Herr Teusch, in Ihrem aktuellen Buch »Lückenpresse« äußern Sie scharfe Medienkritik, wenden sich zugleich aber auch gegen den Vorwurf, wir hätten es bei unseren Medien mit einer Art »Lügenpresse« zu tun…
Ich kann verstehen, wenn Leute »Lügenpresse« rufen. Ich ärgere mich ja auch über Medien und habe viel zu kritisieren. Aber ich halte den Begriff auf analytischer Ebene für untauglich und irreführend, auf normativer Ebene für diffamierend und ehrenrührig. Auch ganz persönlich.
Ich bin ja auch Journalist und nehme für mich in Anspruch, in meiner journalistischen Arbeit noch nie gelogen, also bewusst die Unwahrheit gesagt zu haben. Und ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, für die das Gleiche gilt.
Der Begriff »Lügenpresse« unterstellt dem einzelnen Journalisten ein Fehlverhalten, und weil angeblich sehr viele Journalisten nicht adäquat arbeiten, entsteht daraus ein Massenphänomen, die »Lügenpresse« eben. Das ist mir zu simpel.
Aber der von Ihnen bevorzugte Begriff »Lückenpresse« klingt ja ganz ähnlich?
Aber er ist sauber definiert und setzt die Akzente anders.
Im Prinzip ist jedes Medium ein Lückenmedium. Jedes Medium ist angesichts des gigantischen Nachrichtenangebots gezwungen, eine kleine, oft winzig kleine Auswahl zu treffen. Die Frage ist, wie und nach welchen Kriterien diese Auswahl vorgenommen wird.
Und da ist bei den maßgeblichen Medien, also den sogenannten Leit- und Qualitätsmedien, wie sie sich selbst nennen, beziehungsweise im Mainstream, wie er immer öfter genannt wird, Folgendes zu beobachten: Erstens werden Nachrichten in ganz bestimmter Weise gewichtet. Zweitens werden Nachrichten gezielt unterdrückt. Drittens werden Nachrichten in tendenziöser Weise bewertet, das heißt, es wird mit zweierlei Maß gemessen, es gibt »Doppelstandards«.
Alle drei Aspekte hängen eng zusammen und verstärken sich wechselseitig. Wenn sie auf bestimmten Themenfeldern lange genug und mit ausreichender Intensität wirken, entstehen dominante Narrative, also große journalistische Erzählungen oder Deutungsmuster, in die dann alle neu einlaufenden Informationen eingeordnet werden können – oder eben auch nicht, so sie denn nicht ins Narrativ passen.
Manchmal wächst sich das zu Kampagnen aus oder auch zu regelrechter Propaganda.
Mein entscheidender Punkt ist nun: Die beschriebenen Phänomene kommen nicht zufällig zustande, sondern sie sind strukturell verankert und interessengeleitet. Das ist auch der Grund für die wachsende Homogenisierung des Mainstreams. Die Nachrichtenauswahl und Kommentierung wird immer ähnlicher und ist bei bestimmten wichtigen Themen kaum noch unterscheidbar.
Aber es gibt doch im Mainstream immer wieder »Ausreißer«, also überraschende, vom großen Trend abweichende Berichterstattung!
Ja, das bestreite ich auch nicht. Das gibt es in Deutschland insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Ich treffe deshalb die Unterscheidung zwischen dem »Mainstream innerhalb des Mainstreams« und dem »Mainstream außerhalb des Mainstreams«. Letzterer bietet immer wieder journalistische Perlen, aber er hat einen schweren Stand und befindet sich weit eher auf dem Rückzug als auf dem Vormarsch.
Es ist der »Mainstream innerhalb des Mainstreams«, der den Ton angibt, also ein verflachter, plakativer, tendenziöser, oft staats- und wirtschaftsnaher Journalismus. Er ist das dominante Segment, und er wird es auch bleiben. Man kann nur hoffen, dass er das minoritäre Segment nicht vollends erdrückt. Den Mainstream außerhalb des Mainstreams findet man zum Beispiel in den Kulturwellen des ARD-Hörfunks, manchmal auch im Fernsehen, etwa bei ARD-Alpha oder Arte, also, wenn man so will, in »Nischenprogrammen«. Es ist gewiss kein Zufall, dass guter Journalismus oft in solche Nischen abgedrängt wird.
Sind diese Probleme neu oder bestanden sie stets?
Wie gesagt, jedes Medium ist Lückenmedium, nolens volens. Und das war schon immer so. Aber wenn wir es historisch betrachten, hat das ganz unterschiedliche Ausprägungen angenommen.
Wenn sich die SPD des Kaiserreichs auf die Mainstreammedien ihrer Zeit verlassen hätte, wäre sie verloren gewesen. Also hat sie Gegenöffentlichkeit geschaffen, eine Vielzahl von Zeitungen, Zeitschriften oder Verlagen gegründet. Auch zwischen den 1960er und 1980er Jahren war vieles anders als heute. Die journalistische Bandbreite, die Diskursbreite war deutlich größer.
Das hat sich inzwischen dramatisch verengt.
Wie kam es zu dieser »Zuspitzung« des Problems?
Dafür gibt es in der aktuellen medienkritischen Debatte viele unterschiedliche Erklärungsversuche. Also zum Beispiel Stellenabbau, Beschleunigung der Arbeitsabläufe, Abgehobenheit von Journalisten, Konformismus, Korrumpierbarkeit, vieles andere. All das spielt zweifellos eine Rolle, aber es kann das Problem in seiner Gesamtheit nicht erklären.
Aus meiner Sicht ist einer der wesentlichsten Faktoren hierfür die »Großwetterlage«. In den eben angesprochenen 1960er und 1970er Jahren waren die Rahmenbedingungen anders. Die Verhältnisse waren relativ stabil, und das auf hohem Niveau. Man konnte sich Liberalität und Offenheit leisten, auch und gerade in den Medien.
Doch die Lage hat sich inzwischen grundlegend verändert. Gegenwärtig haben wir es mit einer Vielzahl von Krisen, Konflikten, Kriegen zu tun. Die gesellschaftlichen Fliehkräfte verstärken sich, die Polarisierung nimmt zu. In einer solchen Situation nimmt der Mainstream seine soziale Integrationsfunktion immer weniger wahr.
Er positioniert sich auf Seiten der etablierten Ordnung. Er läuft an der kurzen Leine, wird mehr denn je zum Lückenmedium. Aus Mainstream- werden Establishment-Medien. Eine empirische Studie der London School of Economics hat das am Beispiel der total einseitigen Berichterstattung über den neuen linken Labour-Chef Jeremy Corbyn, der praktisch den ganzen Mainstream gegen sich hat und eine Kampagne nach der anderen über sich ergehen lassen muss, eindrucksvoll belegt. (1) Die britischen Medien mutieren vom »Wachhund« zum »Kampfhund«, heißt es in der Untersuchung pointiert.
Und warum tun sie das?
Um diese Frage machen viele Journalisten gern einen großen Bogen, denn dann müssten sie über Besitzverhältnisse und Medienkontrolle reden. Um es mal ein bisschen klassenkämpferisch zu formulieren: Diese Medien gehören natürlich nicht »uns«, sondern »denen«. Und wenn es, wie gegenwärtig, politisch, sozial und ökonomisch ans Eingemachte geht, machen sich die Besitz- und Kontrollstrukturen eben viel deutlicher bemerkbar als in ruhigen, stabilen Zeiten.
Ist es das, was Sie eingangs mit »interessengeleitet« meinten? Sprechen wir also auch von Journalisten, die der herrschenden Ideologie und den Verhältnissen, den Mächtigen sozusagen, dienen? Sprechen wir über »Machtmedien«?
Ja, so würde ich das sehen. Wobei man allerdings hinzufügen müsste, dass viele Journalisten, insbesondere auf den mittleren und unteren Ebenen, das nicht mit vollem Bewusstsein und absichtsvoll betreiben.
Sie sind Teil hierarchischer Strukturen, sie sind in diese Zusammenhänge verstrickt und in der Folge gleichsam betriebsblind. Damit sind sie aber keinesfalls exkulpiert. Im Gegenteil. Wenn meine Analyse zutrifft, müssten sich Journalisten dringend die Frage vorlegen, ob wahrhaftiger, integrer Journalismus innerhalb solcher Strukturen überhaupt möglich ist, oder zumindest die Frage, warum sie mit den Strukturen nicht viel öfter in Konflikt geraten.
Eines Ihrer Buchkapitel heißt »Lücken und Lügen«. Lügen die Medien also doch?
Objektiv und »von außen« betrachtet laufen Lücken und Lügen am Ende – also in ihrer Funktion, ihrer Wirkung – auf das Gleiche hinaus. Verschwiegene Information, unten gehaltene Information, künstlich hochgespielte Information, dominante Narrative und so weiter – das alles verzerrt die Wirklichkeit, trägt letztlich zu einem unwahren Bild bei. Aber ich glaube nicht, dass es allzu viele Journalisten gibt, die absichtsvoll und bewusst die Unwahrheit sagen, also lügen.
Der eigentliche Grund für den unbefriedigenden Gesamtzustand sind nicht die einzelnen Journalisten. Der eigentliche Grund ist ein Mediensystem, das es dem einzelnen Journalisten immer schwerer macht, wahrhaftig und nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten. Die Ursache der Misere liegt nicht in massenhaften individuellen Verfehlungen oder Unzulänglichkeiten, sondern ist systemischer Natur.
Können Sie die Problematik bitte anhand von konkreten Beispielen skizzieren? Wie entsteht aus etwas Realem eine schließlich lückenhafte und gegebenenfalls manipulative Meldung, die die ursprüngliche Realität verzerrt wiedergibt?
Ach Gott, wo soll man da anfangen, wo aufhören? Nehmen Sie den Krieg im Jemen. Wenn Sie hier zu dem Thema eine Straßenumfrage machen würden, was käme dabei heraus? So gut wie nichts. Was kein Wunder ist angesichts des Blackouts in der Berichterstattung.
Oder der Krieg in Syrien, ein Konflikt von unglaublicher Komplexität. Wann wurde er je im deutschen Mainstream angemessen dargestellt? Wann haben amerikanische Medienrezipienten zum letzten Mal Bilder von den Folgen eines Drohnenangriffs gesehen? Was wissen deutsche Mainstreamkonsumenten über die Schrecken des Kriegs im Donbass? Oder über den Coup d’État in Brasilien
Oder nehmen Sie das Messen mit zweierlei Maß: Über einen »Amnesty«-Bericht, der als nützlich gilt, wird breit berichtet; wenn er Unangenehmes enthält, fällt er unter den Tisch.
Das furchtbare Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa hätte Stoff für mehrere ARD-Brennpunkte und ZDF-Spezials geboten. Stattdessen wurde es mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt, weil es nicht ins Narrativ passte.
Im Buch befasse ich mich näher mit einem »Tagesschau«-Beitrag von Ina Ruck über Polizeigewalt in den USA – tausend Todesopfer allein 2015. Frau Ruck führt das auf zu viele Schusswaffen und unzureichendes Konfliktmanagement zurück. Was wären ihr, der ehemaligen Moskau-Korrespondentin, wohl für unangenehme Fragen eingefallen, wenn die russische Polizei im letzten Jahr tausend Menschen erschossen hätte?
Oder das Thema Sprachregelungen: Im Mainstream herrscht Konsens darüber, dass Russland die Krim »annektiert« hat. Wollte ein Nachrichtenjournalist einen neutralen Begriff verwenden, zum Beispiel »Anschluss« der Krim an Russland, käme das einer kleinen Mutprobe gleich. Aber man darf natürlich weiterhin ungestraft vom »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich sprechen …
Führen Sie doch bitte anhand eines konkreten Beispiels einmal explizit aus, worauf Ihre Kritik zielt; ein Beispiel, das auch Ross und Reiter benennt.
Nun, nehmen wir beispielsweise die russischen Duma-Wahlen vom 18. September 2016. Ich habe Stunden damit verbracht, fast alles zu lesen, was dazu im Mainstream gesagt wurde.
Die Mühe hätte ich mir sparen können. Überspitzt formuliert: Wenn man einen Artikel gelesen hat, hat man alle gelesen. Vorweg: Auch mir missfällt vieles am russischen politischen System, auch ich sehe großen Reformbedarf, auch ich habe an den letzten Wahlen einiges auszusetzen.
Was mich aber frappiert, ist, wieder einmal, die Einstimmigkeit im Mainstream. Die hängt natürlich mit dem dominanten Russland-Narrativ zusammen. Wie soll man diese Wahlen einordnen, wenn man sowieso der Ansicht ist, dass Russland keine Demokratie, sondern eine Autokratie sei, in der ein Einzelner, nämlich Putin, alles bestimmt? Eine seriöse Wahlanalyse fällt damit von vornherein flach. Man muss die Wahlen ins Narrativ pressen, die Ergebnisse mit einem Spin versehen, auch wenn man sich dabei in offenkundige Widersprüche verwickelt.
So wird dann zum Beispiel gesagt, dass der Erdrutschsieg der Regierungspartei »Einiges Russland« nicht im geringsten die wahre Stimmung im Volk widerspiegele, sondern den Anfang vom Ende des Systems Putin markiere. Wie das?
Zur Begründung wird die Wahlbeteiligung angeführt, die um etwa zwölf Prozentpunkte gesunken ist. Das sei ein stummer Protest einer ratlosen, apathischen, frustrierten Bevölkerung.
Gleichzeitig wird jedoch erklärt, der Kreml hätte ein Interesse an einer niedrigen Wahlbeteiligung gehabt und einiges dafür getan, die Wähler aus den Wahllokalen fernzuhalten. Wie passen diese beiden Aussagen zusammen?
Weiter wird behauptet, dass die niedrige Wahlbeteiligung zugunsten von »Einiges Russland« ausgeschlagen sei. Gleichzeitig stellt man aber fest, dass in Regionen, in denen die Wahlbeteiligung deutlich über dem Landesdurchschnitt lag, die Regierungspartei noch besser abgeschnitten hat. In den großen Städten wiederum, allen voran St. Petersburg und Moskau, wo die Wahlbeteiligung erheblich schwächer als im Landesdurchschnitt war, haben die vom Westen favorisierten Oppositionsparteien Yabloko und Parnas beachtliche Resultate erzielt. Wie passt das jetzt wieder zusammen?
Oder nehmen wir die Unterdrückung von Fakten: Jeder seriöse Beobachter würde einräumen, dass bei diesen Wahlen einige Anstrengungen unternommen wurden, den Prozess fairer und transparenter zu gestalten. Das wurde aber in den Medien so gut wie nicht gewürdigt, im Gegenteil: Manipulationen, die es fraglos auch diesmal gab, stellte man einseitig in den Vordergrund.
Und schließlich ist da wieder das Messen mit zweierlei Maß: Die Tatsache, dass die russische Wahlbeteiligung 2016 in etwa auf Schweizer Niveau gesunken ist und immer noch deutlich höher lag als bei Kongresswahlen in den USA, wurde, so sie denn überhaupt erwähnt wurde, als »nicht vergleichbar« hingestellt.
In der Duma sind – neben »Einiges Russland« – noch drei andere Parteien vertreten. Die gelten als »System-Opposition«, soll heißen: Sie sind gar keine richtige Opposition. Das kann man so sehen. Aber warum legt man solch strenge Maßstäbe nicht an den Deutschen Bundestag an? Oder an den US-Kongress? Wie verhält es sich dort mit der System-Opposition – und wo ist die anti-systemische Opposition?
Schließlich: Wahlmanipulationen gibt es auch andernorts. Man erinnere sich etwa an das Duell Bush jun. gegen Al Gore im Jahr 2000, an das Duell Clinton gegen Sanders im demokratischen Vorwahlkampf 2016, von Österreich will ich jetzt gar nicht reden.
Im postsowjetischen Russland gab es immer Wahlmanipulationen, mal mehr, mal weniger. Ob sie von der OSZE und den westlichen Medien aber an den Pranger gestellt wurden, war eine Frage der politischen Opportunität. So wurden die Präsidentschaftswahlen 1996 – mit dem Sieger Jelzin – vom Westen wider besseres Wissen als fair und transparent qualifiziert.
Um es zusammenzufassen: Von einer ernstzunehmenden Analyse der Duma-Wahlen 2016 durch die Mainstreammedien kann keine Rede sein. Man muss sich schon außerhalb des Mainstreams umtun, um Analysen zu finden, die echte Erkenntnisse vermitteln.
Und genau hier liegt die Gefahr von solch dominanten Narrativen. Sie verstellen den Blick, den des Publikums wie den der Medien selbst. Das ist nicht nur journalistisch inakzeptabel, es ist auch politisch alles andere als klug.
Im Buch schreiben Sie auch, »der ganze Rest« sei »Werbung«. Wie meinen Sie das? Neben der parteinehmenden Einseitigkeit gibt es einzig noch marktkonforme Indoktrination?
Es gibt im englischen Sprachraum ein Bonmot – übersetzt: »Nachrichten sind Dinge, von denen jemand nicht möchte, dass sie gedruckt werden. Alles andere ist Werbung.«
Man kann sich die Nachrichten ja mal unter diesem Gesichtspunkt anschauen. Warum wird selbstverständlich darüber berichtet, wenn die Bundesregierung neue Kita-Plätze schafft Und warum fällt so manche brisante Wikileaks-Enthüllung durchs Raster?
Es gibt Personen, Institutionen und Organisationen, die ein Interesse daran haben, dass wir bestimmte Sachen erfahren – und andere nicht. Oft ist das, was wir erfahren, einfach Werbung, PR, Propaganda. Echte Nachrichten haben es hingegen schwer.
Nun eskaliert die Lage zwischen Medienschaffenden und kritischen Nutzern zunehmend. Gerade die Alphajournalisten wollen von Kritik nichts hören und diskreditieren diese oft als tumb oder sogar Verschwörungstheorie. Handelt es sich hier um Borniertheit – oder wo ist das Problem?
Die Alphajournalisten sind nicht mein Problem und auch nicht meine Zielgruppe. Ich glaube nicht, dass man die mit guten Argumenten erreichen kann.
Meine Befürchtung ist, dass der Mainstream innerhalb des Mainstreams weitgehend kritik- und beratungsresistent ist, also so weitermachen wird wie bisher, eher noch die Gangart verschärfen wird.
Eigentlich müsste er sich auf breiter Front öffnen, aber das wird er nicht tun, weil er es – aus den eben geschilderten Gründen – nicht tun darf. Das kann natürlich nicht gutgehen. Und das heißt: Der Mainstream wird weiter erodieren; er wird sich zwar noch Mainstream nennen oder so genannt werden, aber es nicht mehr sein. Ähnlich wie die Volksparteien, die sich noch so nennen, aber es nicht mehr sind.
Was können die Mediennutzer denn tun, um die Medien wieder, ja, seriöser zu machen?
Es gibt neben dem dominanten Mainstream ja auch noch den schon erwähnten »Mainstream außerhalb des Mainstreams«, der hierzulande insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beachtliche Refugien hat. Die gilt es unbedingt zu verteidigen!
Daneben gibt es die wachsende Zahl internetbasierter Alternativmedien – etwa die NachDenkSeiten oder Telepolis. In Deutschland ist das diesbezügliche Engagement noch relativ unterentwickelt, aber im englischsprachigen Raum, insbesondere in den USA, ist die Zahl solcher Alternativmedien kaum noch überschaubar, sie sind dort bereits eine echte Macht.
Dieser Trend wird sich mit ziemlicher Sicherheit fortsetzen. Diese Medien liefern jede Menge Informationen und Meinungen, die man in der New York Times oder der Washington Post vergeblich sucht.
Betrachtet man also nicht nur den Mainstream, sondern das in stürmischer Entwicklung befindliche Mediensystem in seiner Gesamtheit, kann man sich eigentlich nicht beklagen.
Historisch gesehen gab es wahrscheinlich noch nie so umfassende Informations- und Recherchemöglichkeiten wie heute. Sie setzen allerdings den »aktiven Nutzer« voraus, also Menschen mit ausreichender Kompetenz und Zeit, um sich das alles zu erschließen.
Können die Mediennutzer etwas tun, um Manipulation und »Lückenberichterstattung«, um Einseitigkeit und Täuschung zu erkennen?
Wir müssen eine medienkritische Kompetenz entwickeln. Im Buch verstreut finden sich dazu einige Hinweise, auch Merksätze oder Faustregeln.
Zum Beispiel finde ich, dass man Medien – allen Medien! – grundsätzlich mit der Haltung »Misstrauen ist gut, Kontrolle ist besser« begegnen sollte. Das derzeit erkennbar wachsende Misstrauen ist aus meiner Sicht eine erfreuliche Entwicklung, doch es ist nur ein erster Schritt.
Das eigentliche Ziel ist die Kontrolle. Wir müssen selbst recherchieren, überprüfen, vergleichen – und dies auf möglichst breiter Basis. Und wir müssen Einseitigkeiten oder Täuschungen immer wieder kritisieren.
Das tun viele Menschen schon jetzt, aber es ist natürlich mühsam und zeitaufwendig – also nicht jedermanns Sache.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Stimmen zum Buch:
„Selten habe ich ein so differenziertes und fundiertes Buch über die Fragwürdigkeit unserer modernen Medienindustrie gefunden. Wer bisher nur geahnt hatte, dass da etwas schiefläuft, findet hier vieles bestätigt und wer noch immer glaubt, dass es jemand gibt, der das alles lenkt und steuert, kann hier sehr viel über sich selbst organisierende Systeme lernen...“
Gerald Hüther, Neurobiologe
„‚Das Medienkritik-Kompendium‘ steht eher klein auf dem Cover. Wie das Verlage halt so machen, normalerweise. Viel versprechen, damit die Kunden anbeißen. Nicht so bei diesem Buch. Jens Wernicke versammelt wirklich alles, was Rang und Namen hat in Sachen Medienkritik, und hebt dieses Genre so auf eine neue Stufe. Weg von plumper Journalistenschelte, weg auch von der Idee, im Kanzleramt oder irgendwo dort in der Nähe sitze jemand, der die Redaktionen im Land dirigiere. In diesem Buch geht es ans Eingemachte. Es geht um Medienbesitz, um Gedankenkontrolle und um den BND, um die journalistische Berufsideologie, um Wording. Kurz: Es geht darum, endlich zu verstehen, was die Medien mit uns machen.“
Michael Meyen, Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft
Prof. Dr. Ulrich Teusch lebt als freier Publizist in Edermünde bei Kassel. Er schreibt Sachbücher und ist Hörfunkautor. Für sein SWR-Feature »Nicht schwindelfrei – Über Lügen in der Politik« erhielt er 2013 den Roman-Herzog-Medienpreis. Im Dezember 2015 lief dann sein viel beachtetes Feature im SWR mit dem Titel »Vertrauen ist gut … Die Medien und ihre Kritiker«. Bücher zuletzt: »Die Katastrophengesellschaft: Warum wir aus Schaden nicht klug werden«, »Jenny Marx: die rote Baronesse« und »Lückenpresse«.
Quellen und Anmerkungen:
(1) London School of Economics: »Journalistic Representations of Jeremy Corbyn in the British Press: From Watchdog to Attackdog«, Juli 2016, siehe http://www.lse.ac.uk/media@lse/research/pdf/JeremyCorbyn/Cobyn-Report-FINAL.pdf