Eine Gesellschaft gelingt am ehesten, wenn sich die Klassen in einem einigermaßen erträglichen Gleichgewicht befinden. Dieses Gleichgewicht zu erhalten, bedeutet eine enorme Anstrengung, ist aber zugleich schöpferisch und lebendig.
Das erste Anzeichen für eine Gesellschaft, die sich in einem akademischen Übergewicht befindet, ist die Beliebigkeit. Durch ihre rhetorischen Fähigkeiten — auch Eloquenz genannt — umgarnen die AkademikerInnen die Menschen und wiegen sie in einer nebulösen Sicherheit.
Da sie von oben herab sprechen, glauben „die da unten“, ist man gebildet, versteht man die Welt. Nichts könnte falscher sein.
Die Aufwertung der akademischen Laufbahn hat dazu geführt, dass eine Akademikerschwemme entstanden ist, die auf den Arbeitsmarkt drängt. Es werden einerseits neue Berufsbilder und Tätigkeitsfelder geschaffen oder Berufe akademisiert, um die Absolventen unterzubringen, anderseits wandeln sich Berufe, die früher sicher waren, in Leiharbeiterverhältnisse, oder führen gar zu Entlassungen.
Ein Beispiel führt der Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bürokratie“ an, in dem er von einer Teefabrik in Frankreich erzählt, die ihr mittleres Management aufgestockt hat — auf Kosten der Arbeiter, die die Produktion durch immer wieder neue Innovationen marktfähig gehalten haben: Man wollte sie entlassen. Zum Glück wehrten sich die Arbeiter und besetzten den Betrieb. Gewiss ein eher außergewöhnliches Beispiel, aber auch in seinem Buch „Bullshitjobs“ beschreibt er eindrücklich, wie hauptsächlich in Konzernen das mittlere Management mit sinnfreien Tätigkeiten aufgestockt wird und auf der Produktionsebene ganze Bereiche ausgelagert und fremdvergeben werden. Diesen Zusammenhang kann man zumindest vermuten, obwohl er ihn nicht explizit beschreibt und dies sicher auch nicht der einzige Grund ist.
Wer wurde nicht schon von einer Beratungsfirma heimgesucht, deren einzige Kompetenz darin besteht, eine in sich gewachsene Struktur zu zerstören, um die eigene zu etablieren? In allen Bereichen hat diese Verschiebung stattgefunden. Was übrig bleibt, ist ein Gerede. Ein Versprechen wollen, ohne dieses halten zu können, ein Seifenopernverhalten und Laientheatergehabe.
Das fundierte Wissen eines langjährigen Berufslebens zählt nichts mehr, aber ein dahergelaufener akademischer Bückling, eingeklemmt in die Konservendose des Selbsterhalts, erklärt der Welt, wie es gehen soll. Das Ergebnis sehen wir jetzt, die akademische Elite kann es nicht mehr verschleiern. Sie sind da angekommen, wo Inzucht immer ankommt: in einer dümmlichen Infantilität und Realitätsverweigerung.
Hinzu kommt, dass die jetzt Dreißigjährigen eine stille Revolution durchgeführt haben. Gemerkt hat es deshalb kaum jemand, weil sie eine durch die digitale Technik verschleierte ist. Da sie im Verhältnis zu den Alten eine wesentlich kleinere Gruppe darstellen, haben sie den digitalen Hebel angewandt. Die wenigen suggerieren damit, eine Mehrheit zu sein, und demonstrieren gleichzeitig eine gewisse Überlegenheit.
Wer war nicht schon peinlich berührt, wenn einem das eigene Kind erklärt hat, wie man ein Handy einrichtet? Durch diesen technischen Vorsprung gegenüber der Elterngeneration entstand in ihnen das Gefühl, man könne auch ohne Erfahrung die Geschicke der Gesellschaft lenken.
Dadurch haben sie viele Positionen erklommen, an die noch die vorherige Generation niemals gekommen wäre. Das könnte ja positiv sein, im Sinne einer jugendlichen Erneuerung. Doch das Gegenteil ist der Fall. Durch die Verinnerlichung der digitalen Möglichkeiten, die ja ohne jegliche Evidenz auskommen und alles in Modellen darstellen können, sind viele dieser jungen Leute zu Oberflächengeistern verkommen.
Sie lutschen an der Welt wie Kinder am Lolli. Sie haben den Erfahrungsschatz einer Eintagsfliege und reden über die Rettung der Welt, als planten sie einen Urlaub. Den Bezug zur Wirklichkeit haben sie gänzlich verloren, deshalb auch die Tendenz zur Radikalisierung und Idealisierung.
Wenn man träumt, gibt es keinen Stein, über den man stolpern kann. Sie schaffen sich eine eigene Zukunft, in der sie glauben, die Welt gerettet zu haben, aber gleichzeitig ein freies unabhängiges Leben verlieren.
Durch ihr Übergewicht erreichen die Akademiker eine enorme Deutungsmacht, die sich fatal auf die Gesellschaft auswirkt. Durch die starke Unausgewogenheit werden die Interessen der nicht zugehörigen Klassen ignoriert oder marginalisiert. Die akademische Weltsicht wird etabliert. Sie bestätigen sich gegenseitig und ignorieren die anderen. Man muss diese Unterscheidung treffen, um klarzumachen, wie fatal es ist, solchen Menschen die Gestaltung der Gesellschaft alleine zu überlassen. Nichts ist überzeugender, als sich die Verhältnisse der Gegenwart anzuschauen. Dem ist nichts hinzuzufügen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Büchlein der Philosophin Simone Weil — sie war zeitweise Marxistin und hat 1934 Hitlerdeutschland besucht — mit dem Titel „Anmerkungen zur generellen Abschaffung politischer Parteien“ hinweisen. Darin behandelt sie die kollektiven Leidenschaften, die alles, was nicht dazugehört, ausschließen und anfeinden und deshalb letztendlich totalitär werden. Dies trifft nicht nur auf politische Parteien zu, sondern auch auf Klassen; überall, wo sich Menschen versammeln, um andere auszuschließen, gilt dieses Phänomen. Die Kunst — sie führt den Kubismus an — und selbst Vereine sind da nicht ausgenommen, wenn auch in einer mehr oder wenig erträglichen Form. Die akademische Klasse lebt eine solche kollektive Leidenschaft.
Es wird endlich Zeit, diesen Wahrnehmungsraum für alle gesellschaftlichen Schichten zu öffnen. Könnte nicht auch mal eine Diskussion zwischen einer Krankenschwester, einem Lkw-Fahrer, einer Bäckerin und einem Wissenschaftler stattfinden? Und wäre es nicht eine wundervolle Herausforderung für jeden Moderator, so etwas zu gestalten? Oder dass Künstler die volle Breite und Tiefe unserer Gesellschaft in neuen Geschichten erzählen, in Film und Tanz und allen anderen Gestaltungsarten präsentieren und sogar in neuen Formen und Strukturen ausdenken?
Da müsste doch jeder schöpferische Mensch ob der unendlichen Möglichkeiten vor Freude „im Viereck springen“! Stattdessen: immer und immer wieder nur das Gleiche.