Jeder Mensch, der das Licht der Welt erblickt hat, ist ein Mensch, der bereits etwas gelernt hat. Tatsächlich geht es gar nicht anders, denn Lernen ist schlicht und ergreifend eine unvermeidliche Folge menschlicher Wahrnehmung. Es ist ein inhärenter Drang, der in jedem von uns angelegt ist, ganz gleich ob, man später als „eingeschränkt lernfähig“ auf einer Hauptschule landet oder ob man als vermeintlich „Hochbegabter“ eine akademische Laufbahn einschlägt. Wir alle möchten uns die umliegende Welt erschließen, und wir alle tun dies auch auf unsere ganz eigene Art und Weise. Genau diesen Prozess nennt man Lernen – IQ hin oder her.
Angesichts dessen muten all die Synonyme, die sich im Laufe der Jahre für eben diesen zutiefst menschlichen Prozess bei uns eingebürgert haben, doch ziemlich befremdlich an: Da wären beispielsweise das „Büffeln“ oder das „Pauken“ zu nennen oder auch das besonders eigentümliche „Sich auf den Hosenboden setzen“. Was all diese Begrifflichkeiten vereint, ist die Vorstellung, dass ein so umfassender Vorgang wie das Lernen weitestgehend auf das Sitzen an einem Schreibtisch in Begleitung von Stift und Papier (beziehungsweise Zeigefinger und Tablet) reduziert werden könnte. Dass durch eine solche Interpretation der Ruf des Lernens gehörig in Mitleidenschaft gezogen wurde, erscheint da nicht weiter verwunderlich.
Es wäre also erfreulich, wenn sich dieser Interpretationsrahmen gesamtgesellschaftlich etwas weiten ließe. Dafür müsste jedoch weniger „gepaukt“ und wieder mehr „gelernt“ werden. Denn dort, wo die intrinsische Motivation, Neues zu erkunden, durch einen extrinsischen Zwang ersetzt wird, stirbt das jedem Lernen innewohnende Magische einen langsamen, qualvollen Tod.
Damit landen wir unweigerlich bei den Schulen. Schließlich sind sie es, die ohne jeden Zweifel die Rekordhalter der nationalen Büffelei darstellen und deren Lernmethoden oftmals als bulimieähnlich – also krankhaft – beschrieben werden. Doch warum die Schulen so sind, wie sie es heute sind, lässt sich nur verstehen, wenn wir sie als das begreifen, wofür sie von Anfang an geschaffen wurden: als Stützen der jeweils herrschenden Ordnung. Das war schon der Fall, als in Schulen der Priesternachwuchs herangezogen wurde, und das ist auch noch heute so, nur dass die katholischen Geistlichen durch ökonomische Geistliche im PISA-Gewand ersetzt wurden.
Die Jugend wird nun nicht mehr im Geiste des Herrn, sondern im Geiste des „freien Marktes“ zum willfährigen Homo Oeconomicus mit ausgefahrenen Ellenbogen großgezogen. Dass ein solch krankhaftes Wirtschaftssystem zur Selbsterhaltung auch krankhafter Bildungsmethoden bedarf, ist selbsterklärend.
Glücklicherweise gibt es Menschen, die mit aller Kraft versuchen, diesem ökonomischen Imperialismus etwas Gehaltvolles entgegenzusetzen. Margret Rasfeld ist einer von ihnen. Angetrieben von einer Vision „artgerechten Lernens“ hat sie zusammen mit Hirnforscher Gerald Hüther und Hochschullehrer Stephan Breidenbach die Initiative „Schulen im Aufbruch“ ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, eine Schule zu schaffen, in der die angeborene Begeisterung von Kindern und Jugendlichen nicht nur erhalten, sondern auch gefördert werden soll. Um das zu erreichen, werden alte Konzepte über Bord geworfen und in einem kooperativen Netzwerk neue Wege ausgetestet. So gibt es an Rasfelds Schule in Berlin-Mitte zwar keinen Frontalunterricht und keine Noten – bis zur Oberstufe –, dafür aber altersgemischte Klassen, projektbasiertes Lernen und Fächer mit exotischen Namen wie „Herausforderung“ oder „Verantwortung“.
Für ihren unermüdlichen Einsatz hat Margret Rasfeld inzwischen zahlreiche Preise erhalten, darunter den Berliner Naturschutzpreis und den Querdenker-Award. Die weitaus größte Wertschätzung dürfte jedoch die sein, dass die Bewerberanzahl die Kapazitäten ihrer Schule jedes Jahr um ein Vielfaches übersteigt. Im nachfolgenden Gespräch präsentiert sie ihre Sicht auf die heutigen Probleme und Herausforderungen im Bildungswesen und gibt Einblicke in ihre inspirierende Vision von der „Schule der Zukunft“.
Laurent Stein: Frau Rasfeld, in der Schule hieß es immer: Wer mit seinem Banknachbarn bei einer Klassenarbeit zusammenarbeitet, der bekommt eine Sechs. Heutzutage reden alle vom Zeitalter der Globalisierung und davon, dass wir auf allen Ebenen kooperieren müssen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Margret Rasfeld: Ja, das ist der totale Widerspruch. Erfolgreiche Unternehmen arbeiten schon lange in Teams. Unsere Welt wird immer komplexer und komplexe Dinge kannst du alleine gar nicht lösen. Hier in Potsdam gibt es ein interessantes Institut: Die „School of Design Thinking“. Dort treffen möglichst heterogene Teams aufeinander und werden vor Aufgaben gestellt, die sie unter Zeitdruck lösen müssen. Am Anfang scheiten sie total, weil viele Teammitglieder noch sehr stark auf ihr Ego fixiert sind. Nach etwa drei Monaten beginnen die Studenten jedoch, langsam ihre Denkweise zu ändern.
Am Ende entwickeln sie wunderbar kreative Dinge und stecken eine Menge Zeit und Aufwand in ihre Projekte. Der Leiter dieser Schule, Ulrich Weinberg, erzählt mir immer wieder, wie schwierig es ist, die Studenten aus dieser anfänglichen Egonummer herauszubekommen. Daran sehen wir, dass nicht nur die Schule, sondern auch die Universität, was Kooperation angeht, total zurückgeblieben ist. Meiner Meinung nach kann man einem Studenten keine universitäre Reife für eine Einzelarbeit geben. Bildung im 21. Jahrhundert bedeutet vielmehr, anspruchsvolle Aufgabenstellungen zu bekommen, die man nur im Team lösen kann. Doch leider kommt es heutzutage immer noch allzu häufig vor, dass wir die Lernenden – jeden für sich – irgendwelche Arbeitsblätter oder Klausuren ausfüllen lassen.
Glauben Sie, die aktuelle globale Situation, bei der sich die Nationalstaaten zunehmend auf sich selbst zurückziehen, hängt auch damit zusammen, dass wir in der Schule Kooperation nur mangelhaft gelernt haben?
Ich glaube, das hängt mehr mit der generellen Unsicherheit in unserer komplexen Welt zusammen, in der jeder zunächst seine eigenen Pfründe sichern will. Außerdem wollen wir nicht vergessen, dass es einen großen Graben zwischen den Politikern und der Volksmeinung gibt. Beispiel Glyphosat: Da marschiert so ein Minister nach Brüssel und stimmt in unser aller Namen für die Verlängerung des Einsatzes eines Stoffes, von dem wir inzwischen genauestens wissen, wie giftig er ist und dessen Genehmigung ein Großteil der Bevölkerung ablehnt.
Die politischen Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben, kann man nicht auf eine feste Ursache zurückführen. Ich gebe dir aber insofern recht, dass unser selektives Schulsystem Gift für den Zusammenhalt in der Gesellschaft ist und Grundlagen für Rassismus legt. Spätestens ab Klasse Vier wird in Gewinner und Verlierer, in Gut und Schlecht unterteilt. Das prägt den Geist einer Gesellschaft.
Was sind ihrer Meinung nach die wichtigsten Kompetenzen, die wir unseren Kindern vermitteln müssen, damit sie zu Persönlichkeiten heranwachsen, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind?
Wichtig ist, dass unsere Kinder ein gesundes Vertrauen in sich selbst gewinnen und die Erfahrung machen, etwas bewirken zu können. Der Soziologe Aaron Antonovsky hat nach dem Zweiten Weltkrieg bahnbrechende Studien durchgeführt, in denen er sich der Frage gewidmet hat, was einen Menschen gesund hält. Dabei herausgekommen sind drei sogenannte salutogenetische Grundfaktoren: Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit und Sinn.
Verstehbarkeit, weil wir die Dinge um uns herum einordnen möchten und das Gefühl haben wollen, sie bewältigen zu können.
Gestaltbarkeit beziehungsweise Partizipation ist ein weiteres menschliches Grundbedürfnis. Wir möchten beteiligt sein, statt fremdbestimmt. Und Sinn, da wir alle Sinnsuchende sind. Wer bin ich? Was kann ich? Jeder möchte sein Herzensprojekt finden, egal ob das jetzt Musiker oder Mathematiker heißt.
Sind diese drei Grundbedürfnisse gedeckt, spricht man von einem Kohärenzgefühl.
Heute sind wir vollkommen verunsichert. Schon während der Schwangerschaft haben die angehenden Mütter den Kopf voller Fragen. Mache ich jetzt Yoga oder lieber Tai-Chi? Mit oder ohne Partner? Wir haben Tausende Ratgeber, aber gleichzeitig den Zugang zu unserer Intuition verloren. Nach der Geburt werden die Kinder dann geformt. Sie müssen diese und jene Erwartungen erfüllen. Doch genau hier liegt die Krux: Kinder spüren, ob sie geliebt werden, für das, was sie schon sind, oder ob sie erst Erwartungen erfüllen sollen, um geliebt zu werden.
Wir – egal ob Eltern oder Lehrer – dürfen Kinder nicht zu Objekten von Erwartungen machen. Vielmehr müssen wir ihnen dabei helfen, Menschen zu werden, die wissen, wer sie sind, was sie können und wo sie hinmöchten. Damit Kinder dieses Vertrauen in sich gewinnen, benötigen sie Menschen um sich herum, die an sie glauben und Potenziale in ihnen sehen, von denen sie womöglich noch gar nichts wissen.
Potenzialentfaltung klingt nach einem ziemlich individuellen Ansatz. Wie individuell kann Bildung aber sein, wenn sich Lehrer ständig an Lehrpläne halten müssen, die sie zum einen unter Druck setzen – „Wir müssen den Lehrplan durchbekommen!“ – und sie zum anderen ihrer Gestaltungsfreiräume berauben? Muss man sich in Zukunft womöglich ein Stück weit von den klassischen Lehrplänen lösen?
Eigentlich ist der Lehrplan nur ein kleiner Teil eines weitaus größeren Problems. Denn es ist nicht so, dass in den Lehrplänen Dinge wie projektbasiertes oder interdisziplinäres Lernen nicht drinstehen würden. Sie kommen eben nur äußerst selten zur Anwendung. Das liegt am Fächerkorsett, dem durchgetakteten Stundenplan, der ein Überbleibsel aus dem Industriezeitalter darstellt. Teils gibt es ja noch 45-Minuten-Stunden - ein Wahnsinn. Das müsste man sich mal in der Arbeitswelt vorstellen. Was würde dort wohl dabei rauskommen, wenn die Leute alle 45 Minuten aufspringen und etwas völlig anderes machen würden?
Der Lehrer aber läuft von Klasse A nach B nach C nach D und hat die Aufgabe, über 100 Schüler individuell zu fördern, sie wertzuschätzen, sie für Lernen zu begeistern und ihnen in kürzester Zeit etwas beizubringen. Wer bei dem Tempo nicht mitkommt, der hat Pech gehabt. Nach Schulschluss soll der Lehrer dann für den nächsten Tag Unterrichtsstunden vorbereiten und außerdem noch Klassenarbeiten korrigieren. Der einfachste Ausweg aus dieser Sackgasse: sich am Buch orientieren und mit den dazugehörigen Arbeitsblättern arbeiten. Die Eltern befeuern diese Entwicklung noch, indem sie sich von der Hetze anstecken lassen und ihre Kinder fragen, auf welcher Seite denn die Parallelklasse ist und wie es denn sein kann, dass man im Lehrbuch so weit hinten dran ist.
Lehrer haben auch im jetzigen System mehr Freiheiten, als die meisten sich nehmen. Das ist aber mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden. Besser wäre es also, mit dem Zerhacken des Stundenplans aufzuhören. So könnten wir den Kindern die Zeit geben, sich Dinge selbst zu erarbeiten, eigenen Fragen nachzugehen, sich für Themen zu begeistern und schlussendlich auch Verantwortung zu übernehmen. Dass das funktioniert, sehen wir an Schulen, die schon heute anders arbeiten.
Sie schreiben in Ihren Büchern, dass es nicht nur den einen Lehrplan mit dem zu vermittelnden Lehrstoff gebe, sondern auch noch einen weiteren „heimlichen“ Lehrplan. Was hat es damit auf sich?
Wir wissen, dass der Einfluss von Schule, was die Wissensvermittlung angeht - gemessen an der Zeit, die wir in ihr verbringen - äußerst dürftig ist. Vieles wird wieder vergessen. Im Gegensatz dazu hat Schule aber einen sehr großen Einfluss auf unsere Einstellungen und Haltungen. Das ist das Ergebnis des „heimlichen Lehrplans“. Er setzt sich aus Werten und Normen zusammen, die zwar nirgendswo festgeschrieben sind, den Beteiligten aber durch die Organisationsstruktur und Funktionsweise der Schule unterbewusst vermittelt werden.
Wir sollten uns einmal fragen, wie sich die Kinder in der Schule erleben. Ist ihr Verhältnis mit den Lehrern auf Augenhöhe oder ist es von Hierarchie geprägt? Haben sie das Gefühl, etwas mitgestalten zu können?
Meiner Erfahrung nach wird zumeist Bulimielernen praktiziert: Stoff reinziehen, für den Test ausspucken, vergessen. Dabei lernt die Person nicht für sich selbst, sondern für den Test und die Note. Die sinnstiftende Komponente bleibt auf der Strecke ebenso wie die Freude am Lernen.
Auch unser strikter, defizitorientierter Kontrollgeist prägt junge Menschen nachhaltig. Ständig müssen sie sich in verschiedenen Prüfungsformen beweisen. Schon in der vierten Klasse dreht sich alles um die Frage, ob ein Kind „gut genug“ ist für den Besuch des Gymnasiums. Die Folge ist eine tief verankerte Angst vor Fehlern. Lieber sagt man gar nichts, solange man sich nicht sicher ist, ob die Antwort auch zu 100 Prozent richtig ist. Das hemmt einen Menschen und ist fatal für eine sich transformierende Gesellschaft, in der es darauf ankommt, loszulassen und Vertrauen in das Ungewisse zu entwickeln.
Diesen „heimlichen Lehrplan“ anzutasten, könnte schwierig werden. Mal angenommen, man würde die schulischen Strukturen dahingehend auflockern, dass sie allen Beteiligten mehr Mitbestimmungsrecht einräumen. Die Chancen stünden gut, dass da am Ende Menschen dabei herauskommen, die dieses Prinzip auf die ganze Gesellschaft ausweiten möchten. Muss man hier nicht mit Widerstand seitens derer rechnen, die sich in den gegebenen Strukturen bequem eingenistet haben?
Wir erleben zurzeit, angesichts der digitalen Transformation, einen hohen Veränderungsdruck auf Unternehmen. Digitalisierung und Globalisierung zwingen sie agil und anpassungsfähig mit dem Fluss der Zeit zu gehen. Dafür brauchen sie Mitarbeiter mit Eigeninitiative, Verantwortungs- und Veränderungsbereitschaft.
Ob sie solche Mitarbeiter aber auch bekommen, hängt unmittelbar mit dem Bildungssystem zusammen. Das ist eine Brücke im Denken, die viele noch nicht geschlagen bekommen. Die Schule ist als Bild dermaßen festgefroren, dass es den meisten Leuten total schwerfällt, sich etwas völlig Neues vorzustellen.
Nun stehen Unternehmen aber unter dem wirtschaftlichen Druck sich verändern zu müssen! Sie brauchen dringend verantwortungsbewusste junge Leute, die selbstbestimmt die Dinge in die Hand nehmen. Und wenn sie die wirklich guten Leute kriegen wollen, ist „Top-down“ keine denkbare Organisationsstruktur mehr. Das machen die Jungen nicht mehr mit. Genau hier überschneiden sich die Leitbilder einer Wirtschaft der Zukunft mit denen einer Gesellschaft der Zukunft. Insofern könnte dies dazu führen, dass gerade seitens der Wirtschaft ein offeneres Bildungssystem gefordert wird.
Reden wir weiter über Ihre Vision von einer „Schule der Zukunft“. Ein großes Problem, mit dem ich während meiner Schülerlaufbahn zu kämpfen hatte, war, dass ich mich oftmals nicht motivieren konnte aufzupassen, weil die meisten Themen keinen Bezug zu meiner persönlichen Lebenswelt hatten. Wenn wir beispielsweise in Mathe ein neues Thema angefangen haben, kreiste zumeist der Gedanke „Ach das brauche ich sowieso nie“ über mir. Müsste man Themen nicht auch greifbarer gestalten, sodass die Verbindungslinien zur realen Welt offensichtlicher werden?
Das ist die Frage nach dem Sinn, jeder Schüler stellt sie sich. Und wenn ein Schüler auf diese Frage keine Antwort findet, dann hat das Lernen schlechte Karten. Die einstige intrinsische Motivation, Dinge verstehen zu wollen, verwandelt sich in einen äußeren Zwang. Die Kreativität bleibt dabei als Allererstes auf der Strecke.
Das muss aber nicht sein! Man kann so viele tolle Dinge in der Schule machen und dabei auch noch Spaß haben. Übrigens behält man sie dann auch viel besser. Ich habe zum Beispiel einen Bekannten, der bietet Zaubermathe an. Klingt vielleicht komisch, aber es funktioniert! Daraus schließe ich: Unser Lernen ist zu künstlich, zu monoton. Sehen wir uns doch einmal kleine Kinder an, die gerade eine Sprache lernen. Was fällt auf? Sie füllen keine Grammatikblätter zum Futur II aus! 75 Prozent unseres Lernens ist informeller Natur. Es erfolgt situativ und wurde nicht groß im Voraus geplant. Daran sollten wir uns vermehrt orientieren.
Wenn wir schon dabei sind, welche Voraussetzungen müssen denn noch grundsätzlich erfüllt sein, damit Lernen gelingt?
Zunächst einmal muss ein Schüler seinen eigenen Fragen nachgehen dürfen. Dies umzusetzen, ist gar nicht so schwierig. Ein einfaches Beispiel: In einer Unterrichtsstunde soll es um Tiere gehen. Eine Möglichkeit wäre, mit dem Buch zu arbeiten. Dann sehen die Schüler: Aha, der Hund, die Katze, der Vogel. Man könnte ihnen aber auch den Arbeitsauftrag geben, sich und die Klasse über ihr Lieblingstier zu informieren. Eine völlig andere Motivationsgrundlage! Die tragen dir alles zusammen, was sie finden können und bringen sogar meistens noch das Tier in die Schule mit. Dann ist richtig Leben in der Bude und ein Wissensschatz vorhanden, der weit über den des Lehrers hinaus geht.
Darüber hinaus ist die in der Klasse vorherrschende Atmosphäre entscheidend. Die Schüler müssen sich angenommen fühlen und darauf vertrauen können, sich bei Fragen jederzeit an die Mitschüler oder den Lehrer wenden zu können. Das ist so unglaublich wichtig, weil Lernen niemals alleine stattfindet. In diesem Zusammenhang spielt die Art und Weise, wie Feedback geäußert wird, eine tragende Rolle. Wir sollten weniger *be*werten und stattdessen mehr *wert*schätzen. Meiner Meinung nach ist es ein Unding, wenn ein junger Mensch, der sich total bemüht hat, am Ende womöglich alles rot angestrichen bekommt.
Es gäbe noch viele weitere Punkte, die einen positiven Einfluss auf das Lernen haben und sich hier auflisten ließen. Anregende Klassenräume zum Beispiel. Oder auch die Erkenntnis aus der Lernforschung, dass es unheimlich wichtig ist, seinem eigenen Lernweg folgen zu dürfen. Kein Gleichschritt! Der eine lernt ein neues Thema in Mathe schneller, der andere etwas langsamer. Aber lernen kann es jeder!
Inwieweit ist es Aufgabe der Schule, jungen Menschen eine Orientierungshilfe zu geben? Viele Schüler, die heute die Schule verlassen, wissen danach nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Dann wird erst mal ein Jahr „gechillt“, weil man sich von den vorherigen Strapazen erholen muss.
Das ist eigentlich eine ihrer Hauptaufgaben. Die Schule muss einen Menschen dahingehend bilden, dass er ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Ich frage mich aber, wie das funktionieren soll, wenn man die ganze Zeit fremdbestimmt arbeitet. Es ist nur logisch, dass die jungen Leute da am Ende vor einem Loch stehen. Sie haben ihr Abitur gemacht, stehen vor unzähligen Möglichkeiten, doch haben keine Ahnung, wohin sie eigentlich gehen wollen. Die Schule versagt hier, weil sie kein Ort ist, an dem sich die Schüler selber kennenlernen, sondern einer, an dem sie fremde Erwartungen erfüllen müssen.
Ich übertrage Ihre Ideen gerade gedanklich auf Universitäten. Ohne generalisieren zu wollen, sagt mir mein Gefühl, dass wir auch dort von einem solchen Ideal der Potenzialentfaltung noch ziemlich weit entfernt sind.
Mit der Bologna-Reform, der Regelstudienzeit et cetera ist alles noch einmal stärker verschult worden. Die Pflichterfüllermentalität ist an den Unis besonders stark ausgeprägt. Ich kenne durchaus Profs, die ihre Angebote abwechslungsreicher und lebendiger gestalten wollen. Wenn sie das machen, ist oft das Erste, was die Studenten ihnen entgegnen: „Bekomme ich Punkte dafür?“. Durch die jahrelange Indoktrination in der Schule wollen viele lieber ein Referat halten und ihre Punkte eintüten, anstatt neue Erfahrungen zu sammeln.
Es ist ganz offensichtlich, dass sich die Universitäten genauso ändern müssen, wie die Schulen. Ein erster Schritt wäre zum Beispiel, den Numerus clausus abzuschaffen, weil er die jungen Leute schon ab der Oberstufe ins Hamsterrad treibt.
Gleichzeitig sollten wir uns aber nicht auf einzelne Änderungen versteifen, sondern unser Lernsystem als Ganzes überdenken. Aktuell ist es viel zu sehr darauf ausgerichtet, unserem wachstumsbasierten Wirtschaftssystem als Fundament zu dienen. Das Wachstum aber stößt an seine Grenzen, und immer mehr Leute haben mit den Nebenwirkungen dieses Systems, wie Burnout und Depressionen zu kämpfen. Aus dieser Erkenntnis heraus sollten wir schleunigst ins Handeln kommen.
Wenn Sie Kultusministerin wären und von heute auf morgen eine konkrete Änderung im Schulsystem vorantreiben könnten, welche wäre das?
Ich würde zunächst einmal mit Kindern eine Vision der „Schule der Zukunft“ entwickeln und dann mit ihnen durch das Land ziehen, um diese Vision nach außen zu tragen. Sie könnten dann in Kontakt zu verschiedensten Berufsgruppen treten und mit diesen gemeinsam die Vision verfeinern. Weil, seien wir ehrlich: Das Alte zu reformieren, da hat doch keiner mehr Bock drauf. Es muss uns gelingen, die Leute für das Neue zu begeistern, und dafür müssen wir alle mit ins Boot holen.
Danach würde ich denjenigen Schulen, die bereit sind, ihr System von Grund auf zu überdenken, ein Unterstützungsnetzwerk zur Seite stellen, in welchem sie ihre Erfahrungen austauschen können. Es wird nicht klappen, ein ganzes Land auf einen Schlag zu verändern. Doch Schritt für Schritt ist – mit der nötigen Geduld – in gemeinschaftlicher Arbeit vieles möglich.
Daran anknüpfend, würde ich noch sogenannte „Peer-Education-Modelle“ in den Schulalltag integrieren. Das können beispielsweise Jugendliche sein, die an Grundschulen gehen und dort an schulübergreifenden Projekten arbeiten. Die könnten zum Beispiel lauten: Wie können wir unser Schulessen gesünder gestalten? Wie können wir unseren Plastikmüll minimieren?
Die Schüler könnten auch den KFZ-Mechatroniker-Papa eines Klassenkameraden besuchen und mit ihm gemeinsam ein Auto auseinanderschrauben. Oder Oma und Opa kommen in der Schule vorbei und geben ihre Lebenserfahrung weiter. Wenn wir eine bessere Schule für unsere Kinder wollen, ist jeder gefragt. Nicht das Kultusministerium oder einzelne Lehrer, sondern wir alle zusammen müssen uns auf den Weg machen.
Frau Rasfeld, ich wünsche mir, dass Sie viele Ihrer Kollegen mit Ihrem Elan und Ihrer Begeisterung anstecken. Danke für Ihre Zeit!