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Beziehung statt Erziehung!

Beziehung statt Erziehung!

Um sie zu „brauchbaren“ Menschen zu formen, fügt die Pädagogik jungen Menschen schweren Schaden zu.

Michael Hüter, Kindheitsforscher und Historiker, beschreibt in seinem Buch „Kindheit 6.7.“ eine Zeit, in der Menschen — ob jung oder alt — gleichwürdig im „Familienverband“ eine Zugehörigkeit hatten. Eine Zeit, in der es noch keine Krippen, Kindergärten oder Schulen gab, sondern junge Menschen entsprechend ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung ganz selbstverständlich in der Sippe eingebunden waren. Es gab keine Kinderwägen oder Kinderbetten — es fehlte schlichtweg der Begriff „Kind“ und somit auch das Bewusstsein, dass die „Kindheit“ eine besondere Entwicklungszeit ist, die einer besonderen Aufmerksamkeit seitens der Erwachsenen bedürfe.

Da ich keine Historikerin bin, sondern Traumatherapeutin, ist meine „Brille“ verständlicherweise etwas anders „eingefärbt“ als die von Michael Hüter.

Daher weiß ich nicht, ob den jungen Menschen in grauer Vorzeit Achtung und Würde entgegengebracht wurde — Lloyd deMause erzählt in „Hört ihr die Kinder weinen“ eine andere Geschichte als Ariès Philippe in „Die Geschichte der Kindheit“.

Seit der „Entdeckung der Kindheit“ wurde das Kind zum Erziehungsobjekt

Michael Hüter beschreibt in „Kindheit 6.7.“ schonungslos was wir jungen Menschen antun und wie viele von ihnen körperlich und psychisch leiden — auch wenn das augenscheinlich in unserer „Überflussgesellschaft“ nicht so wirken mag.

Die „Entdeckung der Kindheit“ war kein Gewinn für junge Menschen, heute müssen wir sogar vom Gegenteil ausgehen. Mit Einzug der Pädagogik wurde der junge Mensch zu einem „Mangelwesen“ erklärt; er wurde seiner Subjekthaftigkeit enthoben und fortan zu einem Objekt und zum Opfer der unterschiedlichsten Erziehungsideologien, die bis heute anhalten und immer absurdere Ausmaße annehmen.

Die „Antipädagogik“ — begründet von Ekkehard von Braunmühl — verhallte ungehört in unserem kapitalistischen System, das nur durch Konkurrenz, Ausbeutung und betäubenden Konsum aufrechterhalten werden kann.

Ekkehard von Braunmühl schrieb 1978 in seinem Buch „Zeit für Kinder“:

„In den reichen Staaten des Westens waren (…) zu keiner Zeit die wirtschaftlichen und politischen Zustände für eine glückliche Kindheit günstiger: Hunger und Krankheiten sind weitgehend gebannt, die Winter haben ihre Schrecken verloren, es gibt mehr und bessere Wohnungen denn je, die Eltern haben mehr Freizeit, mit der Familienplanung steigt die Zahl der Wunschkinder, der letzte Krieg ist fast vergessen, Kinderarbeit längst abgeschafft, Kinderzimmer, Kindergärten und Schulen strotzen von förderlichem Lernmaterial wie Verfassungen, Gesetze, Bildungspläne von kinderfreundlichen Vorsätzen: Das Wohl des Kindes erhält mehr Vorrang, die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird garantiert, die Würde des Menschen ist unantastbar, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und andere vielversprechende Begriffe haben Hochkonjunktur — es könnte, sollte, müsste eine reine Lust sein, als Kind in dieser Zeit zu leben“ (1).

Die Realität zeichnet ein anderes Bild, wie es von Michael Hüter in dem Gespräch mit Rüdiger Lenz beschrieben wird: Noch zu keiner Zeit gab es so viele „auffällige“ Kinder, noch zu keiner Zeit gab es eine so hohe Suizidrate bei jungen Menschen. Jedes zweite Kind hat, laut Hüter, eine chronische Krankheit, ein Prozent der Kinder hat inzwischen Krebs, jedes vierte Kind braucht eine Therapie, weil es an Depressionen leidet. Ebenfalls steigen die Drogen-, Alkohol- und Kriminalitätsraten in allen westlichen Ländern.

Bei Ekkehard von Braunmühl konnten wir schon 1978 lesen, dass trotz der verbesserten äußeren Lebensbedingungen irgendwie und irgendwo der Wurm drin ist: Kinder- und Jugendkriminalität, Kinder- und Jugendalkoholismus, Kinder- und Jugendselbstmorde, Drogenprobleme, Gewalttätigkeiten und Verhaltensstörungen — ein Unwort laut von Braunmühl — sind die Signale von unterdrückten, misshandelten, in ihrer Würde geschändeten Kindern und Jugendlichen.

Die Kinder und Jugendlichen der 70er, 80er und 90er Jahre sind die Eltern der jetzt lebenden Kinder und Jugendlichen.

Eine unverarbeitete traumatisch erlebte Kindheit verschwindet nicht so einfach, im Gegenteil: Die Situation für die nachfolgende Generation verschlimmert sich.

Wurde in den vergangenen Generationen mit harten Strafen, mit körperlicher Gewalt oder mit Abschiebung in eine „Erziehungseinrichtung für schwer erziehbare Kinder“ auf die „Verhaltensstörungen“ reagiert, profitieren heute die Pharmaindustrie, die vielen Therapieeinrichtungen für Kinder oder Kinderkliniken wie in Gelsenkirchen.

Erziehung gelungen — Kind kaputt

Der Beginn der Industrialisierung ist die Wurzel des heutigen Kapitalismus. In einem funktionierenden Kapitalismus müssen Menschen zur Ware werden:

„Was heute so selbstverständlich erscheint, war zu Beginn der Industrialisierung noch etwas Ungeheuerliches; denn, dass es einen Markt für menschliche Arbeit geben sollte, bedeutete nichts anderes, als dass der Mensch selbst zur Ware werden musste“ (2).

Damit Menschen auf einem Arbeitsmarkt gehandelt werden können, dürfen sie keinerlei Bindungen an Orte, Menschen oder Kulturen haben, die ihre Verfügbarkeit einschränken könnten.

Die „Erfindung der Kindheit“ und somit die Erziehung — möglichst durch geschulte Pädagogen in entsprechenden Institutionen — ist die beste Erfindung, die diese Voraussetzungen schafft. Damit die Mütter möglichst schnell wieder dem „Markt für menschliche Arbeit“ zur Verfügung stehen, ist eine Frühbetreuung — möglichst schon wenige Wochen nach der Geburt — unabdingbar. Säuglinge werden fremden Menschen anvertraut, die sie nicht lieben, sondern „verwalten“. Nach der Krippe folgt der Kindergarten und nach dem Kindergarten die Schule.

Michael Hüter macht in dem Gespräch darauf aufmerksam, dass Eltern, die ihre Kinder in einer Einrichtung lassen, nicht wissen, was dort geschieht. In dem vor kurzem erschienenen Buch von Anke Elisabeth Ballmann „Seelenprügel — Was Kindern in Kitas wirklich geschieht und was wir dagegen tun können“ heißt es:

„(…) Gewalt ist institutionalisiert und findet in zahlreichen Kinderkrippen und Kindergärten statt. Den größten Anteil der Gewalt an Kindern stellt dabei die psychische Gewalt dar (…). Das heißt, Kinder werden eingeschüchtert, gedemütigt, zurückgewiesen, beleidigt, erpresst, feindselig behandelt, verängstigt, ausgegrenzt, lächerlich gemacht, bedroht, isoliert und ignoriert“ (3).

Auch wenn die „Erziehung“ gelingen sollte und sich die jungen Menschen einfügen, unterordnen und in dieses mörderische System „einspeisen“ lassen, nimmt ihre Psyche und ihre Bindungsfähigkeit einen enormen Schaden.

Hören wir doch endlich damit auf, die jungen Menschen zu verurteilen, ihnen Konsumgeilheit und Smartphone-Hörigkeit vorzuwerfen und nehmen endlich uns selbst in die Verantwortung.

Niemand kann heute mehr sagen — so wie es meine Eltern noch konnten —: „Wir wussten es halt nicht besser, wir dachten, Kinder brauchen eine ‚gute‘ Erziehung“.

Für eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung brauchen unsere Söhne und Töchter psychisch gesunde Eltern, die eine gesunde Liebes- und Bindungsfähigkeit entwickeln konnten.
Allerdings sind Menschen mit diesen Qualitäten als „Humankapital“ nicht zu gebrauchen, weder lassen sie sich auf einem Arbeitsmarkt versklaven noch in einen Krieg hineinziehen, und konsumsüchtig werden sie auch nicht. Franz Ruppert sagt:

„Ein Mensch, der sich seinen eigenen schmerzvollen psychischen Realitäten stellt, kann nicht totalitär und noch nicht einmal autoritär sein. Er wird keine Systeme ins Leben rufen und am Laufen halten, die der Mehrheit der Menschen Elend, Versklavung und Tod bringen. Er braucht keine äußeren Feinde, um sich von seinem inneren Terror abzulenken. Wer anfängt, Mitgefühl mit sich selbst zu haben, hat es auch für andere. Er kann wieder klar zwischen Opfersein und Tätersein trennen — in sich selbst wie im Außen“ (4).

Das Gespräch, das Rüdiger Lenz mit Michael Hüter führte, hilft hoffentlich vielen Eltern, zu realisieren, was mit ihren Kindern geschieht beziehungsweise was sie geschehen lassen.

Wenn wir als Gesellschaft wirklich einen Wandel zu einem friedvollen Miteinander wollen, müssen wir damit aufhören, unsere Kinder zu erziehen und in pädagogische Einrichtungen zu sperren.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Ekkehard von Braunmühl, Zeit für Kinder, Tologo-Verlag
(2) Scheidler, Fabian. Das Ende der Megamaschine: Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Promedia-Verlag
(3) Ballmann, Anke Elisabeth. Seelenprügel: Was Kindern in Kitas wirklich passiert. Und was wir dagegen tun können. Kösel-Verlag.
(4) Franz Ruppert, Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft, Klett-Cotta Verlag

Weiterführende Literatur: https://kenfm.de/m-pathie-michael-hueter

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