von Helene Bellis
Wie ich auszog, die verrückt gewordene Welt zu retten
Morgens komme ich an Pappaufstellern, mittags an elektronischen Werbebändern vorbei. Hashtags fordern mich auf, zuhause zu bleiben, Anker zu setzen, für Omas einzukaufen, mein Klopapier zu teilen.
In mir kommt eine Erinnerung hoch, wie ich, mit 20, 25 Jahren in alten DDR-Schul- oder Kinderbüchern blätterte und auf den ersten Blick Gesinnungsgehirnwäsche erkannte. Und wie fasziniert ich frei und kritisch aufgewachsenes Westmädel davon auch im Nachhinein noch war.
Beim unfreiwilligen Vergleich mit heute wird mir schlecht.
Vormittags bin ich in der Drogerie. Jetzt, endlich, sieht es auch hier aus wie nach einer Hungersnot. Einziger Unterschied: Nicht das Schokoladenregal ist leergeräumt, sondern das mit den Seifen. Bis zum allerletzten Stück. Ich wundere mich mal wieder über meine Mitmenschen, komme aber um zwei essentielle Fragen nicht herum. Wie oft waschen diese Leute sich um Himmels Willen die Hände? Und, vor allem: Womit haben sie das eigentlich vorher getan?
Zuhause ist Beeilung angesagt, weil ich jetzt ganz flott zum Optiker muss. Das Geschäft hat überhaupt nur während vier für mich schlecht liegender Stunden geöffnet, und man muss außerdem eine feste Uhrzeit ausmachen. Die Tür ist verschlossen, denn anderen Kunden darf man auf keinen Fall begegnen. Nachdem ich zu diesen merkwürdig anmutenden Bedingungen einen Termin verabredet habe, erreiche ich das Brillengeschäft.
Der Optiker schließt auf mein Klopfen hin zwar die Tür auf, verzieht sich anschließend aber hinter die vier Meter entfernt liegende Kassentheke, noch bevor ich den Laden überhaupt betrete. Meine neue Brille und der Brillenpass liegen einsam auf einem Tisch, an dem in guten Zeiten der Optiker gemeinsam mit der Kundschaft saß und dieser die Brille anpasste. Aber Anpassen ist nicht mehr. Ist ja auch nicht nötig, meint der Optiker hinter seiner Theke. Die Brille fällt doch nicht von der Nase, oder?
Mein Geld — ich zahle immer gerne bar — nimmt er aber. Dreckige, virenverseuchte Scheinchen nehmen tatsächlich alle noch weiterhin gerne in die Hand.
Als ich das Geschäft wieder verlasse, steht gegenüber vom Eingang eine Frau, die wohl die nächste Kundin ist. Erst möchte ich ihr die Tür aufhalten, bis mir aufgeht, dass sie ja drei Meter entfernt steht, um mich bloß nicht zu berühren. Kontaktverbot, du fängst an, mich zu nerven.
Während ich mein Fahrrad aufschließe, fallen mir mehrere Gestalten auf, die in komischer Manier auf dem Bürgersteig herumlungern. Es dauert tatsächlich, bis ich kapiere, dass sie beim Laden nebenan anstehen. Jeder für sich, alle ordentlich mit zwei Meter Abstand voneinander.
In diesem Moment wird mir die Absurdität der ganzen Veranstaltung voll bewusst, und von dem ganzen Theater, das wir hier miteinander veranstalten, werde ich richtig, richtig wütend. Also schimpfe ich mehr als halblaut vor mich hin: Deutschland im Schwachsinnsmodus! Denn Panikmodus ist das nicht mehr, da sind wir jetzt schon deutlich weiter. Meine Hoffnung ist eigentlich, dass jemand den Kopf hebt, grinst, sich wortlos solidarisch erklärt. Allein, es passiert nicht. Allein, ich bin allein.
Wütend Worte vor mich hin schimpfend, radle ich nach Hause. Mir werden Dinge klar, an denen ich lange herumrätselte. Erinnert sich noch jemand an die Zeit vor Corona? Nur so zur Erinnerung: Ja, wir hatten ein Leben vor der Krise. In der letzten Zeit vor Corona häuften sich ja wieder die Artikel über die Nazizeit. Nachdem — bevor sie alle aussterben — im letzten oder vorletzten Jahr endlich auch ein über Achtzigjähriger, der längst alles bereut hatte, zu Knast verurteilt wurde, weil er im Endeffekt, wenn auch an kleinster Stelle, mit verantwortlich geworden war, ging der Tenor ja immer mehr zu der „Doch, alle Deutschen waren tatsächlich Nazis“-These.
Irgendwie konnte ich mir das schon in jungen Jahren nie so recht vorstellen, aber ich war ja nun mal nicht dabei gewesen.
Seit heute ist mir vollkommen klar, dass ich schon immer recht hatte mit meiner Vermutung, dass die Deutschen in den 30er Jahren nicht alle Nazis waren. Ich schätze die Nazis unter ihnen mal auf wild und unbegründet zehn Prozent. Der Rest von ihnen war damals schlicht und einfach genau wie heute, zu dumm, zu faul, zu feige, zu bequem oder zu ängstlich, sich erstens eine eigene Meinung zu bilden, diese zweitens zu kommunizieren und drittens aufzustehen und seine Freiheit zu verteidigen. Wobei ich einzig und allein für die letzte Gruppe noch irgendein Verständnis aufbringen kann.
Und nichts anderes passiert jetzt, hier und heute. Unsere Freiheit, die Grundlage unseres Zusammenlebens, ist in Gefahr, und es interessiert: Kein Schwein! Schlimmer noch, die Leute lassen sich freiwillig einsperren und denken auch noch, sie hätten etwas Gutes getan.
Zuhause angekommen weiß ich, dass ich das nicht länger mit ansehen kann. Ich mag insofern eingeschränkt sein, als eine Demonstration, in welcher Form auch immer, unmöglich ist beziehungsweise wohl höchstens damit enden würde, dass man mich entweder in den Knast oder in die Klappse sperrt. Aber ich kann zumindest versuchen, meine Mitmenschen aufzurütteln. Und genau das tue ich.
Ich setze mich an den Rechner und durchsuche mein E-Mail-Adressbuch. In ausgewählten Chargen verschicke ich eine Mail des Inhaltes, dass spätestens jetzt Einhalt geboten werden muss, weil wir unsere freiheitlichen Rechte, die im Grundgesetz festgelegt sind, gerade aufgeben, und das noch dazu ohne ersichtlichen Grund. Zumindest keinen, der bewiesen werden könnte. Ich hänge eine Handvoll Rubikon-Artikel an (im Grunde, weil nur dort so schön alles erklärt und auf viele andere Webseiten weiterverlinkt wird) und bitte darum, die Gegenseite (sic!) anzuhören und sich anschließend eine Meinung zu bilden, wie auch immer die dann aussehen mag. Denn eigentlich will ich nur sicher sein, dass die Informationen, denen sonst kein Gehör geschenkt wird, von meinen Mitmenschen zumindest beachtet und geprüft werden.
Spät abends lese ich die ersten Antworten. Neben einer großen schweigenden Mehrheit, genau einer nachfragenden Interessierten und einer einzigen Unterstützerin gibt es zwei größere Gruppen von Antworten. Die einen unterstellen mir Verschwörungstheorien (haben aber erkennbar nicht mal auf die verlinkte Seite geschaut) und erklären unsere Bekanntschaft für beendet. Die anderen, das sind fünf, sechs, sieben Menschen, bitten darum, mit so etwas nicht belästigt zu werden. Belästigt! Das muss man sich in diesem Zusammenhang wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Belästigt vom Kampf für Freiheit und Demokratie.
Im Grunde genommen besagen diese Antworten nichts anderes als: Das Grundgesetz ist uns schnuppe. Was schert uns denn ein Blatt Papier? Da wo ich der Meinung bin, dass man sich dieses Blatt Papier im Zweifelsfall einrahmen und an die Wand hängen sollte, scheint es diesen Menschen gerade mal gut genug, um sich damit den Hintern abzuwischen.
Aber, hey, wie könnten sie auch etwas anderes denken? Denn eines zumindest ist uns doch seit Wochen allen klar:
Das Klopapier ist alle.
Eigentlich wollte Helene Bellis den Rubikon nur ein bisschen durch Korrekturlesen unterstützen. Aber dann überschlugen sich die Ereignisse und sie griff selber zum Stift. Ein kleines Mutmachlied hat sie mittlerweile auch schon gedichtet. Für Freiheit, das Grundgesetz und Demokratie zu kämpfen, hat mittlerweile Vorrang vor vielem. Aber das viele darf man ja ohnehin alles gerade nicht tun.
Das Corona-Tagebuch im Überblick:
Teil 1: Katrin McClean, Corona-Tagebuch
Teil 2: Roland Rottenfußer, Der letzte freie Tag
Teil 3: Isabelle Krötsch, Corona-Tagebuch
Teil 4: Kerstin Chavent, An das Mögliche glauben
Teil 5: Anonym, Meine Mutter und die Isolation
Teil 6: Gabriele Herb, Aufruf zur Wachsamkeit!
Teil 7: Paul Löber, Spanienbericht
Teil 8: Liselotte Korfmacher-Finke, DemokratInnen unerwünscht
Teil 9: Michael Bock, Sind wir bereit, uns zu verändern?
Teil 10: Oliver Märtens, Corona-Tagebuch
Teil 11: Dirk Hüther, Gehen, Sehen, Handeln!Teil
Teil 12: Doris Röschmann, Jenseits von richtig und falsch
Teil 13: Mathilda Libertad, Irgendnirgendsicherwo
Teil 14: Heidemarie Weber, Corona-Tagebuch
Teil 15: Daniela Wolter, Corona-Tagebuch
Teil 16: Thomas Hochschild, Corona-Tagebuch
Teil 17: Wolf Schneider, Hausarrest
Teil 18: Jitka Nickel, Kopfcorona — das Trauma sickert ein
Teil 19: Heike Wentland, Corona-Tagebuch
Teil 20: Michael Bock, Die fast perfekte Show & Eine Frage an die Liebe
Teil 21: Dijana Ilic, Eine Antwort auf die Frage : Mama, wo warst Du?
Teil 22: Anna Köppel, Nicht in meinem Namen
Teil 23: Ines Maas, Was soll ich tun?
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