Seit einer guten Woche ist die Sammlungsbewegung www.aufstehen.de im Gespräch: Weit über die sonst recht eingegrenzten linken Kreise und Medien hinaus macht dieser Versuch von Sahra Wagenknecht und MitstreiterInnen, ein anderes, ein besseres, ein „gerechtes“ Deutschland zu schaffen, von sich reden. Und selbstverständlich nimmt vieles für diesen Großversuch ein – wenn auch sozusagen von oben her: einerseits die Zersplitterung der Linken in der Bundesrepublik zu überwinden, dieses Klein-Klein der Kleingruppierungen und Kleinparteien, und sich andererseits dem immer stärker werdenden Rechtstrend in unserem Land in den Weg zu stellen. Ausdrücklich sei dieses anerkannt!
Und anders als andere Linke – zum Beispiel die Journalistin Susan Bonath von der „jungen Welt“ – hielte ich es für übertrieben, allen potentiell zu gewinnenden Menschen in der Bundesrepublik von Anfang an ein Bekenntnis zum Marxismus abzuverlangen. Ich bin zwar selber dieser Ansicht – die an anderer Stelle zu begründen wäre –, dass erst eine grundlegende, systematische Umgestaltung unserer kapitalistisch-strukturierten Gesellschaften imstande wäre, eine wirkliche, eine auch ökonomisch abgesicherte Gewährleistung der Menschenrechte bei uns wie weltweit herzustellen. Aber diese Ansicht von Beginn an allen Bürgerinnen und Bürgern abzufordern, die mitmachen sollen bei aufstehen.de, hielte ich für einen Versuch, das eigene Scheitern schon von vornherein miteinzuplanen in dieses Bemühen.
Allerdings lauert in dieser Einsicht eine Gefahr, die ebenso wenig außer Acht gelassen werden darf: nämlich in die Falle zu tappen, mit verbalen und inhaltlichen Zugeständnissen der anderen Seite, den reaktionären, den sozialfeindlichen, den staatsautoritären Typen jedweder Couleur nach dem Munde zu reden.
Konkret: Aussagen in die Welt zu setzen, die nachgerade schon als Übernahme fragwürdigster Parolen der Gegenseite missverstanden werden könnten. Aber der Reihe nach:
Am 9. Mai dieses Jahres erhielt ich von Oskar Lafontaine ein Programmpapier dieser neuen Bewegung unter dem Titel „#fairLand. Für ein gerechtes und friedliches Land“ zugeschickt, einen Text, der über weite Strecken hinweg humane und soziale, ökonomische und menschenrechtliche Formulierungen und Forderungen enthielt, denen ich ohne jede Einschränkung zustimmen konnte. Ich zitiere hier lediglich den ersten Absatz aus diesem Papier:
„Es geht nicht fair zu. Nicht in unserem Land und auch nicht auf der großen Bühne der Weltpolitik. Macht triumphiert über Vernunft, Gewalt über Völkerrecht, Gier über Gemeinwohl, Geld über Demokratie. Wo nur noch Werte zählen, die sich an der Börse handeln lassen, bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Dagegen stehen wir auf: für Fairness und sozialen Zusammenhalt, für Frieden und Abrüstung.“
Im Folgenden, so kann man etwas vereinfacht sagen, werden dann zahlreiche Einzelprobleme in unserer kapitalistisch-strukturierten Gesellschaft angesprochen, die den Allgemeinbefund aus diesem Anfangsabsatz des Programmpapiers analytisch wie kritisch-bewertend zu belegen vermögen. Zustimmung also von mir über mehr als drei Seiten hinweg. Aufgreifen muss ich jedoch drei Punkte aus dem Schlussteil dieses kleinen Manifests, und zwar aus dem abschließenden Forderungskatalog.
Und diese drei Punkte von insgesamt 11 haben es in sich: Sie stecken voller Probleme, ja, mehr noch, sie stellen ideologische Zugeständnisse an das neoliberal oder reaktionär geprägte Denken in der Bundesrepublik dar, Zugeständnisse, die in einem vermeintlich linken Programmpapier einer vermeintlich linken Sammlungsbewegung einfach nichts zu suchen haben – zumindest in dieser mainstreamfrommen Verkürzung nicht. Ich zitiere diese Programmpunkte zunächst im vollständigen Wortlaut. Anschließend folgt meine Stellungnahme dazu:
„3. Ein erneuerter starker Sozialstaat, der Armut verhindert: für Renten, die den Lebensstandard im Alter sichern, eine gute Gesundheitsversorgung unabhängig vom Einkommen und eine solide Arbeitslosenversicherung statt Enteignung durch Hartz IV.
8. Sicherheit im Alltag: mehr Personal und bessere Ausstattung von Polizei und Justiz statt Symbolpolitik.
10. Hilfe für Menschen in Not: das Recht auf Asyl für Verfolgte gewährleisten, Waffenexporte in Spannungsgebiete stoppen und unfaire Handelspraktiken beenden, Armut vor Ort bekämpfen und in den Heimatländern Perspektiven schaffen.“
Zu fragen ist an dieser Stelle: Was sollte ich gegen einen „erneuerten starken Sozialstaat“ haben, was gegen „Sicherheit im Alltag“, was – um Himmels Willen! – gegen „Hilfe für Menschen in Not“? Nun, wenn alles so schön gemeint wäre, wie das alles zunächst einmal klingt, wäre ganz gewiss nichts einzuwenden dagegen!
Aber: Verhält es sich tatsächlich so? Oder steckt der Teufel im Detail, und ein genauerer Blick enttarnt, dass hier zum Teil höchst Problematisches zu Papier gebracht worden ist?
Nun, ich konkretisiere, und ich konkretisiere es durch Wiedergabe eines Briefes, den ich noch am selben Tag an Oskar Lafontaine schrieb, ein Brief, der aber den Adressaten offenkundig niemals erreicht hat. Hier die wichtigsten Auszüge daraus:
„Sehr geehrter Herr Lafontaine,
bitte glauben Sie mir, ich hätte liebend gern Ihren Aufruf ‚Für ein gerechtes und friedliches Land‘ mit meiner Unterschrift unterstützt.
Auch ich trete seit Jahrzehnten für die Menschenrechte ein, für eine friedliche Welt, für eine antifaschistische Gesellschaft, für ein durch und durch basisdemokratisches Deutschland und Europa, ja, für eine Welt insgesamt, die nicht mehr beherrscht wird vom großen Geld – egal, ob aus der Finanz- und Realwirtschaft oder in der Politik.
Doch leider – zu meinem sehr großen Bedauern! – lässt Ihr Programmpapier für eine linke Sammlungsbewegung an zahlreichen – für mich überaus wichtigen – Stellen diese klare Parteinahme für eine menschenrechtliche Programmatik vermissen, auch für eine eindeutig antimilitaristische, basisdemokratische und flüchtlingsfreundliche Politik.
Damit Sie meine Kritik – in Sympathie mit Ihnen geäußert – zumindest in Ansätzen verstehen können, möchte ich Ihnen das erläutern, wenigstens an den folgenden Punkten Ihres Papiers:
Es fehlt bei Ihnen – unter Punkt 3 – jede deutliche Aussage zu einem Arbeitslosenhilfessystem, das jedem von Erwerbslosigkeit betroffenen Menschen ein real abgesichertes menschenwürdiges Leben garantiert. Ihr Plädoyer für eine „Arbeitslosenversicherung statt Enteignung durch Hartz IV“ enthält diese dringend erforderliche Klarheit nicht, auch nicht Ihre Formulierung, dass der „Lebensstandard“ – welcher? – im Alter für RentnerInnen gewährleistet werden soll, spricht diese Durchsetzung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht an.
Sie fordern auch, ohne jede Spezifizierung, Aufstockung von „Polizei und Justiz“ in unserem Land. Dem kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Wir haben es bei uns mit einer Polizei zu tun, die – letztens beim G-20-Gipfel in Hamburg – immer wieder auch selber grundlegende Rechte der Menschen mit Füßen tritt. Und vor Gericht werden dann Demonstranten – wie der Werfer einer leeren Bierflasche aus Plastik, dito in Hamburg – schärfer bestraft als überführte NS-Schergen in Auschwitz. Wir dürfen keinesfalls Aufstockung von Polizei und Justiz fordern, einfach nur so, ohne zugleich die Forderung zu erheben, dass diese sich nachgewiesenermaßen in ihrem Handeln und in ihren Gerichtsurteilen gebunden zeigt an grundlegend menschenrechtliche Maximen.
Schließlich habe ich unter Ihrem Punkt 10 aufs schmerzlichste vermisst, dass Asyl und Aufenthaltsrecht bei uns nicht nur politisch Verfolgten zu gewähren ist, sondern ohne jede Einschränkung auch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen sowie Flüchtlingen, die schlicht vor dem Krepieren, vor dem Hungertod, aus ihren Heimatländern fliehen müssen – gleich, ob es sich um Klimaflüchtlinge handelt, ein immer bedrohlicheres Problem für Mitmenschen aus der Dritten und Vierten Welt, oder um Menschen, die, sicher auch Ihrer Einschätzung nach, in ihren Heimatländern kaputtkonkurriert werden von weltweit agierenden Großkonzernen (Monsanto, Nestlé, Hühnerfleisch-Importeure, industriell agierende Fischfangflotten an der Atlantikküste Afrikas und so weiter).
Für mich enthält Ihr Programmentwurf also allzu große Lücken, und mich schmerzen diese Mängel sehr. Ich würde daher vielen meiner Grundüberzeugungen untreu werden, wenn ich das alles einfach mal so ‚übersehen‘ wollte und auch meinerseits dieses Programmpapier unterschreiben würde.
Ich bitte Sie zu verstehen, dass ich demzufolge Ihren Aufruf zu einer – eigentlich immens wichtigen linken – Sammlungsbewegung nicht unterzeichnen kann.
Wir können gerne miteinander reden, wenn diese essentiellen Mängel Ihres Papiers behoben werden. Bis dahin sehe ich mich außerstande, Ihren Aufruf mit meiner Unterschrift zu unterstützen. Wie gesagt, es tut mir leid, aber…
Mit herzlichen Grüßen
Holdger Platta“
Wie gesagt: Dieser Brief hat Oskar Lafontaine nie erreicht, jedenfalls traf niemals eine Antwort bei mir ein. Was allerdings schon eine Frage aufwirft: Was ist von einer „Sammlungsbewegung“ zu halten, die augenscheinlich eher auf Einweg-Kommunikation setzt, auf ein Herunterpredigen von oben nach unten statt auf Gespräche auf Augenhöhe miteinander?
Doch hat’s mit diesem Programmpapier der neuen Sammlungsbewegung von Anfang Mai schon sein Ende gehabt? – Nein, leider nicht! Und Verbesserungen waren seither ebenso nicht festzustellen, eher im Gegenteil. Aber auch hier wieder konkret:
Vor einigen Tagen, am 7. August, veröffentlichte Sahra Wagenknecht mit ihrem Co-Autor Bernd Stegemann – Dramaturg, Autor und Vorsitzender des Vereins „Aufstehen Trägerverein Sammlungsbewegung“ – einen Artikel in der „Nordwest-Zeitung“ (NWZ) aus Oldenburg unter dem Titel „Aufstehen für ein gerechtes Land“. Und da war nun ein Absatz zu lesen zum Thema Flüchtlingshilfe in der Bundesrepublik, von dem man – trotz seines eiernden Einerseits-Andererseits fast den Eindruck haben könnte, er richte sich, wegen einiger Wortzitate, direkt gegen Konstantin Wecker beziehungsweise gegen sein Lied „Ich habe einen Traum“. Doch auch hier wieder zunächst der vollständige Absatz aus dem betreffenden NWZ-Artikel:
„Die politisch sinnvolle Grenze verläuft nicht zwischen den Ressentiments der AfD und der allgemeinen Moral einer grenzenlosen Willkommenskultur. Eine realistische linke Politik lehnt beide Maximalforderungen gleichermaßen ab. Sie unterstützt die vielen freiwilligen Helfer in der Zivilgesellschaft, die sich um die Integration der Flüchtlinge kümmern. Und zugleich lässt sie sich nicht von kriminellen Schlepperbanden vorschreiben, welche Menschen auf illegalen Wegen nach Europa gelangen.“
Was mir an dieser Aussagenkombination aufs äußerste missfällt? Im Kern wohl dreierlei:
Erstens der Umstand, dass die Anhänger der „Willkommenskultur“ dieselbe Abwertungsvokabel auf sich ziehen wie die rassistisch-fremdenfeindlichen Anhänger der AfD. Beide verträten „Maximalforderungen“, die von einer „realistischen linken Politik“ abzulehnen seien. Das läuft, nicht im Inhalt und nicht in der Logik, sehr wohl aber in der rhetorisch-suggestiven Wirkung auf eine Gleichverurteilung beider Positionen hinaus. Sicherlich nicht so gemeint, aber so steht’s eben auf dem Papier.
Zweitens: Was soll ein Begriff wie „realistisch“ in diesem Kontext bewirken, auf welches Denken und Empfinden geht diese Vokabel in diesem Zusammenhang zurück? Darf es kein humanes Träumen mehr geben, weit über den real existierenden status quo hinaus? Das, ausgerechnet das, soll „linkes“ Denken nicht mehr tun?
Vor der Utopie steht die Absage an die Chance ihrer Realisierbarkeit? Bereits vor dem Versuch, eine andere, eine bessere, eine humanere Politik realisieren zu wollen, existiert im eigenen Kopf der Kompromiss mit den vermeintlich existierenden „Sachzwängen“ der Wirklichkeit?
Und der dritte, der ärgste Punkt in diesem Absatz: Was soll diese Aussage bedeuten, eine „realistische linke Politik“ lasse sich nicht „von kriminellen Schlepperbanden vorschreiben, welche Menschen auf illegalen Wegen nach Europa gelangen“? – Was, bitteschön, stellen „illegale“ Wege nach Europa Wagenknecht und Stegemann zufolge dar, ganz realiter gefragt? Was wären die verbliebenen „legalen“ Wege zu uns? Und sollen Flüchtlinge zukünftig an Europas Grenzen abgewiesen werden, wenn sie mithilfe „krimineller Schlepperbanden“ auf unserem Kontinent gelandet sind, und nur die anderen dürfen – gegebenenfalls – rein?
Schließlich – wie weisen die einen das eine, die anderen das andere nach: Legalität oder Illegalität ihrer Fluchthelfer? Wird hier nicht ein Schuldübertragungsprozess in Gang gesetzt, der die Kriminalität der Schlepper in der Folgewirkung auch zur Kriminalität der Flüchtlinge macht? – Hieß und heißt es bei einem Seehofer: Ablehnung des Flüchtlings, da Herkunft aus einem angeblich sicheren Herkunftsland, hieße es nun, bei diesen „Linken“: Ablehnung des Flüchtlings, da von Kriminellen nach Europa gebracht? Wo landen wir da? Wo ist da der Text von Wagenknecht und Stegemann gelandet?
Eines jedenfalls existiert in dieser Art der „Denke“ nicht mehr: dass jeder Flüchtling potentiell dasselbe Recht hat, bei uns aufgenommen zu werden, unabhängig davon, bei wem der Flüchtling auf dem Mittelmeer im Boot gesessen hat.
Womit ich auch bei meinem letzten Punkt bin: Angesprochen auf diese Formel von der „allgemeinen Moral einer grenzenlosen Willkommenskultur“ hat Sahra Wagenknecht in einem Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ am 11. August geantwortet, es sei „boshaft, ihr deswegen Flüchtlingsfeindlichkeit oder Nationalismus zu unterstellen“ – was ich hier übrigens nicht unterstellt habe, aber das nur nebenbei. Sie habe, so Wagenknecht weiter, das Asylrecht immer verteidigt.
Aber dann folgen zwei Sätze, von denen der eine für uns bereits ein alter Bekannter ist: Ihre Überzeugung sei, dass „Verfolgte“ Schutz brauchen. Was im Klartext heißt – siehe oben! –: „Kriegs- und Hungerflüchtlinge“ offenbar nicht! Und dann kommt der andere Satz: Man könne das Problem der Armut in der Welt „nicht durch grenzenlose Zuwanderung lösen“, sondern müsse „vielmehr alles dafür tun, dass Deutschland und Europa nicht weiter Lebensperspektiven in den armen Ländern zerstören“.
Selbstverständlich müssen wir auch dieses tun, selbstverständlich müssen auch Fluchtursachen weltweit bekämpft werden, die Armut, der Hunger, das Elend, die Kriege in der Dritten Welt. Doch dies alles passiert nicht oder nicht in genügendem Maße – es dürfte in vielen Regionen auf diesem Erdball vermutlich noch Jahre und Jahrzehnte dauern, bis all diese „Fluchtursachen“ beseitigt sind! Solange die Weltgemeinschaft an dieser ganz speziellen Kriegsfront weltweit wieder und wieder versagt, solange „Ursachenbekämpfung“ also immer noch ein Projekt für die Zukunft ist, muss eben auch Soforthilfe für Flüchtlinge jetzt eine linke, eine realistisch-linke, eine humane Option für uns Westler bleiben.
Wagenknecht konstruiert ein „Entweder-Oder“, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt – und humanerweise auch nicht geben darf! Ein „Sowohl-Als auch“ ist angesagt: Soforthilfe und Ursachenbekämpfung. Alles andere wäre nicht Realisierung, sondern Abschaffung von konsequenter linker Politik.
Und es verwundert mich doch sehr, dass eine kluge Politikerin wie Sahra Wagenknecht davon – scheinbar oder tatsächlich – nichts mehr wissen will!
Niemand von uns, das darf ich wohl sagen, ist gegen ein „Aufstehen“, ist gegen ein Aufstehen für ein soziales, für ein humanes Land! Aber man muss schon mit dem richtigen Fuß „aufstehen“, wenn man im guten Sinne „aufstehen“ will, nicht mit dem falschen. Und der richtige Fuß ist in diesem Fall der linke Fuß, nicht der rechte! Ganz anders mithin, als uns der deutsche Volksmund einreden will – und im vorliegenden Fall auch eine Volksbewegung mit dem Titel www.aufstehen.de.