Vergangene Woche Montag, dem 23. Mai 2022, war die B-Ebene an der Frankfurter Hauptwache ziemlich voll. Vor den Geschäftsräumen der Verkehrsbetriebe warteten unzählige Menschen, eine Mitarbeiterin der Verkehrsbetriebe war offensichtlich dabei, mit der Datenerfassung schon während der Wartezeit in der Schlange zu beginnen. Weitere Mitarbeiter versuchten Ordnung in ein sich anbahnendes Chaos zu bringen. Das Treiben bestaunte ich nur kurz, dann ging ich eine Etage tiefer zur S-Bahn. Die kam natürlich wieder in verkürzter Länge. Das tut sie schon seit Wochen. Annähernd allen Zügen mangelt es an Waggons.
Es war genau jener genannte Montag, an dem der Verkauf des Neun-Euro-Tickets anlief. In Berlin gingen an diesem ersten Verkaufstag um die 35.000 Tickets über den Tresen. Der Verkauf alleine, so erklärten die Mobilitätsunternehmen, verursache schon Mehrkosten. Für die komme der Bund allerdings nicht auf. Vermutlich auch nicht für die Kosten der gemeldeten Verspätungen, die verschiedene Verkehrsbetriebe als Entschädigungen auszahlen — so gibt es in Frankfurt beispielsweise eine Zehn-Minuten-Garantie.
Für die 2,5 Milliarden Euro, die die Verkehrsbetriebe in ganz Deutschland als Verlust durch Ticketmindereinnahmen kalkulieren, kommt der Bund allerdings auf, wie der Verkehrsminister noch mal klarmachte. Der spendable Bund, das sind nicht irgendwelche Gönnerinnen und Gönner, das sind wir: Nur so viel dazu, wie günstig das Ticket letztlich wirklich ist.
Schon ohne Massenansturm völlig überfordert
Sylt wurde in den vergangenen Wochen zum Sehnsuchtsort billigreisender Touristen verklärt. Die Insel zittere vor einfallenden Massen, die sich vielleicht gar keinen halben Liter Bier für 6,50 Euro leisten wollen, sondern ihren Durst durch mitgebrachten Dosengerstensaft stillen. Die Fokussierung auf Sylt lenkt von den vielen Katastrophenherden ab, die das Billigticket erzeugt. Man muss wirklich nicht an die Nordsee reisen, um sich davon einen Eindruck zu verschaffen. Es dürfte schon reichen, sich mal morgens an die Bahnsteigkante von Tram, U- oder S-Bahn zu stellen.
Gemeinhin ist dort ohnehin viel los. Es gibt Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe, die froh um jeden sind, der mit dem Auto fährt. Denn so wie der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) aufgestellt ist, geht er von einem Fahrgastaufkommen aus, wie es vielleicht Ende der Achtzigerjahre oder Anfang der Neunziger der Fall war. Seither ist die Republik gewachsen, es leben deutlich mehr Menschen in ihr. Dabei teilen sie sich jetzt eine Schiene, die deutlich reduziert wurde. Seit ihrer Privatisierung 1994 hat die Deutsche Bahn (DB) 5.400 Kilometer Gleise, das sind an die 16 Prozent des gesamten Streckennetzes, stillgelegt oder abgebaut. Ganze Landstriche verloren den Anschluss zum Rest des Landes.
In der Mehrzahl fielen Strecken für den Güterverkehr dem Sparfimmel zum Opfer. Der Personenverkehr muss sich das verkleinerte Schienennetz nun mit dem Güterverkehr teilen. Von den maroden Gleisabschnitten haben wir an dieser Stelle noch gar nicht gesprochen. Fahrpläne werden mittlerweile so ausgearbeitet, dass darin die fehlenden Instandsetzungsarbeiten eingepflegt werden — wenn Sie demnächst wieder mal irgendwo durch die Pampa bummeln, denken Sie daran: Hier wird gebremst, damit nicht repariert werden muss. Überholvorgänge für Schnellzüge sind gemeinhin auch fahrplanmäßig integriert, sodass Regionalzüge so gut wie täglich länger für eine Fahrt brauchen, als sie eigentlich müssten.
Wie gesagt, Probleme haben die Mobilitätsunternehmen auch ohne einen politisch forcierten Massenansturm. Schon ohne Neun-Euro-Ticket gelingt es ihnen kaum, pünktlich und zuverlässig Menschen von A nach B zu befördern.
Noch immer sprechen Verkehrsbetriebe ihre Kundschaft als Fahrgäste an, aber Gäste behandelt man umsichtig, man bietet ihnen einen Sitzplatz an. In der Straßenbahn ist das natürlich nicht immer möglich, aber selbst die Gänge in Regionalzügen werden von „Gästen“ belagert.
Der Service wird zwar gerne aus Gründen des Marketing hervorgehoben, aber in Realität angeboten wird er selten. Seit Jahren kann man Tickets nicht mehr beim Schaffner erstehen, nur noch an oft defekten Automaten ist das möglich — Senioren tun sich schwer an diesen Geräten, die zig Tarife anbieten und auch fitte Bahnkunden an den Rand der Verzweiflung treiben.
Günstiges Ticket: ein Taschenspielertrick
Es ist eine Binsenweisheit: Nichts ist kostenlos zu haben, vieles aber umsonst. Die Freibier-Mentalität ist Augenwischerei. Eine, mit der sich Politik immer wieder gern schmückt. Auch Mobilität kostet. Sie ist nicht günstig zu haben. War sie nie. Selbst Pferdedroschken benötigten finanziellen Einsatz, für Wechselpferde, Futter, Kutscher. Straßen fehlten hingegen oft. Sie waren einfach nicht da, jemand hätte sie bezahlen müssen. Ein weiterer Kostenfaktor waren Wegelagerer.
Wie gesagt: Mobilität ist nun mal überhaupt kein günstiges Produkt. Sie kostet Energie, verursacht Personalkosten, benötigt Material und erzeugt Verschleiß.
Schon vor dem Neun-Euro-Ticket gab es immer mal wieder Pläne, den öffentlichen Nahverkehr kostenlos zu machen, in manchen Städten liefen schon Modellprojekte dazu an. So ein etwaiger New Deal in der Verkehrspolitik kostet etwas: Anschaffungen, Innovationen, mehr Personal, mehr Sicherheitskräfte, mehr Züge, mehr Trams, neue Gleise, bessere Brücken, gezielte Untertunnelungen, mehr Busverbindungen, bessere Taktungen. Das alles kann ein Jobmotor sein, ein Wachstumsmarkt, keine Frage. Aber bezahlt werden muss es eben dennoch. Irgendwer muss es finanzieren. Und es ist kein anonymer Gönner, der das ab jetzt übernimmt.
Ein Nahverkehr, der langfristig zum symbolischen Preis angeboten werden sollte, müsste sich auch mit der Frage befassen, wie mit Investitionen umgegangen wird. Wenn Bund und Länder die Verkehrsbetriebe pauschal entschädigen, wer hält die Infrastruktur instand? Wer bezahlt neue Projekte, neue Bahnstationen und — ganz verwegen — aus welchem Topf werden Wiederinbetriebnahmen alter Schienenstränge finanziert, die an Orte führen, die jetzt bereits seit Jahrzehnten ohne Bahnanschluss sind?
Stellt man sich ein Finanzierungsmodell wie im Gesundheitswesen vor, so ein duales Finanzierungsmodell, dann müsste man tatsächlich von einer weiteren Verschlechterung des Bahnbetriebs ausgehen. Denn dort zahlen Krankenkassen alle Kosten, die für die Behandlung Patienten entstehen, das heißt für Personal, Material, Anschaffungen.
Die Länder haben in diesem Modell die Aufgabe, sich um die Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser zu kümmern. Doch seit Jahren kommen sie ihrer Aufgabe nicht nach, sie investieren einfach nichts mehr. Zum Skandal wurde diese Unterlassung eigentlich nie. Im Gegenteil: Es wurde Usus, die eigentlich festgeschriebene Finanzierungsverpflichtung zu verschlafen und zu verschleppen.
Klar ist, dass das Neun-Euro-Ticket nur für drei Monate geplant ist, über langfristige Investitionen muss man sich in dieser kurzen Zeitspanne nun keine Gedanken machen. Aber es liebäugeln in dieser Bundesregierung ja nicht wenige, meist aus dem grünen Lager, mit einer Etablierung dieses verkehrspolitischen Wahnsinns ohne Hände und ohne Füße.
Der verkehrspolitisch größte Wurf aller Zeiten ist das kalkulierte Ende des ÖPNV
Sie glauben allen Ernstes, dass sie hier die Krise sinnstiftend genutzt haben, um mehr Menschen an den Nahverkehr zu bringen. Kurzfristig mögen sie ja sogar recht haben, der Ansturm auf die Verkaufsstellen belegt das auch. Mancher kann sich jetzt sein grünes Herz auch endlich leisten. Auf der Schiene rettet man schließlich das Klima, die Deutsche Bahn sei doch ein grünes Unternehmen. Was die Mehrheit nicht ahnt: Die DB ist in unzähligen Ländern dieser Erde tätig. In den wenigstens fährt sie mit dem Zug. In Großbritannien ist sie für Krankentransporte mittels Kraftfahrzeug zuständig. In anderen Teilen der Erde organisiert sie Logistik auf den Straßen.
Während hier also vom Klimaschutz beseelte Menschen ihr Gewissen beruhigen, weil sie morgens mit der Bahn und nicht mit dem Auto zur Arbeit anreisen, ist jenes, vermeintlich klimasensibles Unternehmen im Ausland in Geschäftsfelder verstrickt, wo die Klimarettung mittels Schienenverkehr aber überhaupt keine Rolle spielt.
Nebenher ist es unsäglich, dass dieses Unternehmen durch Unterteilung in verschiedene Tochterunternehmen, wie DB Regio, DB Arriva, DB Schenker, DB Cargo und weitere, die Welt beglückt, während sie im an ihrem Heimatstandort noch nicht mal gewährleisten kann, dass die Züge pünktlich sind — oder überhaupt den Weg auf die Schiene finden.
Schon vor einigen Wochen hatte die Bahn verlauten lassen, dass sie etliche Waggons von Zügen des Nah- und Fernverkehrs abkoppeln lassen muss. Der angegebene Grund ist, wie immer in diesen Tagen, der Krieg in der Ukraine. Es fehle an Materialnachschub zur Instandsetzung. Man ist fassungslos, wie wirtschaftlich bedeutsam dieses verarmte Land an der Peripherie der Europäischen Union tatsächlich gewesen sein muss. Und man fragt sich, wieso ein Land, dass ganz offenbar von hoher wirtschaftlicher Bedeutsamkeit ist, aber diese Bedeutung nicht anständig entlohnt bekam, ausgerechnet in eine Union möchte, die offenbar nicht gewillt ist, fair zu entlohnen. Doch das ist eine andere Frage. Wie man das erhöhte Fahrgastaufkommen mit kürzeren Zügen abfertigen will, wäre indes eine spannende Frage, wenn sie jemand mal ganz konkret stellen würde.
Dieser größte verkehrspolitische Wurf aller Zeiten wird nicht bewirken, dass sich Menschen für die Bahn begeistern. Lasst sie mal eine Woche in total überfüllten Massenverkehrsmittel fahren, zwei oder drei Stunden stehend und maskiert im Regionalexpress, verspäteter als ohnehin schon, direkt vor der Toilette, aus der es mieft, weil sie wieder mal nicht funktioniert, aber dennoch benutzt wird.
Das Neun-Euro-Ticket könnte für Bahnskeptiker ein Erweckungserlebnis sein, eines das ihren Zweifel endgültig bestätigt — und sie zu Bahnverweigerern macht. Dieses Sparticket ist im Grunde ein Generalangriff auf ein Mobilitätssystem, das sowieso schon japst. Es ist so eine Art finale Maßnahme zur endgültigen Zerstörung des ÖPNV.