Wenn ich in die Vergangenheit zurückblicke, wenn ich meine Gegenwart betrachte oder an die Zukunft denke, bin ich von einem starken Gefühl der Angst beherrscht. Sie hat mein Leben seit März 2020 wie kein anderes Gefühl bestimmt. Das ist für mich eine neue Erfahrung.
Dies nicht etwa, weil mir Angstgefühle bis dahin fremd gewesen wären, ganz im Gegenteil. Doch die Ängste, die ich kannte, waren ganz anderer, im Grunde banaler Art. Ich erinnere mich zum Beispiel an Schulangst, die mich jahrelang belastete, die ich aber irgendwann überwand. Oder an die Angst vor einer Prüfung an der Uni: Sie konnte mich zeitweise beherrschen, hat mich aber nicht gelähmt, eher angespornt. Und sie war regelmäßig verflogen, sobald ich die Prüfung absolviert hatte. Zudem hing mir dieses spezifische Angstgefühl in keiner Weise nach. Ich konnte mich später kaum mehr an solche Phasen der Anspannung erinnern, also die einstigen Gefühle nicht mehr in mir wachrufen.
Dann war (und ist) da die Angst, beruflich zu versagen, die vermutlich jeder Autor kennt, der regelmäßig an größeren Texten arbeitet und von der Befürchtung geplagt wird, er könne scheitern, also sein Werk nicht vollenden. Oder die Angst um andere Menschen, etwa die Kinder, die vielleicht irgendwo unterwegs sind, längst überfällig, aber nicht erreichbar. Etwas anders und ernster verhielt es sich vor vielen Jahren mit der Angst vor dem morgendlichen Gang ins Büro. Ich wusste, dass mein Chef mich schikanieren und einige Kollegen mich mobben würden.
Mir ist natürlich bekannt, dass wenige große Grundformen der Angst (1) existieren, denen man die gerade beschriebenen „kleinen“ Ängste zuordnen kann. Oder umgekehrt: dass das Ausweichen vor einer der großen Grundformen solch „kleinere“ Ängste hervorrufen kann. Ebenso weiß ich, dass es da die Unterscheidung zwischen Furcht und Angst gibt, zum Beispiel bei Sören Kierkegaard (2).
Im Allgemeinen sagt man, dass die Furcht eine Reaktion auf konkrete, bestimmbare, von außen kommende Gefahren sei, denen man entgegentreten könne (3). Die Angst hingegen sei ein schwer fassbarer und im Hinblick auf seine Ursachen eher diffuser Zustand: die schmerzhafte Erwartung einer Gefahr, die man nicht genau definieren kann und die allgemeine Unsicherheit hervorruft, einen Zustand des Angsthabens. Angst ist schwerer zu ertragen als Furcht; sie drückt sich in einer heftigen Krise aus. Furcht wird mit Entsetzen, Schauder und Schrecken assoziiert, Angst mit Besorgnis, Beunruhigung, Melancholie.
Wenn man den Begriff Furcht außen vor lässt und nur mit dem der Angst arbeitet, kann man eine analoge Unterscheidung zwischen Realangst und neurotischer Angst treffen. Realangst steht ― wie die Furcht ― für die Bedrohung durch ein äußeres Objekt, neurotische Angst wirkt dagegen von innen heraus, wird durch das Ich hervorgerufen. Die Unterscheidung zwischen beiden Angstformen ist in der Theorie leichter als in der Praxis, zumal auch die neurotische Angst in der Regel sehr wohl eine reale Basis hat. Sie kann zudem durch Realängste verstärkt werden.
Oder die Realängste nehmen einen Umweg über das Unbewusste und kommen als neurotische Ängste wieder zum Vorschein (4). Neurotische Angst kann die Gestalt einer depressiven Angst oder einer Verfolgungsangst annehmen. Man hat auch davon gesprochen, dass die neurotische Angst als Entfremdungsangst begriffen werden könne (5). Bei der Angst, von der ich im Folgenden spreche, handelt es sich nach meiner Wahrnehmung immer um ein Zusammenspiel von Realangst und neurotischer Angst.
Die Angst, die ich seit der Coronakrise empfinde, ist für mich etwas völlig Neues. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich meiner, ich verspürte einen permanenten Druck, ein schmerzhaftes Gefühl in der Bauchgegend, das sich ständig, Tag und Nacht, bemerkbar machte. Ich litt immer wieder unter Panikattacken. Ich fand keinen ruhigen Schlaf, hatte Albträume, wachte nachts schweißgebadet und mit Herzrasen auf, fürchtete mich vor dem kommenden Tag. An manchen Tagen war ich wie gelähmt, vermied Bewegung oder körperliche Anstrengung, traute mich nicht vor die Tür, nicht einmal zum Briefkasten. Und wenn ich denn doch aus irgendeinem Grund „unter Leute“ gehen musste, kostete es mich große Überwindung und viel Kraft.
Die Anspannung war zum einen durch den Istzustand verursacht, ergab sich aber zum anderen immer auch aus düsteren Ahnungen: Was wird als Nächstes kommen? Was werden sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten jetzt wieder einfallen lassen?
Wie soll ich reagieren, wenn sie dies tun ― wie reagieren, wenn sie jenes beschließen? Warum lässt man mir keine Ruhe? Zeitweise ging ich den tagesaktuellen Nachrichten aus dem Weg, weil sie meine Nerven zu sehr strapazierten.
Wie gesagt, ich wusste mir nicht zu erklären, warum mich diese Form der Angst befallen hatte, zumal ich überzeugt war, dass meine Ichwerdung, meine Individuation, erfolgreich verlaufen war, ich also eine recht stabile und starke Persönlichkeit ausgebildet hatte. Ich lege großen Wert auf meine individuelle Autonomie und Freiheit und litt bis dato in keiner Weise darunter, dass ich mit meinen politischen Ansichten meist zu einer kleinen Minderheit gehörte, dass mich mein Individualismus also möglicherweise zum gesellschaftlichen Außenseiter stempelte. Politisch „nicht anschlussfähig“ zu sein, war für mich nichts Ungewöhnliches. Damit kam ich klar.
Auch einschneidende Ereignisse und Erlebnisse in der Frühphase der Pandemie, die mich konsternierten und beinahe in die Verzweiflung stürzten, halfen mir in meiner Selbstanalyse nicht auf die Sprünge. Ein solch einschneidendes Ereignis war die im vorangegangenen Kapitel schon angesprochene Einführung der Maskenpflicht im Frühjahr 2020. Zum damaligen Zeitpunkt war ich fest davon überzeugt, dass diese neue Vorschrift zum Rohrkrepierer werden müsste.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie etwa in den öffentlichen Verkehrsmitteln großer Städte wie Berlin oder Hamburg befolgt würde. Eine beachtliche Minderheit würde sich verweigern, da war ich mir sicher. Es würde zu einem verbreiteten und ganz selbstverständlichen Ignorieren der Maskenpflicht kommen. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, so meine waghalsige Schätzung, würden sich auf keinen Fall fügen ― und damit hätte sich die Sache erledigt.
Es kam bekanntlich anders. Und es kam auch in den folgenden Monaten immer wieder anders ― was meine resignative Tendenz nur verstärkte. Felicitas Rabe hat in einem lesenswerten Artikel rekonstruiert, wie im Zuge der Coronakrise in einem munteren Wechselspiel mal die Schraube angezogen, dann wieder gelockert wurde, unterm Strich und übers Jahr betrachtet aber ein eindeutiger Trend hin zur Verschärfung zu beobachten war (6).
Jedoch: Keine dieser staatlich-administrativ verordneten Zwangsmaßnahmen wurde zum Casus Belli. Letztlich wurde jede von ihnen ― wenn erforderlich, auch gegen Widerstände ― durchgesetzt und von großen Teilen der Bevölkerung ohne Murren und mit oft beachtlicher innerer Zustimmung mitgetragen. Es ist zwar eine Protestbewegung gewachsen, und Meinungsumfragen zeigen, dass inzwischen ein relevanter Teil der Bevölkerung „die Schnauze voll hat“, so der hessische Ministerpräsident bei einer internen Parteiveranstaltung. Dennoch verhalten sich die allermeisten Menschen im Großen und Ganzen weiterhin angepasst und diszipliniert. Von nennenswerten Aktionen des zivilen Ungehorsams ist nicht zu berichten.
Vor einigen Monaten wurde mir nun klar, woher meine Angstzustände rührten. Ich wurde mir darüber bewusst, was mir zu schaffen machte.
Wohl zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich einen hohen Preis für meine Freiheit zahlen musste. Ich hatte mich zwar schon öfter politisch allein, einsam, isoliert gefühlt, aber jetzt stellte sich dieses Gefühl dauerhaft ein und zudem mit einer Intensität, die mir bis dahin unbekannt war.
Ich kam mir verloren vor, aus der Zeit gefallen, fremd im eigenen Land. Meine Angst war politisch begründet. Ich empfand politische Angst.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Fritz Riemann, Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München/Basel 1986.
(2) Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Übersetzt, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Hans Rochol, Hamburg 1984.
(3) Vergleiche hierzu und zum Folgenden: Franz L. Neumann, Angst und Politik (1954), in: Derselben, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930 bis 1954. Herausgegeben von Alfons Söllner, Frankfurt am Main 1978, Seite 424 bis 459, hier Seite 429 bis 431; Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Deutsch von Monika Hübner, Gabriele Konder und Martina Roters-Burck, Reinbek bei Hamburg 1989, Seite 29.
(4) Dieter Duhm, Angst im Kapitalismus. Zweiter Versuch der gesellschaftlichen Begründung zwischenmenschlicher Angst in der kapitalistischen Warengesellschaft, Lampertheim 19737, Seite 35.
(5) Ebenda.
(6) Felicitas Rabe, Kein Impfzwang? Die Salamitaktik der Bundesregierung, in: RT DE, 8. März 2021; https://de.rt.com/meinung/114101-kein-impfzwang-salamitaktik-bundesregierung/.