Es ist ja nicht so ganz selbstverständlich, dass ein Naturwissenschaftler die Laudatio für einen Poeten und Musiker hält. Ich als Biologe und Neurobiologe für den Künstler und überzeugten Pazifisten Konstantin Wecker, der heute — zum 50. Geburtstag des Albert-Schweitzer-Zentrums — mit der Verleihung der Albert-Schweitzer-Medaille geehrt werden soll.
Ich habe diese Aufgabe gern übernommen, nicht nur weil Konstantin Wecker mich darum gebeten hatte, sondern vor allem deshalb, weil ich weiß, dass er ein Künstler ist, der besonders deutlich spürt, wie sehr sich die bisher aufrechterhaltenen alten Trennlinien zwischen Kunst und Wissenschaft — wie auch die zwischen Natur und Kultur, zwischen Körper und Geist — aufzulösen beginnen. Auch hier wächst also wieder zusammen, was zusammengehört. Angesichts der wachsenden Polarisierungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird das von vielen Menschen übersehen.
Wahrscheinlich lassen sich solche Veränderungen leichter von all jenen erkennen, die nicht mit festgezurrten Überzeugungen umherlaufen, sondern die noch so wie Konstantin Wecker als Suchende in der Welt unterwegs sind. Auf der Suche nach dem, was uns als Menschen ausmacht, was uns ein friedliches Zusammenleben ermöglicht, was eine demokratische Gesellschaft braucht, um ihre Freiheit zu bewahren. Sie sind es dann auch, die sich mit aller Kraft dafür einsetzen, Unterdrückern und Verführern Einhalt zu gebieten. Wenn es irgendetwas Entscheidendes über Konstantin Wecker zu sagen gibt, so ist das der Umstand, dass er immer ein Suchender war und ein zutiefst Suchender geblieben ist.
Als Suchende kommen wir Menschen ja alle auf die Welt. Wir müssen erst herausfinden, wie das Leben geht. Und weil wir dabei in eine Lebenswelt hineinwachsen, die bereits von Anderen nach deren Vorstellungen gestaltet worden ist, kommt es dabei zwangsläufig auch immer wieder zu mehr oder weniger starken Verwicklungen — mit diesen anderen Personen, aber vor allem mit uns und in uns selbst.
Um in diese Welt zu passen, um dazuzugehören, angenommen und aufgenommen zu werden, müssen wir lernen, manches in uns zu unterdrücken. Allzu viel Entdeckerfreude, beispielsweise, mit der wir unseren Erziehern auf die Nerven gehen, oder zu starke Gestaltungslust, ein besonders ausgeprägtes Bewegungsbedürfnis oder zu viel Mitgefühl. Wem es gelingt, diese „störenden“ Anteile in seinem Gehirn möglichst gut zu hemmen, sie also so gut zu verpacken und einzuwickeln, dass sie kaum noch spürbar sind, der passt dann zwar recht gut in die vorgefundene Welt (und kann dort sogar sehr erfolgreich werden). Aber entfalten kann sich ein solcher Mensch in diesem verwickelten Zustand nicht mehr. Dazu müsste sie oder er sich erst entwickeln.
Und das ist nicht ganz einfach. Deshalb ist es gut, wenn es andere, nicht ganz so sehr Verwickelte gibt, die dabei behilflich sind. Entwicklungshelfer also. Und so einer war Albert Schweitzer. Als Theologe, als Musiker, als Philosoph, als Arzt.
Von sich selbst sagte er:
„Instinktiv habe ich mich immer dagegen gewehrt, das zu werden, was man gewöhnlich unter einem ‚reifen Menschen‘ versteht.“
Und an uns gerichtet:
„Allen tut uns Selbstbesinnung gut, die uns aus dem Dahinleben erwachen lässt. In den alten Verhältnissen müssen wir neue Menschen werden, um neue Zustände schaffen zu können.“
Albert Schweitzer können wir nicht mehr fragen, woher er die Kraft erlangt hatte, mit deren Hilfe es ihm gelang, sich auf seiner Suche nach einem gelingenden Leben nicht allzu sehr zu verwickeln. Konstantin Wecker singt davon in vielen seiner Lieder. Es war wohl vor allem sein Vater, von dem er sich bedingungslos geliebt fühlte. Von dem er lernen durfte, was Offenheit, Aufrichtigkeit und Mitgefühl bedeuten und dass es Hingabe und Leidenschaft braucht, um etwas Einzigartiges hervorzubringen.
Dieses große Geschenk seines Vaters hat ihn nicht davor beschützt, sich auch immer wieder zu verwickeln, aber es hat ihm geholfen, sich daraus auch immer wieder zu befreien.
Wie beschreibt er es in Poesie & Widerstand?
„Hoch gestiegen, tief gefallen
zwischen Geistesblitz und Lallen
bin ich auf dem Weg zum Lieben
meinem Inneren treu geblieben.“
Und den Hasspredigern und Wutbürgern, die ihn zu diffamieren versuchen, ruft er zu:
„Ja, ich bin weltfremd, denn eure Welt ist mir fremd. Und ich bin froh darüber. Ihr behauptet, wer zu viel Mitgefühl hat, habe keinen Verstand. Ich verzichte nur allzu gern auf einen vom Menschsein getrennten Verstand. Verstand ohne Mitgefühl führt zu Wahnsinn, und das kann man ganz gut am derzeitigen Zustand unserer Erde beobachten.“
Deshalb ist Konstantin Wecker auch so ein Entwicklungshelfer wie Albert Schweitzer. Einer, der mit wachem Verstand und klaren Worten sagt und besingt, was das Menschliche in uns ausmacht, wie zerbrechlich es ist, wie sehr und von wem es bedroht wird.
Was dieses Bemühen aber so wertvoll und wirksam macht, das ist die Poesie und das sind die Melodien, mit denen er die Herzen der Menschen berührt.
Verstand und Gefühl sind für ihn gleichermaßen bedeutsam, sie dürfen nicht voneinander getrennt werden. Deshalb gehören für ihn Kunst und Wissenschaft ebenso wie Poesie und Widerstand untrennbar zusammen.
Das Überschreiten der tradierten Trennlinien mag auch heutzutage noch unbequem sein, aber mit der Verleihung der Albert-Schweitzer-Medaille an Konstantin Wecker wird es leichter, für uns alle und vor allem für ihn.
Ich bin froh, lieber Konstantin, dass Du ein Suchender geblieben bist. Dadurch ist es Dir gelungen, Deine wunderbaren Begabungen so zu entfalten, dass Du die Herzen und den Verstand so vieler Menschen erreicht und geöffnet hast. Und dafür möchte ich mich bei Dir an dieser Stelle im Namen von uns allen hier in der Paulskirche wie auch der Vielen, denen Du bei Ihrer Entwicklung ein wenig geholfen hast, sehr herzlich bedanken.