen. Sie forschte bei verschiedenen Naturvölkern, ua in China, Tibet, Sumatra, Japan, im Pazifik, in Indien, Afrika, Südamerika, und Nordamerika.
Göttner-Abendroths Grundthese lautet: Eine „Frauenherrschaft“ als bloße Umkehrung patriarchaler Machtverhältnisse hat es nie gegeben. Genauer müsste man von „matrifokalen“ oder „matrizentrischen“ Gesellschaften sprechen. Und die könnte man eher als „herrschaftsfreie Gesellschaften“ denn als Mütter-Diktaturen bezeichnen. Matrifokale Gesellschaften zeichnen sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, die an politischer Brisanz nichts zu wünschen übriglassen. So Heide Göttner-Abendroth:
„Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate Ausgleichsgesellschaften. Ihre Ausgleichsökonomie lässt keine Unterschiede zwischen Arm und Reich aufkommen, stellt aber einen gemäßigten Wohlstand für alle her. Das Gegenteil der Ausgleichsökonomie ist die Akkumulationsökonomie in patriarchalen Gesellschaften. Darin behalten die durch Waffen, Geld und Wirtschaftsstrukturen wenigen Mächtigen den Großteil der vorhandenen Güter für sich, die sie durch direkten oder indirekten Zwang der Mehrheit der Menschen weggenommen haben.“
Statt als Herrscherin fungiert die Matriarchin eher als Verwalterin des Gemeinschaftsbesitzes:
„Alle diese Güter, von den Mitgliedern eines Clans erworben, werden in die Hand der Matriarchin des Clans gegeben. Durch das Sammeln an einer Stelle ist der Überblick garantiert. Sie sind damit aber nicht der ‚Besitz’ der Matriarchin, sondern sie verwaltet sie nur, indem sie die zum Leben notwendigen Güter an alle Mitglieder des Clans gleichmäßig und gerecht wieder verteilt. Die Überschüsse werden, nach gemeinschaftlicher Beratung des Clanrats, von ihr für besondere Ausgaben eingesetzt.“
Konsensdemokratie statt Kampfkandidaturen
In matrifokalen Gemeinschaften scheint sich eine Art Konsens-Demokratie herausgebildet zu haben. „Konsens“ bedeutet, dass zum Beispiel nicht 51 Prozent der Stimmberechtigten die anderen 49 Prozent überstimmen, „besiegen“ und unterdrücken dürfen –in diesem Sinn wäre Demokratie eher „Mehrheits-Diktatur“. Vielmehr werden im Idealfall die Interessen aller Beteiligten ausreichend berücksichtigt.
„Angelegenheiten, die das Clanhaus betreffen, werden von den Frauen und Männern in einem Prozess der Konsensfindung, d.h. durch Einstimmigkeit, entschieden. Dasselbe gilt für Entscheidungen, die das ganze Dorf betreffen: Nach dem Rat im Clanhaus treffen sich Delegierte der einzelnen Clanhäuser im Dorfrat. Sie sind keine Entscheidungsträger, sondern nur Delegierte, die miteinander austauschen, was die einzelnen Clanhäuser beschlossen haben.“
Wichtig ist hier, auf welche Weise basisdemokratische Entscheidungsprozesse ablaufen. Heutige Politiker sind laut Verfassung einzig ihrem „Gewissen“ verpflichtet. In der Praxis heißt dies häufig: der Parteiräson sowie den Interessen der Arbeitgeber und Vermögenden. „Delegierte“ in matrifokalen Gesellschaften waren dagegen tatsächlich nur ausführende Organe, die den Willen der Dorfgemeinschaft exekutierten. „Imperatives Mandat“ heißt dies in der Sprache moderner Politik.
„Es ist klar, dass sich in einer solchen Gesellschaft weder Hierarchien und Klassen noch ein Machtgefälle zwischen den Geschlechtern oder den Generationen bilden können. Auf der politischen Ebene definiere ich Matriarchate daher als egalitäre Konsensgesellschaften. Patriarchate sind demgegenüber grundsätzlich Herrschaftsgesellschaften, sogar noch in ihrer Spielart als formale Demokratien.“
Zu den wichtigsten — und auch politisch folgenreichsten — Merkmalen der Matriarchate gehört die organische Verbindung von erdverbundener Weltlichkeit und Spiritualität. Matriarchate waren auf natürliche Weise „tiefenökologisch“ orientiert, längst bevor dieser Begriff von Vordenkerinnen wie Arne Naess und Joanna Macy erfunden wurde. Man beziehungsweise frau betrachtete die Natur nicht ausschließlich von ihrem Nutzen für den Menschen und von ihrer Ausbeutbarkeit durch den Menschen her. Umwelt war für naturnahe Völker mehr als eine riesige Maschine, die es zu warten und, falls Schäden entstanden sind, zu reparieren gilt. Im Mittelpunkt stand vielmehr die Verbundenheit und Göttlichkeit allen Lebens.
„Der matriarchale Begriff von Göttlichkeit ist immanent, denn die gesamte Welt wird als göttlich betrachtet, und zwar als weiblich göttlich. Das belegen die alten Vorstellungen von der Göttin als Universum, die Schöpferin ist, und der Mutter Erde, die alles Lebendige hervorbringt.“
Für Heide Göttner-Abendroth ist eine bessere Welt mit egalitären, basisdemokratischen und tiefenökologischen Komponenten keine bloße Utopie, „die matriarchale Gesellschaftsform ist über die längsten Zeiträume der Kulturgeschichte gelebte, praktische Erfahrung und gehört damit zum kulturellen Wissen der Menschheit“. Die Forscherin leitet aus ihren Erkenntnissen einige konkrete politische Utopien ab, die ich hier nur kurz aufliste.
- Subsistenzwirtschaft — Wirtschaften in regionalen und lokalen Einheiten. Kein weiterer Ausbau der Großindustrie und des materiellen Lebensstandards
- Der „Atomisierung“ b Vereinsamung in der Gesellschaft entgegenwirken durch Bildung wahlverwandter Gemeinschaften — Lebensgemeinschaft, Nachbarschaftsgemeinschaft und Netzwerk
- Konsensprinzip auf dem Gebiet der politischen Entscheidungsfindung
- Das politische Ziel sind autarke Regionen, nicht größere Verbände wie Nationen, Staaten-Unionen und Supermächte. Internationale Kontakte werden dennoch durch Vernetzung — „Schwester-Regionen“ — gepflegt
- Abschied von hierarchischen Religionen mit absolutem Wahrheitsanspruch. Alles wird auf egalitäre, freie Weise geehrt und gefeiert, weil alles heilig ist
Ein „weibliches“ Geldystem
Ein weiterer sehr konkreter Vorschlag, was „Politik aus dem mütterlichen Prinzip“ bedeuten könnte, kommt überraschenderweise von einem Ökonomen, dem ehemaligen Zentralbanker Bernard Lietaer. Später gehörte Bernard Lietaer zu den vehementesten Verfechtern einer humaneren Wirtschaftsordnung. In seinem Buch „Mysterium Geld“ wagt sich der Autor auf das Terrain der Tiefenpsychologie und beschreibt den „verschwundenen Archetyp der Großen Mutter“. Laut C.G. Jung sind die dominierenden Archetypen, die das kollektive Unbewusste des abendländischen Menschen prägen, diese vier: Herrscher, Krieger, Liebhaber, Magier. Dem muss man nach Bernard Lietaer aber eigentlich noch einen fünften hinzufügen: die Große Mutter, Symbol der Fruchtbarkeit, die im Patriarchat unterdrückt wurde.
Jede Unterdrückung muss aber mit der Herausbildung eines kollektiv-unbewussten „Schattens“ bezahlt werden. Im Fall der Großen Mutter, die vor allem als große Ernährerin fungiert, besteht dieser Schatten aus de beiden einander ergänzenden Komponenten „Gier“ und „Knappheit“. Man muss nur einen Blick auf das Börsengeschehen einerseits und auf die Knappheit der öffentlichen Haushalte andererseits richten, um zu begreifen, wie sich dieser Schatten in unserer ganz konkreten ökonomischen Realität auswirkt. Geld — als Symbol für Fülle und die Sicherung des Lebensunterhalts — wird von dort, wo es dringend gebraucht wird, ständig abgezogen und dorthin gepumpt, wo es bereits im Überfluss vorhanden ist. Vor allem auf die Konten der Besitzer großer Vermögen.
Kulturen, in denen die Mutter nicht geehrt und meist ein strenger Vatergott verehrt wird, produzieren deshalb Überfluss auf der einen, wirtschaftliche Not auf der anderen Seite.
Bernard Lietaer wies nach, dass die Verehrung der Großen Mutter in bestimmten historischen Epochen mit bedeutenden wirtschaftlichen Blütezeiten einherging. Er beschreibt vor allem das Alte Ägypten mit seinem Isis-Kult sowie eine bestimmte Periode des Hochmittelalters — 1150 bis 1250 —, in der in Europa die Schwarze Madonna aufs höchste verehrt wurde.
Unsichtbarer Motor dieses wirtschaftlichen Aufschwungs war in beiden Fällen ein Geldsystem, das sich vom heute üblichen System in einem kleinen, aber wesentlichen Punkt unterschied: Es war Geld, auf das eine „Liegegebühr“ erhoben wurde. Wie Obst und Gemüse verlor das Geld mit der Zeit an Wert, es „vergammelte“ im übertragenen Sinn oder verfiel ganz. Im Mittelalter gab es etwa „Braktaten-Geld“, das alle Jahre wieder vom Landesfürsten „widerrufen“ und durch neue Münzen ersetzt wurde — jeweils mit einem kleinen Wertverlust. Der Vorteil: Wer nicht darauf rechnen konnte, dass sich sein Geld — zum Beispiel durch Zins und Zinseszins — von selbst vermehrte, sondern im Gegenteil eine Wertminderung befürchten musste, gab es möglichst schnell wieder aus. Die Umlaufgeschwindigkeit erhöhte sich. Dieser scheinbar einfache Trick führte zu einzigartigen wirtschaftlichen Blüteperioden.
Heide Göttner-Abendroth würde hier wahrscheinlich von „Ausgleichsökonomie“ im Gegensatz zu „Akkumulationsökonomie“ sprechen. Bernard Lietaers These vom „Yin-Geld“, das das zinsgestützte „Yang-Geld“ wenn nicht ersetzen, so doch ergänzen sollte, wäre sicher eine wertvolle Ergänzung zu Göttner-Abendroths sorgfältig ausgearbeitetem System einer auf dem Matriarchat basierenden Wirtschaftsordnung.
Wir brauchen weibliche Werte, nicht mehr „Thatchers“
Wie aber können wir Schritte hin zu einer „post-patriarchalischen Gesellschaft“ gehen, und welche Rolle spielen die Männer dabei, die sich ja — vermeintlich — als Verlierer in diesem Prozess fühlen könnten? Die Angst vor „weiblicher Übermacht“ könnte Männer in der Tat davon abhalten, sich für die hier skizzierten Werte und gesellschaftlichen Veränderungen einzusetzen.
Wäre es im Zuge einer Umgestaltung der Gesellschaft nach den Prinzipien des „weiblichen Archetyps“ auch wünschenswert, wenn mehr Frauen Machtpositionen erringen würden? Ja und nein. Das Ziel wäre ja gerade der Abbau von Macht, die Menschen über Menschen ausüben, egal welchen Geschlechts die Machthaber sind. Dies gilt sowohl für die Verteilung des Reichtums als auch für demokratische Prozesse.
Es ist klar, dass das Defizit an „Yin-Energie“ nicht durch mehr Frauen an der Macht kompensiert werden kann, solange diese Frauen überwiegend „Yang-Tugenden“ wie Härte, Durchsetzungsfähigkeit und Rationalität verkörpern.
Margret Thatcher, Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer sind diesbezüglich eher abschreckende Beispiele — auch wenn mir immer noch weitaus mehr unangenehme männliche Politiker in den Sinn kommen.
Andererseits ist es auch kein Zufall, dass unsere Yang-Welt überwiegend von Männern für Männer errichtet wurde. Männer sollten nicht das „weibliche Prinzip“ verehren, während es ihnen gleichzeitig egal ist, wie konkrete Frauen in der Gesellschaft behandelt werden. Auf die Herstellung vollständiger Gleichberechtigung muss weiter geachtet werden.
Dabei geht es nicht darum zu entscheiden, welches der beiden Geschlechter die „besseren Menschen“ hervorbringt, sondern darum, dass jeder Mensch, was in ihm ist, möglichst frei und vollständig ausleben kann. Wie das dann konkret aussieht, wird sich zeigen, wenn die notwendige Freiheit und Gleichberechtigung hergestellt ist.
Wir alle müssten uns zuerst aus der kulturellen Dominanz der Yang-Welt befreien und den Lügenschleier der patriarchalisch dominierten Medien zerreißen, der uns suggeriert, dass soziale Kälte, Konkurrenz, Strafe und Rache, wissenschaftliche Rationalität sowie eine ausgeprägte Ego- und Willensphilosophie für beide Geschlechter „normale“ und wünschenswerte Denkformen darstellen würden.
Nur wenn Frauen diesen Klammergriff einseitig männlicher kultureller Propaganda abschütteln und zu sich selbst finden, könnten wir überhaupt beurteilen, was eine Kultur „weiblicher Energie“, getragen von Frauen für Frauen, konkret bedeutet würde. Und nur wenn Männer sich diesem Zustrom weibliche Energie nicht in den Weg stellen, ihn sogar fördern, können wir ein Gleichgewicht herstellen, das die Bezeichnung Synthese wirklich verdient.
Corona — das Patriarchat schlägt zurück
Wir merken vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erst, wie falsch viele der Entwicklungen sind, die durch die fast weltweit exekutierte Corona-Politik ausgelöst wurden. Die Welt war in vieler Hinsicht schon weiter gewesen — in der Hippie-Ära zum Beispiel, in der mit Bewusstseinserweiterung, einem ganzheitlichen Weltbild und dem Erkämpfen gesellschaftlicher Freiräume experimentiert wurde.
Die neueren Entwicklungen wären unter dem Oberbegriff „Das materialistische Imperium schlägt zurück“ zusammenzufassen. Ein einseitig schulmedizinisches Rollback, dessen Speerspitze derzeit die Virologie ist, droht viele in den letzten Jahrzehnten errungen geistesgeschichtlichen Fortschritte zunichtezumachen. Transhumanistische Visionen vom Maschinenmenschen und die Verächtlichmachung von allem „Esoterischen“ breiten sich über die Medien aus.
Gleichzeitig ist die Gesellschaft noch stärker als in den letzten Jahren hierarchisch durchstrukturiert. Herrschercliquen regieren mit Top-Down-Entscheidungen durch, der Untertanengeist — eigentlich ein Ladenhüter der jüngeren Geschichte, den man für längst diskreditiert hielt — feiert ein triumphales Comeback. Und auch die Kapitalkonzentration aufeiten der ohnehin schon Superreichen hat durch Corona eine völlig unnötige und kontraproduktive Steigerung erfahren.
Das Leben wird unter technokratischen Ideologien und menschenfeindlichen Erlassen erstickt. Misst man die Corona-Ära also an den Idealen des „weiblichen Prinzips“ oder der Yin-Welt, so ist die Bilanz desaströs. Alles geht — wieder — in die absolut falsche Richtung. Sich dies bewusst zu machen, ist die Voraussetzung dafür, dass wir gegensteuern können.
Dabei geht es nicht darum, ins gegenteilige Extrem zu verfallen, also zum Beispiel nur noch „Esoterik“, Fantasie, Traum, Gnade und passive Hingabe gelten zu lassen und Gerechtigkeit, Vernunft und Leistung zu verdammen.
Das Heilmittel gegen die Spaltung der Welt — gegen den einseitig trainierten Patriarchatsmuskel sozusagen — wäre die Rückkehr zur Ganzheit. Heilmittel heißt auf Englisch „remedy“. Darin steckt die Bedeutung „re-medium“ — zurück zur Mitte.
Allmählich müsste die Menschheit zu einer Mitte zurückkehren, in der Weibliches und Männliches einander gegenseitig ergänzen und befruchten.
Nichts gegen Männer — Sie werden überrascht sein zu hören, dass ich selber einer bin. Jedoch gilt in Umkehrung des Satzes von Goethe: Das ewig Männliche zieht uns hinab. Lassen wir uns nicht runterziehen!
Quellen und Anmerkungen:
Literaturtipps:
Paolo Coeho: Die Hexe von Portobello, Diogenes Verlag, 304 Seiten, € 12,-
Erich Fromm: Haben oder Sein, dtv, 272 Seiten, 9,90
Fritjof Capra: Wendezeit, Fischer Verlag, 512 Seiten, € 16,99
Heide Götter-Abendroth: Die Wege zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik, Drachen Verlag, 112 Seite, € 12,-
Bernard Lietaer: Mysterium Geld, Riemann Verlag, 368 Seiten, gebraucht erhältlich