Janice Jankait ist dafür bekannt, dass sie alleine den Atlantik überquert hat und als Mann geboren wurde. Es gibt wenige Menschen, die es wagen, so authentisch und so ehrlich in der Öffentlichkeit aufzutreten, wie diese Frau es tut. Mich zieht sie mit ihrer direkten Art in den Bann. Sie bringt mich zum Lachen und zum Weinen, zum Hoffen und zum Nachdenken. Wie mache ich es? Gehe ich so ehrlich mit mir selbst um? Stehe ich so radikal zu meinen Schwächen und zu meinen Stärken, wie sie es tut? Habe ich den Mut, so schonungslos und auch so liebevoll in mich hinein zu tauchen? Mich im Bewusstsein meines Ganz-Seins zu entfalten und aufzuschwingen? Für mich ist Janice Jankait eine großartige Inspiration, genau das alles zu wagen.
Liebe Janice, ich möchte mit einem Zitat von dir beginnen, in dem es um eines deiner großen Themen geht: Selbstliebe. „Selbstliebe“, schreibst du, „ist kein Hurra! im Spiegel – Selbstliebe ist die Umarmung des inneren Kritikers, Störenfriedes und Angsthasen. Selbstliebe ist, wenn wir endlich die Vergangenheit ruhen lassen, wenn wir damit aufhören, die Schuld für unser verkorkstes Leben bei unseren Eltern, Partnern oder irgendwelchen anderen Menschen zu suchen. Selbstliebe ist, wenn wir nicht mehr irgendwelche Götter, Gurus, Lehrer, Therapeuten oder sonstige „Ersatz-Erziehungsberechtigte“ konsultieren – Selbstliebe ist die Selbstverantwortung, die wir übernehmen, wenn wir endlich diesen ganzen Haufen Mist in die eigene Hand nehmen, wenn wir erwachsen werden und alle Konsequenzen der Vergangenheit des gesamten verfickten Universums akzeptieren und tragen, und nun schauen, wie wir das Beste daraus machen können. Selbstliebe ist, wenn wir endlich Verantwortung für dieses Wesen übernehmen, das wir nun einmal sind, – mit all seinen Schatten, Lasten, Schwächen und Zweifeln. Und Selbstliebe ist Nachsichtigkeit und Vergebung, wo wir bei all den guten Absichten auch mal kläglich scheitern und versagen. Und wo uns das mit der Liebe bei uns selbst gelingt, gelingt es uns auch bei anderen. Es ist, wie es ist – Selbstliebe ist, wenn wir endlich etwas daraus machen. Selbstliebe ist Selbstverantwortung, Selbstbewusstsein und Selbstentfaltung.“ Das sind starke Worte. Was hat dir den Mut gegeben, so zu schreiben?
Ich möchte dem Verkopften etwas entgegensetzen. Auch darum schreibe ich so offen und emotional. Schuldzuweisungen helfen niemandem weiter und stehen jeder Selbstverantwortung im Wege. Das ewige Hängenbleiben in der Vergangenheit blockiert die Selbstentfaltung in der Zukunft. Das bedeutet für mich Selbstliebe: Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung, Selbstvergebung, Selbstwert und Selbstentfaltung. Und wo uns das mit der Selbstliebe besser gelingt, da klappt es dann auch mit dem Nächsten, mit der Liebe und dem Mitgefühl. Nein, Selbstliebe ist kein Hurra! im Spiegel, sondern bedeutet auch, Verantwortung für den Teil in uns zu übernehmen, den wir nicht so gerne sehen wollen, der uns immer wieder ungefragt und unbewusst herunter zieht, der anstrengend und unbequem ist.
Jahrelang saß ich mit Depressionen auf hohen Brückengeländern, wanderte zwischen Ärzten, Therapeuten, Kliniken, Kirchen und Tempeln umher. Ich suchte die Schuld, aber auch die Erlösung bei meinen Partnern, Eltern, beim Staat, bei Gurus, bei Gott, überall. Irgendwann hatte ich alle Sündenböcke durch, jeden Therapieweg beschritten, alle großen Ratgeber gelesen, alle legalen Pillen und illegalen Drogen geschluckt. Aber an meinem Selbsthass und der Lebensmüdigkeit änderte sich wenig.
Erst mit einem Nein! zu diesem alten Leben der Hamsterräder der Selbstoptimierung und Fremdverantwortung und mit einem Ja! zum eigenen freien Willen, zur Freiheit und zum einfachen Menschsein, zu meinem Licht, aber eben auch endlich zu meinen Schatten, zogen die dunklen Wolken langsam ab.
Letztlich ist das eigene Leben nur die Summe selbst-bewusster Entscheidungen. Trotz aller Umstände, Muster, Ängste und Zweifel. Es ist die Erfahrung des eigenen Mutes und der eigenen Möglichkeiten und damit die Erfahrung der eigenen Stärke und Größe.
Eines möchte ich noch anfügen: Es stimmt, ich war und bin ganz unten, immer wieder. Aber ich war und bin auch oben, ganz weit oben. Ich habe mein Leben in die Hand genommen, mir selbst mehr vertraut und dadurch eine ganz andere Welt erfahren. Ein Erleben, das sich nicht in Worten beschreiben lässt. Aber dazu musste ich erst einmal diese anderen, neuen Erfahrungen sammeln. Dazu musste ich mutig sein und aus alten Mustern und Überzeugungen ausbrechen und mich auf meinen eigenen Weg begeben.
Meine größte Motivation so zu schreiben? Mir wurde das Privileg zuteil, überlebt zu haben und diese Erfahrungen machen zu dürfen. Ich bekam die Zeit und Ressourcen gewährt, mich jahrelang damit auseinander setzen zu können, weil Menschen an mich glaubten, mich unterstützten, und mir sogar die Hand reichten, wenn ich mich auch mal komplett verrannt hatte. Ich bin den Weg also nicht so alleine gegangen, wie es scheint. Ich gehe ihn auch nicht nur für mich. Ich teile, was mir zuteil wurde, so offen und so ehrlich wie möglich.
Mich berührt bei dir besonders, wie du mit deiner Verletzlichkeit umgehst. Du ziehst dich aus, ohne dabei exhibitionistisch zu sein. Du erlaubst tiefe Einblicke in dein Leben und lässt andere daran teilhaben, wie du dich verlierst und wiederfindest. Wie würdest du das Licht beschreiben, das dir den Weg weist, den Leuchtturm, zu dem du nun selbst geworden bist?
Himmel und Hölle sind keine Orte für mich, sondern Zustände. Hier und Jetzt. Ich habe eine Wahl, und ich entscheide mich jeden Tag aufs Neue. Ich bin ein zutiefst spiritueller Mensch, gehöre aber keiner Strömung oder Religion an. Daher sei mir ein Zitat aus der Bibel erlaubt, denn es liefert ein gutes Bild: „Geht durch das enge Tor! Denn das Tor zum Verderben ist breit und der Weg dorthin bequem. Viele Menschen gehen ihn. Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dorthin schmal! Deshalb finden ihn nur wenige.“ [Matthäus 7, 13-14]
Die Kraft, die mich antreibt, die mich gegen jede Strömung anschwimmen lässt, die mich nicht ruhen lässt, ist mein Vertrauen in mich, in meine Entscheidungen und in meine Erfahrungen. Da ist mehr als Geburt und Tod, viel mehr. Da ist Liebe und Frieden. Jenseits aller Vernunft wartet das Wunder. Nur dort. Der Dichter und Mystiker Rumi sagte dazu einmal: „Lass dir die Dunkelheit eine Kerze sein.“ Diese Dunkelheit gehört inzwischen zu meinem Licht. Ich fürchte sie nicht mehr, ich lerne und wachse in ihr. Und ich weiß ja, wo ich letztlich hin will.
Du hast Einsamkeit kennen gelernt und das Bad in der Menge. Wie vereinst du beides miteinander? Welche Bedeutung hat für dich die Verbindung mit anderen?
Schwarz oder Weiß, falsch oder richtig, Einsamkeit oder Bühne – alles braucht einen Kontrast im Leben, damit es wirken kann. Jeder Einseitigkeit geht die Spannung verloren.
Für mich ist beides okay, jedes Auf und Ab, jedes Links und Rechts im Leben. Genau das bedeutet eben Frieden!
Immer nur oben bleiben zu wollen, bloß nie zu fallen, das wird ein einziger Krampf!
Es ist, wie es ist, und morgen ist eben alles ganz anders. Festhalten, erleben, dann loslassen und weiter. Warum beschränken, einsperren und klammern? Alles ist vergänglich, nichts bleibt wie es ist. Jede Wahrheit ist irgendwann überholt. Gestern war ich überzeugte Vegetarierin, heute hatte ich eben Lust auf Rindersteak vom Grill. Soll ich mir jetzt etwa so lange Vorwürfe machen, bis ich Magengeschwüre bekomme? Warum muss man alles vereinen oder unter einen Hut bekommen?
Ich bin unfassbar gern „einsam“, das war lange ein Problem. Wie ein Alien kam ich mir oft auf Volksfesten und Partys vor. Anstatt aber jetzt noch den hundertsten Online-Test auf Introvertiertheit, Autismus oder Hypersensibilität zu machen, habe ich das einfach irgendwann so akzeptiert. Und dann wurde aus dem Gefühl von Einsamkeit eher ein überwältigender Zustand von „All-Eins-Sein“. So, und dann stehe ich eben an anderen Tagen gern auf der Bühne, oder liebe und küsse gern die Nächte durch, oder mag es, mit Freunden die Wochenenden durchzutanzen und durchzuquatschen. Auch daraus ließe sich ein Problem machen. Nein, ernsthaft: Genau das ist der Punkt: Ich bin eben mal so und dann wieder ganz anders.
Ich lebte auch zwanzig Jahre im Körper eines Jungen und dann zwanzig Jahre im Körper einer Frau. Heute ist es mir egal, in welche Schublade ich morgen passe. Ich habe keine Lust mehr auf solche Probleme. Ich hatte sie lange genug. Ich bin einfach ich und immer wieder anders. Was sonst bedeutet Lebendigkeit?
Was gibt dir die Kraft, immer wieder in deine eigenen inneren Abgründe hinabzusteigen, und dabei die Leichtigkeit, die auch aus dir strahlt, nicht zu verlieren?
Als Mensch werde ich irgendwann sterben, vielleicht morgen, vielleicht in vierzig Jahren. Damit habe ich mehr als nur meinen Frieden gemacht. Das relativiert alles andere. Wir sind hier, um zu fühlen und etwas zu erleben. Wir nehmen nichts mit auf die andere Seite. Dieser Körper, alle unserer „klugen“ Gedanken, aber auch unsere Sorgen und Ängste, all das ist am Ende bedeutungslos. Was soll ich mir also einen Kopf machen, ob ich alles richtig oder falsch mache? Hauptsache ich mache neue Erfahrungen und wachse. Alles andere ist mir zu langweilig. In mir tobt ein wildes Meer, ein einziges Auf und Ab der Gedanken und Gefühle. Und dann ist da trotzdem Frieden, denn was kümmern den Ozean die Wellen?
Ein besonderes Wort für die Leser des Rubikon?
Vertraut eurer inneren Stimme und Intuition. Findet euch selbst und euren eigenen Weg, auch wenn er anderen unvernünftig erscheint. Lebt nicht das Leben der anderen, die auch nicht ihr eigenes Leben leben. Viel Kraft und Glück wünsche ich allen Lesern!