Gibt es noch eine Möglichkeit, den globalen Kapitalismus zu überwinden?
von Martin Winiecki
Die Erde ist in Not. Wir leben in einer beispiellosen Phase der menschlichen Geschichte, einer Zeit fundamentaler Umwälzung und Transformation. Eine Ära brutaler Herrschaft, Ausbeutung und struktureller Unterdrückung geht ihrem Ende entgegen.
Wir sind dabei mit existenziellen Krisen auf verschiedensten Ebenen konfrontiert: Der Erderwärmung und immer häufigeren extremen Wetterereignissen, der Zerstörung von Wasserkreisläufen, dem Artensterben, der Verschmutzung der Meere durch unvorstellbare Mengen an Plastikmüll und anderen (teilweise auch radioaktiven) Abfällen, einer täglich wachsenden Zahl von Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und zu Flüchtlingen zu werden, sich verschärfenden sozialen Ungerechtigkeiten, wachsender rassistischer Gewalt, einem Aufblühen faschistischer Bewegungen in den westlichen Ländern und vielem mehr.
Egal wohin wir blicken, mit genügend geistigem Abstand können wir erkennen, dass es sich nicht um Einzelkrisen handelt, die miteinander in Beziehung treten, sondern um verschiedene Symptome ein und desselben Systems: Der globale Kapitalismus ist ein Mechanismus, der versucht, so viel wie möglich in verkäufliche Waren zu verwandeln und immer mehr Menschen, Tiere, Natur für seine Zwecke ausbeutet. Jeder logisch denkende Mensch könnte wissen, dass diese — heute fast vollkommen unhinterfragte — Grundmaxime eines exponentiellen „Wachstums“ im fundamentalen Widerspruch zu einem gesunden und nachhaltigen Leben auf der Erde steht. Wie der britische Naturforscher David Attenborough so treffend sagte:
„Wer an ein endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten glaubt, ist entweder geisteskrank oder ein Ökonom.“
Eines ist sicher: Die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Systeme, die unser Leben bisher geprägt haben, können nicht mehr lange aufrechterhalten werden. Vielleicht wird dieses System noch einige Jahrzehnte durchhalten.
Die Eliten der Macht nennen diesen Endpunkt schlicht „the event“ und bereiten sich längst darauf vor, indem sie Privatarmeen rekrutieren und sich abgeschottete Anwesen, unterirdische Bunker und Ähnliches bauen lassen. Um sich vor dem wachsenden Aufruhr der Bevölkerung zu schützen, verabschiedet sich der Kapitalismus langsam, aber sicher von Demokratie und Freiheit und fördert den Aufbau totalitärer Regimes auf der ganzen Erde.
Als Menschheit stehen wir vor der Wahl: Totalitärer Alptraum oder globale Revolution, zivilisatorischer Kollaps oder ein Neuanfang, in dem wir die Fundamente unseres menschlichen Lebens radikal überdenken.
Buckminster Fuller sprach von der Wahl zwischen „Utopie“ oder „Verwüstung“. Er sagte: „Die Welt ist zu gefährlich geworden, um sich mit weniger als der Utopie zufrieden zu geben.“
Um dahin zu kommen, brauchen wir einen neuartigen globalen Zusammenschluss all der Kräfte, die Partei ergreifen wollen für das Leben. Wenn wir als planetarische Gemeinschaft zusammenkommen — nicht nur, um unsere Bewegungen miteinander zu verbinden, sondern vor allem, um Utopien konkret werden zu lassen —, werden wir erkennen, dass der bevorstehende Kollaps nicht das Ende bedeuten muss, sondern eine Epoche der universellen Solidarität einleiten kann.
Mit den jährlichen Versammlungen unter dem Motto „Defend the Sacred“ und den Aktionen, die daraus hervorgehen, soll eine dauerhafte Plattform für AktivistInnen entstehen: eine internationale Keimstätte für die Kräfte einer möglichen nachkapitalistischen Welt. Es geht uns dabei nicht nur um eine politische Koalition, sondern vor allem auch um tiefe Heilungsarbeit.
Ich habe jetzt über den Kapitalismus gesprochen, also über ein externes ökonomisches System. Das können wir leicht anklagen. Aber wir können uns auch fragen: Warum hat die Menschheit ein so wahnsinniges System überhaupt entwickelt? Und warum folgen ihm tagtäglich Milliarden von Menschen, obwohl es ihren wirklichen Interessen selten dient?
Als Annäherung an eine mögliche Antwort finde ich den Begriff „Wetiko“ sehr interessant, der uns von den nordamerikanischen Algonquin-Stämmen überliefert wurde. „Wetiko“, wörtlich übersetzt „Kannibalismus“, war das Wort, mit dem die Indigenen die Krankheit der weißen Invasoren beschrieben haben. Es bezeichnet die Entfremdung einer menschlichen Seele. Sie ist nicht mehr mit der inneren Lebenskraft verbunden und ernährt sich deswegen von der Energie anderer Wesen.
Unter den Algonquin war die Wetiko-Krankheit eine seltene Anomalie, doch bei den Kolonisatoren war sie normal. Genauso wie für uns heute. Wir können sie nicht als solche erkennen, weil wir alle von ihr befallen sind. Wetiko ist der psychische Mechanismus, der uns in der Illusion gefangen hält, wir würden von allem anderen getrennt existieren.
Unter dieser Vorstellung eines isolierten „Ichs“ wird das Streben nach größtmöglichem persönlichen Profit zum wesentlich Sinn des Lebens. Gepaart mit der chronischen Unfähigkeit, Anteilnahme für das Leben anderer Wesen zu empfinden, erscheinen dann Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur gerechtfertigt, sondern gar logisch und rational.
Im Hintergrund unserer westlichen Kultur stehen die Glaubenssätze dieser Krankheit, die den Menschen über Jahrhunderte hinweg ins Unterbewusste eingeprägt wurden — Sätze wie: „Die Erde ist eine tote, verwertbare Ressource“, „Tiere und Pflanzen haben keine Seele“, „Das Leben besteht aus Konkurrenz und Kampf“, „Krieg gehört zum Leben“, „Die Liebe endet immer im Verhängnis“, „Entweder vernichten wir unsere Feinde, oder sie vernichten uns“, „Wir werden für unsere Fehler bestraft“ und so weiter. Solange wir in dieser kollektiven Psychose gefangen bleiben, sehen wir keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse, weder individuell noch global.
Wenn wir nur Widerstand gegen die äußeren Auswirkungen von Wetiko leisten, dann können wir vielleicht hier und da einen Sieg erringen, aber das System als Ganzes nicht überwinden, denn der „Gegner“ sitzt immer auch im eigenen Inneren. Diese Stelle ist es ja, von der aus wir dauernd dieses Monstersystem füttern und unterstützen. Wir müssen uns bewusst entscheiden, diese Krankheit zu heilen, denn sie ist die Wurzel aller Unterdrückungssysteme. Wenn wir in diesem Bewusstsein zusammenkommen und uns gegenseitig in dem Heilungsprozess unterstützen, dann haben wir die Kraft, auch im Äußeren den nötigen Systemwechsel herbeizuführen.
Dann können sich die vielen sozialen, politischen und ökologischen Bewegungen zu einer gemeinsamen und effektiven Kraft der globalen Veränderung zusammenschließen. Die vereinte Kraft all dieser Strömungen wird größer sein als die Summe ihrer Teile.
Deswegen hat uns die Bewegung in Standing Rock so stark berührt: weil es sich um eine politische Bewegung handelte, die in dem Bewusstsein verankert war, dass alles Leben heilig ist, dass wir mit den Wesen dieser Erde verbunden sind und trotz aller Verirrungen der Geschichte zu dieser Erde und Lebensfamilie gehören.
Die Träger dieser Bewegung konnten so mutig gegen die Ölindustrie aufstehen, weil sie im Bewusstsein der Einheit leben. Ich möchte ihnen an dieser Stelle meine tiefe Dankbarkeit ausdrücken. Es fühlt sich so an, als ob durch diese Bewegungen, die trotz aller Gewalt entstehen, ein Heilungsimpuls der Erde selbst zu wirken beginnt.
An sehr vielen Orten erinnern sich Menschen daran, dass alles Leben heilig ist und beginnen, dezentrale, autonome, gemeinschaftliche Alternativen zu den zentralisierten Machtsystemen aufzubauen. Es sind Bewegungen, in denen auch die weibliche Stimme wieder Gehör findet und die den Werten der Kooperation anstatt denen der Herrschaft folgen. Es ist ein evolutionärer Impuls, der sich von Standing Rock durch viele indigene, soziale und ökologische Bewegungen der Welt insbesondere im globalen Süden zieht — von den Zapatisten in Chiapas bis nach Rojava in Nordsyrien. Wir kommen zusammen, um diesen globalen Heilungsimpuls wahrzunehmen, ihn zu unterstützen und ihm eine Stimme zu geben.
Solange wir dem System des globalen Kapitalismus nur als lokale, regionale oder nationale Bewegungen gegenüberstehen, werden wir ihm immer unterlegen sein. Jetzt aber könnten wir ein gemeinsames authentisches Ziel und eine gemeinsame Strategie für eine neue planetarische Kultur verfolgen. Verbunden mit einer globalen Vision, die uns zusammenbringt und nährt, könnte sich eine Kraft entfalten, die das alte System überwindet.
Denn jetzt steht ein untergehendes System einem neuen Kulturimpuls gegenüber, dessen Zukunft gerade erst begonnen hat — und der mit einer Macht verbunden ist, die größer ist als die Macht des Kapitalismus: der Macht des Lebens selbst.
Martin Winiecki, Jahrgang 1990, kam in Dresden zur Welt und war seit meiner frühen Jugend politisch aktiv. 2006 ließ er sich von der Schule beurlauben, um an der Monte Cerro Friedensausbildung in Tamera teilzunehmen. Nach einem Jahr entschied er sich, die dreijährige Friedensausbildung ganz zu durchlaufen, anstatt weiter dem konventionellen Ausbildungsweg zu folgen. Der Friedensunterricht in Tamera bestand auch aus Reisen in Krisengebiete. Er nahm an zwei „Grace-Pilgerschaften“ teil, eine in Nahost, die andere in Kolumbien, die sein Leben veränderten. Seit 2008 arbeitet er im Institut für globale Friedensarbeit und unterstütze den Aufbau des globalen Netzwerks von Tamera. Seit 2013 leitet er das Institut.
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