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Das Corona-Tagebuch

Das Corona-Tagebuch

Die Mutmach-Redaktion lädt die Rubikon-Leser zum kollektiven Schreiben ein. Teil 5.

Am 29. März haben wir unsere Leser aufgefordert, ihre Erfahrungen mit den Corona-Maßnahmen zu schildern. Uns erreichen erschütternde aber auch aufrüttelnde und Mut machende Schilderungen. Wir beginnen nun damit, diese Beiträge zu veröffentlichen. Sie können uns auch weiterhin Ihre Erfahrungen in diesen Wochen mitteilen. Zuschriften bitte an: mut@rubikon.news

Meine Mutter und die Isolation

Anonym

Ich fühle mich ganz leer! Heute habe ich einen emotionalen Horrortrip erlebt. Als ich vorhin gefragt wurde, wie es mir geht, antwortete ich: „Ich fühle mich ganz leer, wie ausgehöhlt“. Um irgendwie damit fertig zu werden, habe ich diesen Artikel in Angriff genommen. Manchmal hilft das Schreiben. Der Hintergrund ist folgender:

Meine Mutter ist 92 Jahre alt und lebt seit einigen Jahren in einem Seniorenheim. Grund dafür sind unter anderem die Folgen eines Schlaganfalls wie halbseitige Lähmung und Aphasie. Vor zwei Wochen konnte ich sie noch normal besuchen. Die einzige Änderung war eine Liste, in die ich mich als Besucherin eintragen musste.

Letzten Montag (23. März) stand ich vor verschlossenen Türen. Ein Schild informierte mich darüber, dass aufgrund der „aktuellen Corona-Situation“ das Heim für Besucher nicht mehr zugänglich sei. Kein Hinweis auf irgendeine Rechtsgrundlage, keine Telefonnummer, kein Ansprechpartner. Ich musste unverrichteter Dinge nach Hause fahren.

Es kostete mich drei Tage Recherche, Geduld, etliche Telefonate und viel Überzeugungskraft, um der Heimleiterin eine Regelung abzutrotzen, die ausdrücklich in der Rechtsverordnung des Landes Nordrhein-Westphalen vom 22. März 2020 zugelassen ist. Dort steht wörtlich:

„Ausnahmen unter Schutzmaßnahmen und nach Hygieneunterweisung sollen zugelassen werden, wenn es medizinisch oder ethisch-sozial geboten ist“.

Wir einigten uns darauf, dass ich heute (30. März) unter Einhaltung der entsprechenden Maßnahmen meine Mutter besuchen dürfe, da sie aufgrund ihrer erheblichen kommunikativen Einschränkungen unter die Ausnahme-Rubrik „ethisch-sozial“ falle.

Nun, als ich heute vor Ort ankomme, ist die Heimleiterin krank. Ihre Vertretung ist nicht gewillt, sich an die getroffene Abmachung zu halten, obwohl sie darüber informiert wurde. Weil ich nicht lockerlasse, bietet man mir eine „Alternative“ an. Sie wollen meine Mutter im Rollstuhl in die Cafeteria vor die Terrassentür schieben, während ich draußen stehe und irgendwie mit ihr kommuniziere.

Diese „Alternative“ wird zu einem Horrortrip. Sobald meine Mutter mich sieht, versucht sie, zu mir zu kommen. Sie rollt immer näher an die Tür. Probiert mit den geringen Mitteln, die ihr noch zur Verfügung stehen, die Klinke zu erreichen. Zwei Pflegerinnen reden beruhigend auf sie ein, versuchen sie zurückzuziehen. Sie wird immer aufgeregter. Mich von draußen versteht sie überhaupt nicht, denn wenn sie aufgeregt ist, hört sie fast gar nichts mehr. Ich bin zu weit weg und der Mundschutz, den man uns beiden verpasst hat, erschwert das akustische Verständnis zusätzlich.

Diese Szene muss man sich vorstellen: da ist eine hochbetagte Frau, die nichts weiter will als ihre Tochter in die Arme zu nehmen. Sie hat die Hand flehentlich zur Tür ausgestreckt; sie weint und schreit Unverständliches. Sie wird auch immer wütender. In ihrer Aufregung beugt sie sich zu weit vor und fällt aus dem Rollstuhl.

Ich stehe draußen vor der Glastür und darf immer noch nicht zu ihr. Völlig aufgelöst hämmere ich an die Scheibe. „Das ist unmenschlich. Lasst mich rein“, rufe ich.

Hinter mir geht ein Mann vorbei (in gebührendem Abstand) und schreit mich an: „Was treiben Sie denn da? Das ist verboten!“ Auch einer von den Rechtschaffenen! „Halten Sie doch ganz einfach die Klappe, Sie Blödmann“, schreie ich zurück, was unter diesen Umständen noch ziemlich höflich ist.

Er läuft zur Höchstform auf: „Das ist eine Beleidigung. Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich rufe jetzt die Polizei“! Er zückt sein Smartphone und verzieht sich irgendwohin. Wenigstens ist er weg. Inzwischen sind auf der anderen Seite mindestens 5 bis 6 Leute versammelt.

Meine Mutter wird wieder in den Rollstuhl gehoben. Anscheinend hat sie sich wie durch ein Wunder nicht ernsthaft verletzt. Aber sie gibt nicht auf. Erneut versucht sie, irgendwie an die Klinke zu kommen und ruft so etwas, das wie „Sanne“ klingt. Manchmal bekommt sie noch ein Wort raus und dieses ist meinem Vornamen ziemlich ähnlich. Ich stehe draußen und wähne mich in einem Film à la „Einer flog übers Kuckucksnest“.

Die Pflegedienstleitung schreitet ein. Sie macht den Vorschlag, meine Mutter warm anzuziehen und sie zu mir nach draußen auf die Terrasse zu schieben. Die ganze Prozedur dauert natürlich und nach ein paar weiteren unerträglichen Minuten mit vielen Tränen auf beiden Seiten der Tür sind wir endlich zusammen auf der Terrasse (bei ungefähr 4 Grad) und ich darf sie tröstend in den Arm nehmen. Natürlich unter Aufsicht einer Pflegeperson, die anscheinend die Hygieneregeln beachten soll. Es braucht seine Zeit, bis meine Mutter sich einigermaßen beruhigt.

Mir ist es wichtig, ihr zu sagen, dass es uns allen in der Familie gut geht, denn ich vermute, dass sie auch wegen der Horrorbilder im Fernsehen schreckliche Angst um uns hat. Ich beuge mich möglichst nah an ihr „besseres“ Ohr, aber auch so versteht sie mich durch die Maske kaum. Sie selbst will auch etwas sagen und reißt sich ihren Mundschutz vom Gesicht. Als die Pflegerin ihn ihr wieder aufsetzen will, wirft meine Mutter das Ding auf den Boden und ruft so laut, sie kann „Neunzig!“ Die Wolldecke, die auf ihren Knien liegt, schmeißt sie gleich noch hinterher.

Was bin ich in diesem Moment stolz auf sie! Sie ist zwar 92, aber das Wort ist zu schwierig. Was sie sagen will, ist ja völlig klar: „Das will ich nicht und muss ich mir in meinem Alter auch nicht gefallen lassen!“

Ich drücke sie ganz fest. Die „Aufsicht“ traut sich auch nicht mehr, etwas zu sagen. Sie hat ein Herz und lässt uns in Ruhe. Nur ab und zu schaut sie sich um, ob jemand unser unbotmäßiges Verhalten beobachtet.

So sitzen wir vielleicht eine Viertelstunde und halten uns einfach nur fest. Immer wieder unterbrochen von Weinkrämpfen. Dann wird es zu kalt und wir verabschieden uns irgendwie. Ich kann ihr auch nichts versprechen. Wer weiß, ob die mich noch mal reinlassen nach diesem Ereignis. Schließlich haben wir den geordneten Ablauf ordentlich durcheinandergebracht. Emotionen sind nicht vorgesehen. Ich habe auch keine Kraft mehr. Keine Ahnung, wie es weitergeht …

Einen Gedanken möchte ich zum Schluss noch loswerden: das, was wir heute erlebt haben, ist keine Ausnahme. In vielen Familien spielen sich zurzeit ähnliche Dramen ab. Es herrscht unfassbare Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit, Entsetzen.

Bei mir machte sich erstmal nur Leere breit. Nun beim Schreiben merke ich, wie sich Wut den Weg bahnt. Das ist gut. Und mir soll niemand kommen mit dem Hinweis, dass das alles nur „zu unserer Sicherheit passiert und unserem Besten dient“.

Wer solche Ereignisse mit dem Kopf abbügelt und sie nicht in sein Herz lässt, der braucht vor Corona keine Angst zu haben. Der ist schon tot!


Das Corona-Tagebuch im Überblick:

Teil 1: Katrin McClean, Corona-Tagebuch
Teil 2: Roland Rottenfußer, Der letzte freie Tag
Teil 3: Isabelle Krötsch, Corona-Tagebuch
Teil 4: Kerstin Chavent, An das Mögliche glauben


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.

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