Riesenhaft und mahnend ragt die Statue Giordano Brunos auf dem Campo de’ Fiori in den römischen Himmel. Errichtet wurde sie vor rund 130 Jahren, am 9. Juni 1889, auf dem Platz, an dem Bruno am 17. Februar 1600 den Tod auf dem Scheiterhaufen starb. Die katholische Kirche hat mit allen Mitteln versucht, die Errichtung des Denkmals zu verhindern, musste aber schließlich klein beigeben.
Die Statue Brunos, im Mönchsgewand und die Hände auf einem Folianten, wirkt düster und wuchtig-konzentriert. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Bruno von großer Gestalt gewesen wäre, was jedoch nicht zutrifft. Er war offenbar eher klein und sehr schlank, vielleicht hager, wenn wir den Äußerungen der Zeitgenossen trauen können. Groß, ja ein Riese war er als seelisch-geistige Gestalt. Ein unfassbar großes Genie, das damals alle Zeitgenossen überragte und auch heute einen ähnlichen Rang beanspruchen könnte.
Ebenfalls 1889 erschien die erste deutsche Übersetzung von Brunos über Jahrhunderte hinweg geheimnisumwitterter Schrift „Die Vertreibung der triumphierenden Bestie“ von 1584, die zuvor kaum jemand gelesen hatte.
Wer war Giordano Bruno? Im öffentlichen Bewusstsein spielt er heute praktisch keine Rolle. Viele kennen noch nicht einmal den Namen, und diejenigen, die mit ihm etwas anfangen können, haben in der Regel wenig oder gar nichts von ihm gelesen. Sein Flammentod als Ketzer ist wesentlich bekannter als seine Schriften. Was also weiß der sich für informiert haltende Zeitgenosse über Bruno? Bruno gilt vielen als Vorläufer und Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaft, als Denker, der, von Kopernikus aus-, aber über ihn hinausgehend, von einem unendlichen Weltall sprach und dieses zu beweisen versuchte. Trifft dies zu?
Ein Vorläufer der modernen Naturwissenschaft war Bruno nur bedingt: Zwar nahm er vieles vorweg, was erst später allgemeine Anerkennung fand — etwa die Erkenntnisse, dass die Fixsterne Sonnen sind, dass die Sonne rotiert und dass es jenseits des Saturns noch weitere Planeten gibt —, aber sein Grundansatz war ein völlig anderer als der der abstrakten Naturwissenschaft seit Galilei und Newton.
Brunos Kosmologie entstand nicht primär aus Beobachtungen und deren mathematischer Beschreibung, sie gründet vielmehr in einer Grund- und Ur-Intuition, einer kosmischen Schau, in der der Beobachter — der Philosoph — und das Beobachtete — das Universum — rätselhaft miteinander verschmelzen. Diese Schau ist Bruno nach eigenen Angaben im Alter von dreißig Jahren zuteilgeworden, also etwa 1578. Dazu später mehr.
Was wissen wir noch über Giordano Bruno? War er nicht auch ein Dichter, vielleicht Dante ähnlich, wenn man auf seine zuweilen in Metaphern und Bildern schwelgende Sprache blickt? In seiner Schrift „Die heroischen Leidenschaften“ finden sich philosophische Gedichtinterpretationen, auch Ausdeutungen eigener Gedichte. Und war Bruno nicht auch „Hermetiker“ im Sinne des Hermes Trismegistos? In Grenzen durchaus, obwohl Bruno nicht von hermetischen Schriften ausgeht, sondern diese nur zur Veranschaulichung heranzieht. Kann man ihn als Kosmologen bezeichnen? Auf jeden Fall, wenn wir diesen Begriff mit einem Denken verbinden, das auf die Grundstruktur des Ganzen, des Universums in seiner Gesamtheit zielt.
Wichtig ist hierbei, dass diese Grundstruktur von Bruno als rundum lebendig und bewusstseinserfüllt gedacht wird, also nicht, wie in der heutigen Kosmologie, als abstraktes und weitgehend lebloses System.
In der lebendigen Kosmologie des Giordano Bruno sind alle Gestirne von intelligentem Leben erfüllt: Es gibt keinen toten Winkel im Universum. War Giordano Bruno ein spiritueller Denker? Auch das lässt sich eindeutig bejahen, wenn wir den Begriff des Spirituellen mit dem Geistig-Kosmischen zusammendenken. Zugleich können wir ihn als scharfsinnigen Intellektuellen bezeichnen, wenn wir „Intellekt“ mit Bruno als „Geist“ verstehen, der nicht abgetrennt ist und sein kann vom All-Leben des Universums. Intellekt ist für Bruno keine abstrakt-leblose Fähigkeit, kein Jonglieren mit Begriffen und Konstrukten.
Zunächst, ehe wir weitergehen, ist es sinnvoll, eine bedeutsame Frage zu stellen: Warum wurde Bruno eigentlich umgebracht? Schließlich ist es schockierend, dass eines der größten Genies der Menschheit Opfer eines brutalen Justizmordes wurde, eines Mordes, der noch heute Empörung und Abscheu auslösen kann. Oft wird gesagt, Bruno wäre seinem Kopernikanismus zum Opfer gefallen, also der Gegnerschaft der Kirche zu der Erkenntnis, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums ruht, sondern sich in einer Kreisbahn um die Sonne bewegt.
Hier muss allerdings daran erinnert werden, dass Kopernikus selbst seinem Werk eine Widmungsvorrede an den damaligen Papst vorangestellt hat, was er kaum getan hätte, wenn er nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass seine Grunderkenntnis durchaus vereinbar sei mit den Lehren der katholischen Kirche. Also was war es, was die Kirche gegen Bruno vorzubringen hatte, was wurde ihm als todeswürdiges Verbrechen angelastet?
Oft vorgebracht und klar belegbar ist die schroffe Frontstellung Brunos gegen das Christentum überhaupt, also nicht nur gegen die Kirche als Institution. Hierzu schreibt der Bruno-Forscher Hans Blumenberg:
„Bruno starb nicht als Zweifler, nicht als einer jener Ketzer, deren dogmatische Abweichungen dem historischen Betrachter allemal als innerchristliche Vorgänge erscheinen. Bruno starb für einen Widerspruch, der sich gegen das Zentrum und gegen die Substanz des christlichen Systems richtete“ (1).
Das ist primär von Brunos Kosmologie des unendlichen Universums und der unendlich vielen belebten Gestirne aus formuliert, deren abgrundtiefe Gegensätzlichkeit zur christlichen Weltsicht nicht ernsthaft infrage gestellt werden kann. Man weiß, dass Kardinal Roberto Bellarmino, ein späterer Mitunterzeichner des Todesurteils gegen Bruno, zuvor mehrfach erfolglos versucht hat, den eingekerkerten Philosophen von dieser Vorstellung abzubringen. Lange nach Brunos Tod trat Bellarmino auch als Ankläger gegen Galilei auf, in dem er, völlig zu Unrecht, einen „zweiten Bruno“ witterte.
Galilei war aber ein frommer Katholik, der die radikale Kosmologie Brunos ganz und gar nicht teilte, obwohl er wichtige Argumente für die bewegte Erde von Bruno übernahm, so das berühmte Schiffsbeispiel: Man lässt auf einem fahrenden Schiff einen Stein vom Mast auf die Bootsplanken herunterfallen. Wie verhält sich dabei die Bewegung des fallenden Steins zur Bewegung des Schiffes? Gleitet das Schiff unter dem fallenden Stein hinweg, sodass dieser an einer anderen Stelle weiter hinten aufprallt, oder fällt der Stein genau so, als wenn sich das Schiff in Ruhe befände?
Die Antwort auf die Frage lautet: Der Stein fällt tatsächlich so wie bei einem ruhenden Schiff. Die geringen Abweichungen, die es dennoch gibt, haben andere Gründe, die hier nicht thematisiert werden müssen. Das Schiff ist also ein quasiruhendes Bezugssystem für alle Objekte auf ihm – und ebenso verhält es sich mit der Erde. Aus dieser Erkenntnis wurde das sogenannte Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik abgeleitet, das Newton präzisiert hat.
Zu Brunos kosmologisch motiviertem Antichristentum gesellt sich seine scharfe und für viele selbst heute noch schockierende Frontstellung gegen Jesus von Nazareth, den er in seiner Schrift „Die Vertreibung der triumphierenden Bestie“ in der Gestalt des Orion unter anderem als Magier und Betrüger verspottet.
Am Ende der langen Passage über Orion-Jesus nennt Bruno diesen „einen verächtlichen, gemeinen und unwissenden Menschen (…), durch welchen alles entwürdigt, geknechtet, in Verwirrung gebracht und das Unterste zuoberst verkehrt, die Unwissenheit an Stelle der Wissenschaft (…), der echte Adel zu Unehren und die Niederträchtigkeit zu Ehren gebracht“ worden sei (2).
In der Anklage gegen Bruno spielte diese Schrift zwar keine direkte Rolle – das Buch lag dem Inquisitionsgericht nicht vor –, aber es gab mündliche Äußerungen Brunos ähnlicher Art gegenüber seinem Gastgeber Giovanni Mocenigo in Venedig, der ihn dann denunzierte, und später auch von gleichfalls in die Fänge der Inquisition geratenen Mitgefangenen, die sich durch ihre Denunziation selbst entlasten und freikaufen wollten, was ihnen aber nicht gelang.
Kopernikus hatte in der Grundlinie zunächst nur einen Platztausch zwischen Erde und Sonne vorgenommen, durch den die in der antiken und mittelalterlichen Kosmologie ruhende Erde aber gleichsam in rasende Fahrt versetzt wurde. Das warf Probleme auf, die Kopernikus selbst nicht in vollem Umfang reflektiert hat, weil er primär mathematisch und geometrisch und nicht eigentlich physikalisch argumentierte.
Ein zentrales Problem war etwa die folgende Frage: Wenn sich die Erde so rasend schnell bewegt, wie dies durch Kopernikus ja angenommen wurde, warum merken wir dann nichts davon auf der Oberfläche unseres Planeten? Warum sind die irdische Wahrnehmung und auch die irdische Physik dagegen abgeschirmt oder abgeschottet? Auch die neuzeitliche Physik, dies sei am Rande erwähnt, hat diese Frage niemals rundum überzeugend beantwortet.
Eine weitere, anders gelagerte Frage lautete: Wenn der Mensch aus seiner kosmischen Mittelpunktstellung herausgerissen wird, was macht das mit dem Menschen als Erdbewohner? Wie verändert sich sein Verhältnis zur Welt als Erde und als Kosmos, in psychologischer, religiöser und auch ontologischer Hinsicht? Erfährt der Mensch damit eine „fundamentale Kränkung“, wie Sigmund Freud annahm (3), oder steigert es ihn vielleicht eher?
Bruno nimmt den von ihm radikalisierten Kopernikanismus zum Anlass, das Mensch-Kosmos-Verhältnis von Grund auf neu zu denken und auf eine andere Ebene zu verlagern. Und dies geschieht über den Unendlichkeitsgedanken in enger Kopplung an den Gedanken eines rundum lebendigen und beseelten, das heißt von der Weltseele durchpulsten Universums. Die von ihm gedanklich vollzogene Zertrümmerung der die kosmozentrische Erde umhüllenden Kristallsphären ist für Bruno ein Akt der Befreiung, auch der Freisetzung und Steigerung des Menschen hin zum kosmischen und kosmisch gesteigerten Menschen, in dem sich das Weltall spiegelt und der nicht nur ein Teil der Weltseele, sondern in gewisser Weise diese Weltseele selbst ist.
Ohne diese Konzeption der Weltseele und den Gedanken einer Weltgesamtheit, die sich durch die Allgegenwart intelligenten Lebens auszeichnet und zugleich vom göttlichen Geist durchwaltet wird, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem monströsen und überwiegend leblosen Universum.
Einem Universum des nihilistischen Umsonst, in dem der Mensch sich verlassen und einsam fühlt und jeden ontologischen Halt verliert. Anders gesagt: Nur der kosmologische Ansatz Giordano Brunos schützt uns vor dem Raum-Nihilismus, dem toten Immer-Weiter einer sinnlosen Leere, dem Gott-ist-tot-Universum seit Nietzsche.
Die Weltseele gehört zu Brunos Zentralgedanken. Was ist damit gemeint? Der Begriff steht für eine alles durchwirkende und durchdringende Universalseele, die den Weltraum erfüllt, ja mehr oder weniger mit ihm identisch ist. Schon Platon hatte die kugelförmig gedachte Weltgesamtheit als großes Lebewesen verstanden, dem notwendig eine Seele zugesprochen werden musste. Dieser Gedanke, der im Kern eine urmenschliche Erfahrung ist, wird in der Renaissancephilosophie mit der Kosmologie Brunos wiederbelebt. Später finden wir diese Vorstellung bei dem romantischen Naturphilosophen Schelling und in Teilen auch bei Goethe oder Novalis.
Im 20. Jahrhundert ist es dann der Philosoph Helmut Friedrich Krause, der Bruno als seinen Vorläufer begreift und den Gedanken der Weltseele mit dem Weltraum gleichsetzt. Ich selbst versuche, Bruno, Schelling und Krause aufzugreifen und weiterzudenken. Für mich ist die Weltseele zugleich das kosmische All-Leben, das einheitsstiftende Prinzip aller Lebens- und Bewusstseinsformen beziehungsweise deren ewig lebendiger und unzerstörbarer Quellgrund. Wenn wir in die Tiefen unserer eigenen Seele hinabsteigen, berühren und kontaktieren wir notwendig den Weltseele-Raum des allverbindenden Bewusstseins, in dem wir wurzeln, ja der wir sind.
Giordano Bruno war auch ein grandioser Erkenntnistheoretiker und stets bemüht, die eigenen Erkenntnismethoden und Erkenntnisergebnisse philosophisch-grundsätzlich in den Blick zu nehmen und verstehbar zu machen.
Zu diesem Zweck bediente er sich vielfältiger, zum Teil auch aus der Mythologie abgeleiteter Bilder. Der Aktaion-Mythos wäre hier beispielhaft zu nennen: Der Jäger Aktaion erblickt auf der Jagd im Wald die badende Göttin Diana/Artemis, die ihn daraufhin zornig und empört in einen Hirsch verwandelt, der schließlich von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. — Philosophie als „Liebe zur Weisheit“ wird von Bruno — in bewusster Analogie zur erotischen Liebe — als Leidenschaft verstanden, als eine Kraft, die den ganzen Menschen erfasst und umgestaltet: Alles andere sind lediglich abstrakte Denkbemühungen.
„Im Anfangsstadium — so Bruno — sucht der Philosoph die göttliche Weisheit außerhalb seiner selbst, also in der Welt der Objekte, ohne sich als erkennendes Subjekt und Spiegel der Dinge zu reflektieren, ohne zu bedenken, dass er das Ziel seines Strebens in seinem eigenen Innern trägt, in den Tiefen seines Selbst.
In diesem Zusammenhang finden sich Formulierungen, die erstaunlich ‚modern‘ wirken und die, aus dem Kontext herausgelöst, wichtige Elemente der Erkenntniskritik Kants und seiner Nachfolger vorwegzunehmen scheinen. (…) Mit Nachdruck weist Bruno immer wieder auf die Phänomenalität der Sinneswelt hin, ihren Grundcharakter als ‚Erscheinung‘, hebt hervor, dass wir Spiegeln gleichen, auf denen sich die Dinge abbilden, dass Struktur und Form unserer sinnlich-rationalen Erkenntnisorgane die Eigenarten des gespiegelten Bildes bestimmen.
Im Gegensatz zu Kant jedoch hält Bruno die Erkenntnis des ‚Wesens‘ der Dinge durchaus für möglich, jedenfalls bis hinab zu jener Schicht, in denen sie als Wirkungen oder als Spur des Göttlichen begreifbar sind. Die Gottheit in ihrer ‚Eigentlichkeit‘ ist dem Menschen allerdings verborgen. Was wir wahrnehmen, ist nicht Apollo, Symbolgestalt für das absolute Licht oder die absolute Einheit, sondern Diana, der Schatten des göttlichen Lichts, die Natur, das Universum (…)“ (4).
In Brunos Schrift „Die heroischen Leidenschaften“ heißt es:
„So verschlingen die Hunde, die Gedanken göttlicher Dinge, diesen Aktaion, töten ihn für das rohe Volk und die Menge, lösen ihn aus den Verstrickungen der verwirrten Sinne, befreien ihn aus dem Leibeskerker der Materie, sodass er nun nach seiner Diana nicht mehr wie durch Ritze und Fenster zu spähen braucht, sondern die trennenden Wände niederwirft und angesichts der ganzen Weite des Horizonts ganz Auge wird.
So schaut er das Ganze wie ein Einziges und sieht nicht mehr durch Unterscheidung und Zählung, wie sie sich aus der Verschiedenheit der Sinne ergibt, durch die man wie durch Ritzen nur in verworrener Weise wahrnehmen kann.
Er sieht Amphitrite, den Urquell aller Zahlen, aller Arten, aller Begriffe: Sie ist die Monade, die wahre Wesenheit im Sein aller Dinge, und wenn er sie auch nicht in ihrer Wesenheit selbst, in absolutem Lichte sieht, so sieht er sie in ihren Hervorbringungen, welche ihr ähnlich, ihre Abbilder sind. Denn aus jener Monade, welche die Gottheit ist, geht diese Monade hervor, welche die Natur, das Universum, die Welt ist. In ihr schaut und spiegelt sie sich, so wie die Sonne es im Monde tut (…)“ (5).
Der Spiegel ist so etwas wie ein Zentralsymbol der Bruno’schen Erkenntnislehre. An einer Stelle vergleicht Bruno die Welt sogar mit einem zersplitterten Spiegel, wobei sich in jedem Splitter das ungeteilte Ganze des Spiegels und der auf ihm erscheinenden Sonne manifestiere.
Wichtig für Brunos Überlegungen und Erfahrungen zur Erkenntnis ist der Umstand, dass wir die Welt und die Dinge in ihr normalerweise nur wie durch einen schmalen Spalt sehen, der uns hindert, die ungeheure Weite und Tiefe der Welt in ihrer Eigentlichkeit zu schauen und zu erfassen.
Nur der zur höchsten Erkenntnis gelangende Philosoph vermag diesen Spalt aufzureißen, um die Fülle des kosmischen Seins und der Weltseele als Wirkung des Göttlichen zu schauen und sich davon ergreifen und verwandeln zu lassen. Erst dadurch gewinnt der Mensch seine eigentliche Würde als geistig-kosmisches Wesen, auf das hin er angelegt ist. Er wird, in der Sprache Brunos, zum „Heros“, voller Erkenntnisleidenschaft und Erkenntniskraft, geöffnet für die Unendlichkeit und vibrierende Lebendigkeit des Kosmos.
Lange Zeit ist übersehen worden, was weiter oben bereits angedeutet wurde: In seiner Schrift „Die heroischen Leidenschaften“ bekennt Giordano Bruno, dass er im Alter von dreißig Jahren von einer blitzartigen Erkenntnis- und Wesensschau des Kosmos erfasst worden sei, welche fortan die Grundlage seiner gesamten Philosophie und Kosmologie bilden sollte. In einer an den Neuplatonismus angelehnten Bilder- und Symbolsprache hat Bruno versucht, diese Ur-Intuition zu schildern, die man getrost als eine Erleuchtungserfahrung werten kann. Es ist ein bewegender Text, den man mehrfach lesen muss, um eine Anmutung zu erhalten, wovon er kündet:
„Sie (die Strahlen oder Pfeile des Apollon, J.K.), offenbaren die göttliche Güte, Einsicht, Schönheit und Weisheit, je nach den verschiedenen Wesensordnungen, wie sie durch leidenschaftlich Liebende aufgenommen werden. Das aber geschieht, sobald der Getroffene nicht mehr in diamantartiger Oberfläche das eindringende Licht zurückwirft, vielmehr, durch die Glut und Helligkeit aufgeweicht und bezwungen, in seinem ganzen Wesen lichtartig wird, er selbst gleichsam Licht, indem dieses sein Fühlen und Denken durchdringt. Das ist am Anfang, bei der Zeugung, noch nicht der Fall, wenn die Seele gerade eben berauscht aus dem Lethe und ganz durchtränkt von den Wassern des Vergessens und der Verworrenheit hervorgeht. Da ist der Geist noch zu sehr in die Gefangenheit des Körpers und in den Dienst des vegetativen Lebens eingeengt.
Der Begeisterte, der hier spricht, bekennt, sechs Lustren (30 Jahre, J.K.) in dieser Verfassung verharrt zu haben und in ihrem Verlaufe noch nicht zu jener Reinheit der Einsicht gelangt zu sein, die ihn befähigt hätte, zur Wohnstatt der fremden Gestalten zu werden, die immer an die Tür der Vernunft pochen und sich allen in gleicher Weise darbieten. Schließlich aber ließ die Liebe, die ihn (bis dahin) vergeblich von verschiedenen Seiten her und zu verschiedenen Malen angegriffen hatte (…), sich in den geheiligten Lichtern nieder: Sie zeigte ihm durch zwei intelligible Gestalten die göttliche Schönheit.
Diese band ihm nämlich durch die Sinngestalt der Wahrheit die Vernunft und erwärmte ihm durch die Sinngestalt der Güte das Gefühl; so wurde das materielle und sinnliche Begehren überwunden, das vorher triumphierte, da es trotz der Vortrefflichkeit der Seele ungebrochen blieb. Nun konnten jene Strahlen, welche vom erleuchtenden und wissenden Geist, von der Sonne der Einsicht, ausgesandt wurden, leicht durch seine Augen eindringen, und zwar die der Wahrheit durch die Pforte der erkennenden Kraft, die der Güte durch die Pforte des Begehrens ins Herz, das heißt ins Grundwesen des Gefühls. (…) Als er so zum ersten Mal in dieser Weise erwärmt und im Geiste erleuchtet wurde, war jener siegreiche Punkt und Augenblick erreicht, von dem gesagt wird: ‚Vicit instans‘ (der Augenblick siegt)“ (6).
Völlig eindeutig ist hier von einer blitzartigen Erleuchtungserfahrung die Rede, ohne die die Bruno’sche Kosmologie und Naturphilosophie nicht zu denken ist. Entscheidend ist, dass wir es hier nicht mit einer mystischen Erfahrung zu tun haben, die letztlich — ohne dies abzuwerten — im Formlosen und Ekstatischen verbleibt. Brunos Erleuchtungserfahrung führte ihn vielmehr zu glasklar formulierbaren Erkenntnissen, die das Wesen des Kosmos und des Menschen im Kosmos betreffen. Bruno war kein Mystiker, sondern ein geistig-kosmischer ausgerichteter Denker und Philosoph, dem es um Erkenntnis ging, um die Wahrheit und Wirklichkeit des Universums.
Mit guten Gründen kann der Schluss gezogen werden, dass in seiner geistig-kosmischen Ur-Intuition im Alter von dreißig Jahren das gesamte Spektrum der später ausgearbeiteten Philosophie und Kosmologie bereits enthalten war, vielleicht sogar mehr, als Bruno bis zu seiner Gefangennahme aufzuschreiben vermochte.
War Bruno Pantheist? Dies ließe sich nur mit großen Einschränkungen behaupten, nämlich wenn man dazu die Formel Spinozas „Deus sive natura“ (Gott oder Natur) heranzieht und als Gleichsetzung von Gott und Welt — Universum oder Kosmos — deutet. Bruno denkt die Einheit von Transzendenz und Immanenz des Göttlichen im Universum. Die Gottheit ist allgegenwärtig, sie erfüllt den unendlichen Weltseele-Raum, ohne mit ihm identisch zu sein, und sie erfüllt die lebendige Natur auf den unendlich vielen Gestirnen. Zugleich ist die Gottheit weltenschöpferisch tätig; sie wirkt und schafft von Ewigkeit zu Ewigkeit: „Gestaltung, Umgestaltung, / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“ (7).
Das Göttliche atmet und webt in der göttlich geschaffenen und doch ewig bestehenden Welt. Nur die kosmischen Systeme werden und vergehen; der unendliche Kosmos war immer und wird immer sein. Immer, immer, immer … Die Zeit ist unendlich wie der Raum. Was uns als lebendige Bewusstseinswesen trägt und unaufhörlich durchpulst, ist die Unendlichkeit in Zeit und Raum.
Wir sind auf diese Unendlichkeit angelegte Wesen. Hierin wurzelt unsere tiefste Würde. Ohne diesen Unendlichkeitsgrund würden wir nicht existieren können. Der unendliche lebendige Kosmos Giordano Brunos ist das wirksamste Gegengift gegen den herrschenden Raum-Nihilismus der toten Leere und des öden Immer-Weiter.
Ich möchte abschließend ein Zitat aus Brunos „De immenso et innumerabilibus“ bringen, seiner größten und umfangreichsten kosmologischen Schrift, die erst in den späten 1990er-Jahren ins Deutsche übersetzt worden ist:
„Meine Betrachtung folgt also keiner seichten oder gehaltlosen Richtung, sondern einer sehr wichtigen und eines vollkommenen Menschen würdigen. (…) Auch erfand ich das Ergebnis nicht oder träumte es, sondern ich betrachte es im erhabenen Palast des Allmächtigen, im unermesslichen Ätherraum und in der unendlichen Potenz der zweifachen Natur, die zu allem wird und alles hervorbringt.
Deshalb können wir so viele Sterne, Welten oder, wie ich sie nenne, große Lebewesen und Götter betrachten, die ohne Zahl und Ende überall in ihren eigenen Bereichen und Ordnungen für den einen Höchsten zusammenklingen und tanzen. So zeigt sich durch das Ewige und Unermessliche des Sichtbaren und die Verwirklichung des Unzählbaren jene ewige und unermessliche Majestät und Güte unserem Bewusstsein. Zu seinen Ehren und für die Verkündigung seines Ruhms wird er durch die Existenz und die Harmonie zahlloser Götter oder Welten sogar für die Augen deutlich sichtbar verherrlicht. (…)
So wollen wir denn unsere Augen auf das alle Formen wiedergebende Bild des Gottes richten, der alle Formen enthält und sein lebendiges und großartiges Gleichnis bewundern. Hier, wo gleichsam die Seele am Bug steht, das Leuchtfeuer der Sinne vorauseilt, und das Denken im Heck das Ruder hält, erhebt sich das Licht des Bewusstseins zum Aussichtspunkt, um den ganzen Horizont zu überblicken, das Vergangene in die Erinnerung zurückzurufen, das Gegenwärtige zu betrachten und die Zukunft vorherzusehen.
Deshalb nennt Trismegistos den Menschen das große Wunder, der sich in Gott verwandeln kann, als ob er selbst Gott wäre, und der es wagt, alles zu werden, wie Gott alles ist. Er strebt nach dem Unendlichen, obgleich ihm überall Endliches begegnet, wie Gott unendlich, unermesslich und überall ein Ganzes ist“ (8).
Giordano Bruno stellt für uns eine enorme Herausforderung dar. Er ist von erstaunlicher Präsenz und Lebendigkeit und keineswegs „überholt“ oder obsolet; er ist vielmehr noch nicht einmal wirklich „angekommen“.
Bruno bleibt der Riese, als der er uns in der wuchtigen Statue in Rom entgegentritt: den Marktplatz zu seinen Füßen überragend, den Blick zum Petersdom gewandt. Die Statue dominiert den Platz, auf dem sie steht, auch wenn sie im Alltagsgeschehen meist wohl unbeachtet bleibt. Fremdartig und rätselhaft wie eine Mahnung, die man noch nicht richtig verstanden hat, obwohl man spürt, dass man ihr nicht ausweichen kann.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 109
(2) Giordano Bruno: Gesammelte Werke Bd. 2: Die Vertreibung der triumphierenden Bestie (hg. u. übers. v. Ludwig Kuhlenbeck), Leipzig/Jena: Diederichs 1904, S. 244
(3) Sigmund Freud: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“; in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften Bd. V, Leipzig/Wien: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1917, S. 1 bis 7
(4) Jochen Kirchhoff: Giordano Bruno, Reinbek: Rowohlt 1980, S. 55ff.
(5) Ernesto Grassi (Hg.): Giordano Bruno. Heroische Leidenschaften und individuelles Leben. Auswahl und Interpretationen, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 74ff.
(6) ebd., S. 83f.
(7) Johann Wolfgang von Goethe: „Faust. Zweiter Teil“; ebd.
(8) Giordano Bruno: Das Unermessliche und Unzählbare/De immenso et innumerabilibus (übers. v. Erika Rojas), Peißenberg: Skorpion-Verlag 1999