Ulrich Heyden: Wie reagiert die Bevölkerung auf den Coronavirus?
Ruslan Kotsaba: Die Reaktionen sind verschieden. Die Bevölkerung ist ziemlich verängstigt. Einige Menschen sind vom Panikvirus befallen. Diese Leute haben Angst vor anderen Menschen. Ich glaube, dass dieser Teil der Bevölkerung — selbst wenn die Pandemie vorbei ist und der Sommer anfängt und alle gesund sind — unterbewusst mit dem anderen Teil der Bevölkerung keinen Kontakt aufnehmen wird, aus Angst, sich mit einem anderen Virus zu infizieren.
Mit was für einem Virus?
In der griechischen Mythologie gab es den Gott Pan. Davon kommt das Wort Panik. Wenn dieser Gott den Verstand beherrscht, ist der Mensch psychisch gestört. Die Störung äußert sich darin, dass du in jedem Menschen einen Kranken siehst.
Erzählen Sie bitte, was in Kiew alles geschlossen ist: alle Fabriken, die Schulen, Universitäten und Verwaltungen?
Alles ist geschlossen. Kindergärten, Schulen, staatliche Einrichtungen. Geöffnet sind nur Lebensmittelgeschäfte, Geschäfte, wo man Kaffee kaufen kann, obwohl die auch schließen. Es lohnt sich für sie nicht aufzumachen. Es kommen zu wenig Leute. Außerdem sind alle Haushaltswarengeschäfte geöffnet. Da kann man unter anderem Baumaterial kaufen.
Tragen Sie selbst eine Maske, gehen Sie zur Arbeit?
Ich bin Journalist. Das ist ja nicht nur ein Beruf. Das ist eine Lebensaufgabe. Wir haben die Aufgabe, die Bevölkerung zu informieren, egal wie viel Angst wir davor haben, uns selbst zu infizieren oder selbst an dieser Krankheit zu sterben. Wir gehen zur Arbeit, das ist unsere bürgerliche Pflicht. Ich arbeite bei zwei Fernsehkanälen. Bei dem Kanal Kiewer Rus bin ich festangestellt. Bei dem Kanal NewsOne mache ich nur ein Programm. Bei beiden Kanälen wurden die Mitarbeiter nach Hause geschickt, damit sie von dort aus arbeiten. Wenn ich im Studio einen Gast habe, dann darf die Distanz nicht weniger als eineinhalb Meter sein. Gästen, die eine Viruspanik haben, erlauben wir, mit einer Maske aufzutreten. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation sagt, dass die Maske nur dem Menschen hilft, der krank ist. Für einen gesunden Menschen bringt die Maske noch mehr Probleme.
Eine infizierte Frau hat Angst, dass man sie verbrennt
Der Panikvirus hat sich überall hin ausgebreitet. Die Macht nutzt es aus, dass der Panikvirus die Köpfe sogar vernünftiger Menschen beherrscht. Ich habe sogar bei meinen Bekannten festgestellt, dass sie Angst haben, wenn sie über einen Bekannten hören, dass er krank ist.
Im zentralukrainischen Poltawa-Gebiet kam es im Februar zu Auseinandersetzungen …
Die ganze Welt hat es gesehen. Als Ukrainer aus dem chinesischen Wuhan kamen, wurde ihr Bus mit Steinen beworfen. Das war eine Schande. Wahrscheinlich sind die Menschen jetzt ruhig geworden. Aber in meiner Heimat in Galizien, in der Westukraine, hat eine Frau öffentlich eingestanden, dass sie von einem Auslandsaufenthalt infiziert in die Ukraine kam, nicht in die Quarantäne gegangen ist und mit ihren Verwandten Kontakt aufgenommen hat. Die Rückkehrerin hat die Dorfbewohner auf den Knien darum gebeten, sie und ihre Familie nicht zu verbrennen.
Wie verhält sich die Regierung in der Coronakrise?
Wir kennen das Interesse der Macht. Sie gewinnt in jedem Fall, egal ob die Zahl der Infizierten fällt oder steigt. Wenn es keine Steigerung bei den Infektionen geben wird, wird sie sagen, das hat man uns zu verdanken. Wenn es eine Steigerung gibt, dann sagt man, wie Trump, es sterben 200.000, aber es könnten mehrere Millionen sterben.
Für die Macht ist der Panikvirus von Vorteil. Denn in unserem Land gibt es nichterklärte Kriege. Es gibt den nichterklärten Krieg im Donbass und es gibt den nichterklärten Krieg zwischen den Korrupten und dem ehrlichen Volk.
Und obwohl es merkwürdig klingt: Wir haben eine volksfeindliche Regierung. Sie verbietet die Rechte und Freiheiten der Menschen, obwohl das gegen die Verfassung ist.
Gleichzeitig entschädigen sie die Bürger nicht mit Geld wie in anderen Ländern. Bei uns gibt es nur einen Zuschlag von 33 Euro für die Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Dabei ist es schon eine Leistung, 80 Jahre alt zu werden. Jetzt will man auch den Leuten, die weniger als 170 Euro verdienen, 33 Euro im Monat geben, und die, welche ihre Arbeit verloren haben, sollen 17 Euro im Monat bekommen.
Wie viele Personen arbeiten jetzt nicht und wie ernähren sich diese Menschen?
Der Großteil derjenigen, die jetzt ihre Arbeit verloren haben, hat in der Regel nur ein minimales Einkommen. Der Lohn wurde ihnen nicht offiziell, sondern im Briefumschlag bezahlt. Das nennt man „grauen Lohn“. Für die Arbeitgeber und die Angestellten war diese Regelung vorteilhaft, denn die Steuern auf den Lohn liegen in der Ukraine bei über 40 Prozent.
Jetzt haben vor allem die Menschen im Dienstleistungsbereich ihre Arbeit verloren, die Kellner und die Leute auf dem Bau. Sie haben alle schwarz gearbeitet. Wenn sie jetzt nicht mehr arbeiten, wird das keinen Einfluss auf die offizielle Statistik haben.
Diese Menschen haben alles verloren. Ich will kein Prophet schlechter Nachrichten sein. Aber wenn die Regierung die Quarantäne bis zum Anfang des Sommers verlängert, wenn die Regierung die Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, nicht entschädigt, wenn die Kleinunternehmen pleite gegangen sind, wird es blutige Hungeraufstände geben. Dabei können die Millionen von Waffen zum Einsatz kommen, die durch den Krieg im Donbass in die Hände der Bevölkerung gelangt sind.
In welchen Branchen werden die Menschen jetzt entlassen, im Dienstleistungssektor, in der Landwirtschaft, in der Industrie? Wie lange können die Menschen ohne Lohn leben? Werden die Menschen jetzt auf ihren Datschen Gemüse anbauen, sodass es vielleicht bis zum Herbst keine Aufstände gibt?
Einige Fabriken, deren Produktion man nicht unterbrechen kann, arbeiten noch. Aber viele Fabriken sind schon länger geschlossen. In der Ukraine gab es eine Deindustrialisierung.
Ich glaube, die Menschen bei uns werden diese Situation nicht länger als drei Wochen ertragen. Der Mensch wird vor der Wahl stehen. Entweder er raubt ein Lebensmittelgeschäft aus, damit seine Kinder nicht hungrig sind. Das heißt, die Leute werden aufhören zu glauben, dass wir jetzt alle krank werden und sterben.
Ich verstehe, dass der Coronavirus ein großes Übel ist. Aber ich kenne die Statistik, aus der hervorgeht, dass die am meisten gefährdete Gruppe die Menschen über 70 sind. Selbst in dieser Gruppe überleben 95 Prozent. An der gewöhnlichen Grippe sterben in der Ukraine mehr Menschen. Jeden Tag sterben in der Ukraine Menschen an Tuberkulose.
Nach meiner Meinung zieht die Macht in dieser Krise einige ihrer Vorhaben durch, die gegen die Verfassung gerichtet sind. Sie schüchtert die Menschen mit dem Coronavirus ein.
Was meinen Sie mit antikonstitutionellen Vorhaben? Das neue Bodengesetz?
Ja. Das Gesetz sieht vor, dass mit landwirtschaftlichen Flächen wie mit einer Ware gehandelt werden kann. Außerdem soll das Anti-Kolomoiski-Gesetz angenommen werden. (Das Gesetz soll verhindern, dass der Oligarch Igor Kolomoiski, der die PrivatBank besaß, für die Nationalisierung dieser Bank entschädigt wird, Anmerkung des Autors)
Außerdem sollen die Ausgaben des bereits beschlossenen Haushalts gesenkt werden.
Und schließlich will die Partei von Präsident Selenski in der Werchowna Rada (Oberster Rat der Ukraine) ein Gesetz durchbringen, das der Nationalgarde ermöglicht, bei Ordnungswidrigkeiten ein strafrechtliches Protokoll aufzusetzen, Durchsuchungen durchzuführen, mit versteckten Kameras zu filmen und mit versteckten Mikrofonen Aufnahmen zu machen.
Angeblich sollen damit Ordnungswidrigkeiten auf den Straßen eingedämmt werden.
Die Ukraine ist schon jetzt ein Polizeistaat. Bei uns gibt es die größte Zahl von Polizisten in Europa im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. In der Nationalgarde dienen 300.000 Personen. Wenn die Nationalgarde das Recht bekommt, Polizeifunktionen zu übernehmen, werden wir der größte Polizeistaat der Welt, der gleichzeitig die höchsten Zahlen bei der Straßenkriminalität hat.
Neonazi-Organisation C14 soll Polizeiaufgaben bekommen
Warum gibt es diese hohe Straßenkriminalität?
Weil die Polizei politische Aufträge ausführt. Sie verfolgt Andersdenkende und Journalisten. Nur ein Beispiel: Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, hat der Neonazi-Organisation C14 (1) die Aufgabe übertragen, auf den Straßen von Kiew zu patrouillieren. Das ist absurd, wenn ein Mensch mit jüdischen Wurzeln den Neonazis erlaubt, hier im Zentrum von Kiew, einer europäischen Hauptstadt, für Ordnung zu sorgen. Die Macht benutzt die Neonazis, um Andersdenkende, Journalisten und Aktivisten zu unterdrücken. Jetzt werden diese Neonazis sogar vom Staat finanziert.
Wie reagiert die Bevölkerung darauf? Haben Sie selbst erlebt, wie die Organisation C14 auf den Straßen Kontrollen durchführt? Wie verhalten sich diese Leute?
Sie führen sich aggressiv auf. Sie geben Anordnungen und nehmen Protokolle auf, obwohl sie das nur in Begleitung von Polizisten machen dürfen.
Bisher greifen sie mich nicht an, obwohl sie genau wissen, wer ich bin. Sie warten nur auf den Befehl. Sie sind sehr diszipliniert. Das ist eine halbmilitärische Organisation. Sie haben Waffen und schusssichere Westen, Handschellen, Knüppel, Elektroschocker, Luftdruckpistolen. Das ist ein Problem. Aber niemand redet darüber.
Die Macht ängstigt die Menschen. Die Macht weiß, wenn sich mehr als drei Leute auf der Straße treffen, gibt es 570 Euro Strafe. Wenn man in Deutschland die Regeln der Quarantäne verletzt, muss man — soweit ich weiß — 110 Euro und beim wiederholten Fall 270 Euro bezahlen. Die Deutschen sind gesetzestreu. Das ist traditionell so. In Deutschland sind 200 Euro der zwanzigste Teil des durchschnittlichen Einkommens. Aber bei uns ist die Strafe von 570 Euro gleichbedeutend mit sieben Minimaleinkommen. Das heißt, man treibt die Menschen in eine Knechtschaft. Um die Strafe einzutreiben, kann man Gerichtsvollzieher zu ihnen schicken. Die können alle Wertgegenstände in der Wohnung beschlagnahmen.
Ich habe einen sehr hohen Preis dafür bezahlt, als ich 2015 die Wahrheit zum Krieg im Donbass gesagt habe. Aber ich werde nicht schweigen, und ich werde überall erzählen, dass es in der Ukraine eine widerrechtliche Aneignung der Staatsmacht gibt.
Gehen Sie auf die Straße und befragen die Menschen?
Das ist zurzeit nicht möglich.
Das heißt, Sie können nur über Bekannte und über das Internet erfahren, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist?
Ja.
Gibt es vonseiten der ukrainischen Regierung irgendwelche Andeutungen, dass man der Bevölkerung, den Kindern, den Familien mit zusätzlichem Geld helfen will? Ist das überhaupt Thema der öffentlichen Debatte, oder tun die Politiker so, als ob das Volk das nicht braucht und die Menschen sich selbst helfen können?
Ich kam gestern Abend nach Hause und sah, dass am Kontraktowa-Platz im Zentrum die Häuserwände mit Zetteln einer Oppositionspartei vollgeklebt waren. Darauf stand, wie man Masken richtig tragen soll und wie man die Quarantäne richtig einhält. Es war so eine Art Reklame. Wenn man es den Menschen auf diese Weise nahebringt, finde ich es zulässig. Aber wichtig wäre, wenn man eine Liste machte mit Leuten, die Hilfe nötig haben, Rentner mit chronischen Erkrankungen zum Beispiel, die etwas aus der Apotheke brauchen. Wenn man von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung gehen würde, das wäre gut. Aber das macht keine einzige politische Partei.
Die Politiker werben für sich vor allem über das Fernsehen. Das ist für sie die billigste Reklame, denn sie sind selbst Besitzer von Fernsehkanälen.
Haben die Menschen die Möglichkeit, Masken, Schutzanzüge und spezielle Brillen zu kaufen, um sich zu schützen? Kann man in eine Poliklinik gehen und einen Test auf den Coronavirus machen?
Nein. Auch ein Arzt kommt nicht, wenn man ihn anruft. Wenn du Temperatur hast, kommen sie nur, um eine Probe aus deinem Hals zu nehmen.
Bis gestern wurden in der gesamten Ukraine nur 9.000 Tests gemacht. Mit diesen Tests wurden 3.500 Infizierte festgestellt. Das heißt, die Zahl der Infizierten im Verhältnis zur Zahl der Getesteten ist die größte weltweit. Wir haben eine so niedrige Zahl bei den Infizierten, weil es zu wenige Tests gibt oder die Tests von schlechter Qualität sind.
Die Hausärzte erklären, es sei besser, zu Hause zu bleiben. Sie sagen, wenn man ins Krankenhaus kommt, wo es keine Lungenbeatmungsgeräte gibt, werde man sicher sterben. Und sie sagen, dass wenn man zu Hause in die Quarantäne geht, man die Chance zu überleben habe.
Relativ hohe Zahl von Infizierten in der Westukraine
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass es die größte Zahl der Infizierten in der Ukraine in den drei westukrainischen Gebieten Ternopil, Iwano-Frankiwsk und Tschernowzy gibt?
Ich komme selbst aus dem Gebiet Iwano-Frankiwsk. Die Sache ist die, dass es in der Westukraine für die Frauen über 40 fast keine Arbeitsplätze gibt. Deshalb sind die meisten dieser Frauen zur Arbeit nach Italien oder nach Spanien gefahren, wo es von der Regierung Hilfe für alte Menschen gibt, die nicht mehr laufen können oder bettlägerig sind. Ein Teil dieser ukrainischen Frauen blieb in Italien, ein anderer Teil kehrte zurück. Weil einige infiziert zurückkamen, gibt es bei uns mehr Infizierte und sogar Tote. Vorgestern starben in meiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk vier Menschen. An dem Tag starben in der gesamten Ukraine sieben Menschen, davon alleine vier in Iwano-Frankiwsk.
Aber die Lage ist nicht so eindeutig. Wir alle waren Bürger der Sowjetunion. Und wir alle wurden drei Tage nach der Geburt gegen Tuberkulose geimpft. Viele Epidemiologen sagen, dass diese Impfung dem Körper hilft, den Coronavirus abzuwehren. Und es gibt eine Statistik, die das belegt. 300.000 Ukrainerinnen blieben in Italien. Und sie sind dort nicht krank. Nur vier Menschen starben.
Lassen Sie uns zu etwas Positivem kommen: Vielleicht spielen die Journalisten eine positive Rolle, über die Blogs und über das Internet. Das Internet ist in der Ukraine ja noch funktionsfähig. Vielleicht sind es die religiösen Menschen, die sich mehr adäquat verhalten und den Humanismus erhalten? Auf jeden Fall müssen die Menschen sich organisieren, um ihre sozialen Rechte zu verteidigen, damit es nicht — wie Sie sagen — zu einer völligen Diktatur kommt und die Macht das macht, was sie will.
Das ist eine zivilisatorische Herausforderung. Das ist eine Herausforderung für die Demokratien auf der ganzen Welt. Denn sogar das angeblich demokratische Deutschland und die demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika nutzen den Coronavirus, um die demokratischen Rechte und Freiheiten einzuschränken.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Mitglieder der neonazistischen Organisation C14 sollen für den Tod des ukrainischen Journalisten und Schriftstellers Oles Busina verantwortlich sein, der im Mai 2015 vor seinem Haus in Kiew erschossen wurde. Zwei Mitglieder von C14 wurden nach dem Mord von der Polizei festgenommen, dann jedoch freigelassen. Im Juni 2018 zerstörten Mitglieder der Organisation C14 ein Lager von Roma in einem Park von Kiew. https://www.youtube.com/watch?v=LWSSLasTfUs