Aufstand der Mathelehrer
Deutsche Mathematiker streiten über den Sinn und Unsinn von Standardisierung, Leistungstests und Bildungsqualität. Ihre Argumente gehen jedoch an guter Schule und besserer Bildung vorbei.
In einem Offenen Brief haben sich Mathematiker und Mathematiklehrer an die Kultusminister gewandt und eine Abkehr von der Kompetenzorientierung sowie eine Hinwendung zu mathematischen Inhalten in der Schule gefordert. Mathematikdidaktiker haben daraufhin eine Stellungnahme verfasst, in welchem sie die Forderungen des Offenen Briefes zurückweisen. Was erleben wir hier? Einen „Krieg der Mathematiker“? Jens Wernicke sprach hierzu mit Wolfram Meyerhöfer, einem PISA-Kritiker der ersten Stunde und langjährigem Streiter für einen besseren Mathematikunterricht.
Herr Meyerhöfer, bricht hier gerade ein „Krieg“ aus zwischen Mathematikern und Mathematikdidaktikern? Was ist da los in Ihrer Zunft?
Wie überall gibt es auch bei uns einen Kampf um die Deutungshoheit: Wer darf festlegen, was guter Mathematikunterricht ist, was gute Aufgaben sind, was geprüft wird? Die Unterzeichner des Offenen Briefes – vorrangig Mathematiker, aber auch Mathelehrer – kritisieren die sogenannte Kompetenzorientierung und die sogenannten Bildungsstandards. Sie sind frustriert, weil sie die Studienanfänger als mathematisch immer inkompetenter wahrnehmen.
Die Mathematikdidaktiker nehmen umgekehrt die Mathematiker als ignorant gegenüber Lernprozessen wahr. Zum Krieg wird das aber erst, wenn die Kultusbürokratie versucht, einen einzigen Mathe-Brei über alle Schulen zu schmieren, wenn also bestimmte Ideen und Konzepte des Mathematiklernens ausgebootet werden.
Was sind die konkreten Argumente beider Seiten? Welche Positionen prallen hier aufeinander und wie bewerten Sie dies?
Im ersten Offenen Brief wird gefordert, dass wieder mehr Inhalte wie Bruch- und Wurzelgleichungen, kompliziertere Potenzen und mehr Sinus und Kosinus in die Lehrpläne aufgenommen werden und dass wieder mehr per Hand und nicht mit Computern gerechnet wird. Außerdem sollen die Abiaufgaben weniger textlastig und dafür mathematisch schwerer werden. Im Grunde wird hier gefordert, dass Matheunterricht wieder wie vor 30 Jahren sein soll. Das ist in dieser Form wenig sinnvoll, wenngleich wir rund um die Themen Computer im Matheunterricht und Ersetzen von Mathematik durch Textgeschwurbel gerade wirklich mancherlei Fragwürdiges erleben.
Seltsamerweise setzen sich die Didaktiker in ihrer Antwort mit den inhaltlichen Forderungen gar nicht auseinander. Sie behaupten einfach, der Leistungsabfall hätte nichts mit den Bildungsstandards zu tun. Es geht offensichtlich eher darum, den Kulturministern Abwehrmunition zu liefern nach dem Motto: Die Fachleute formulieren unterschiedliche Positionen, also müssen wir nichts ändern. Auf diese Weise neutralisiert man heute ja gesellschaftlich jede Kritik: Man mobilisiert Gegenpositionen, und auf die Argumente schaut dann niemand mehr.
Sagen Sie bitte erstmal, was der Unterschied zwischen Mathematikern und Mathematikdidaktikern ist.
Mathematiker sind Leute, die mathematische Theoriesysteme entwickeln oder mathematikhaltige Probleme lösen – also Verfahren entwickeln, mit denen zum Beispiel Mobiltelefone ihren Standort bestimmen können oder mit denen Autos in Kurven stabil gehalten werden.
Wir Mathematikdidaktiker befassen uns mit dem Lehren und Lernen von Mathematik, sind also eher Geistes- und Sozialwissenschaftler. Wenn Mathematiker über mathematisches Lernen sprechen, dann empfinden wir das meist als laienhaft.
Die Mathematiker und Autoren des ersten Offenen Briefes beklagen nun ja, dass im Rahmen der Kompetenzorientierung und der Bildungsstandards der Mathematik-Schulstoff soweit ausgedünnt würde, dass das mathematische Vorwissen vieler Studienanfänger nicht mehr für ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium ausreiche …
Die Autoren haben die Vorstellung, dass ein Papier wie die sogenannten Bildungsstandards unmittelbar auf die Schule durchschlägt. Das ist aber nicht der Fall. Lehrpläne kommen und gehen. Das, was die Schule wirklich verändert hat, ist die mit der Etablierung der Bildungsstandards einhergehende permanente Durchführung von standardisierten Tests in den Schulen sowie die Zentralisierung von Prüfungen.
Inwiefern?
Standardisierte Tests erzwingen aus vielerlei Gründen Mittelmaß. Gute Schüler werden in einem Schulsystem, das auf standardisierte Tests ausgerichtet ist, permanent an den Füßen festgehalten, wenn sie mal versuchen, geistig zu fliegen.
Die Testorientierung führt außerdem zu einer systematischen Entprofessionalisierung der Lehrerschaft. Lehrer unterrichten nicht mehr das, was ihnen ihr professioneller Ethos nahelegt, sondern richten ihren Unterricht auf die erfolgreiche Absolvierung von Tests und zentralen Prüfungen aus.
Das ist doch gut: Mehr Schüler absolvieren erfolgreich den Unterricht!
Nein. Zum Mathematikunterricht sind die Schüler ja über viele, viele Stunden ihres Lebens verpflichtet. Prüfungen können nur einen klitzekleinen Teil dessen abprüfen, was sich währenddessen im Kopf des Schülers an Wissen und Können gebildet hat.
Prüfungen sind wie der Ausschnitt einer groben Bleistiftskizze einer geistigen Landschaft. Noch schärfer ist es bei standardisierten Tests, dort wird das Geistige ja in eine extreme Verkürzung gepresst. Wenn nun Unterricht nur noch auf die Bedienung dieser Formate ausgerichtet wird, dann landet man in geistiger Ödnis.
Aber auch vor der Etablierung der Bildungsstandards mit ihrer Testorientierung war Mathematikunterricht doch nicht gerade ein Ort, an dem der professionelle Ethos des Mathematiklehrers weit überwiegend zu Glücksgefühlen oder vertiefenden Bildungserlebnissen geführt hat.
Ja, der Mathematikunterricht ist historisch schon immer ein Ort der Einübung in unverstandene Rechentechniken, ein Ort der gepflegten Langeweile mit einer seltsamen Mischung aus Überforderung und Unterforderung.
In der Mathematikdidaktik wurde deshalb der kritische Diskurs immer eher von einer Haltung bestimmt, bei der an die Stelle von Rechentechnik eine Orientierung am Verstehen gesetzt wurde.
Dazu gehören Fragen wie: Wie anders kann man das auch noch rechnen? Warum hat man historisch diesen mathematischen Begriff erschaffen? Wie könnte man diesen Begriff auch noch anders fassen? Warum funktioniert dieses Verfahren und warum führt es immer zu einem richtigen Resultat?
Zu einer solchen Verstehensorientierung gehörten dabei immer auch Elemente des mathematischen Spiels und die Verwendung von Mathematik für die Lösung von Alltagsproblemen.
Das führt in konkrete staatsbürgerliche Erziehung und Erziehung zur Mündigkeit hinein: Wie ist der Hartz-IV-Satz modelliert? Wie kann im Land Brandenburg eine neu zu bauende Brücke wirtschaftlich gerechnet werden, obwohl alle Autos längere Wege fahren müssen? Warum gilt eine 58-Prozent-Ablehnung des Nachbaus des Potsdamer Stadtschlosses als Zustimmung? Hier wird Verstehen möglich gemacht.
Als nach PISA dann die sogenannten Bildungsstandards etabliert wurden, hat man leider den umgekehrten Weg eingeschlagen: Plötzlich wurde diese Idee von mathematischer Bildung zu Grabe getragen, plötzlich galt als Bildung nur noch das, was testbar ist.
Das ist im Grunde eine Zuspitzung dessen, was Schule durch ihre Orientierung an Noten ohnehin in sich birgt: Schule entkleidet den Bildungsgegenstand vom Bildsamen, und das, was übrigbleibt, ist „der Stoff“, der in Klassenarbeiten abgefragt werden kann. In Folge hiervon ist der Mathematikunterricht noch konsequenter in diese falsche Richtung getrieben worden.
Und warum verteidigen in diesem Kontext nun ausgerechnet Mathematikdidaktiker die Kompetenzorientierung?
Das ist in der Tat seltsam. Denn Kompetenzorientierung meint die Segmentierung der Lerninhalte in kleine Häppchen. Die sogenannten Bildungsstandards spitzen das noch zu, dort gilt nur noch das als Bildung, was standardisierten Tests zugänglich ist. Es wurde quasi gesagt: Alles, was nicht Häppchen ist, gilt ab sofort nicht mehr als Bildung.
Mit Adorno würde man sagen: Hier wurde radikal Halbbildung zu Bildung umetikettiert. Diese Konzepte sind ohne Beteiligung der Mathematikdidaktik entwickelt worden. Allerdings ist die Mathematikdidaktik nach PISA mit Geld geflutet worden, das oftmals an die Bedienung des Kompetenz-Sprech gebunden war.
Sie vertreten hier also nicht die Position der anderen Mathematikdidaktiker?
Eine Verteidigung der Kompetenzorientierung und der Bildungsstandards erscheint mir nicht sinnvoll. Jede Bildungsdebatte muss sich um eine Ent-Standardisierung des Schulsystems bemühen. Ein erster einfacher Schritt zur Verbesserung von Mathematikunterricht wäre, die standardisierten Tests wieder aus dem Schulsystem herauszunehmen. Dazu muss man das zentrale Testinstitut, das boshafterweise „Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)“ genannt wurde, schließen und die entsprechenden spiegelbildlichen Einrichtungen in den Ländern auf die Verbesserung statt Vermessung von Schule verpflichten.
Die Didaktiker fordern aber auch durchaus sinnvolle Dinge. Insbesondere muss überlegt werden, was ein Mathematik-Abitur leisten muss, wenn die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht. Die Mathematiker fordern, dass das Abitur auf ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium vorbereiten muss. Das ist aber überhaupt nicht selbstverständlich, wenn 90 Prozent der Abiturienten Mathematik in ihrem Studium nicht benötigen.
Die Mathedidaktiker geben in ihrem offenen Brief ein paar „typische Aufgaben aus dem Mittelstufenstoff“ an, „die von den Studienanfängern heutzutage als enorm schwierig empfunden werden“ zum Beispiel „Wurzel((x * Wurzel(x)) - x) + Wurzel(x) = x“. Ist das eine Parodie oder glauben die Unterzeichner ernsthaft, dass derlei generell nicht als schwierig empfunden werden sollte?
Mathematikprofessoren klagen in der Regel über das schlechte Können der Studienanfänger. Sie berufen sich dabei auf ihre Erinnerung an sich selbst als Studienanfänger – wobei sie ihre Erinnerung als Realität wahrnehmen. In ihrer Gruppen-Selbstvergewisserung blenden sie dabei jene Mit-Studierenden aus, die nicht Mathematik-Professoren geworden sind. Es heißt dann immer. „Das muss man doch können, ich konnte das doch auch.“ Die Idee, dass man zur Kenntnis nimmt, was Studienanfänger können, und dass man die Studieninhalte oder gar Lehrmethoden daran ausrichtet, wird von dieser Seite brüsk zurückgewiesen.
Die Mathematikdidaktiker behaupten ja ohnehin, es zeige „sich in den letzten Jahren eine erfreuliche Verbesserung der Leistung deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich“.
Diese Behauptung bezieht sich offenbar auf die Entwicklung der PISA-Punktzahlen und verwundert mich sehr. Die erste PISA-Runde war ja bekanntlich absichtlich so konstruiert, dass Deutschland schlecht abschnitt.
Deutschland hatte dann für das Testkonstrukt zwar gar nicht so schlecht abgeschnitten, es wurde aber trotzdem eine nationale Katastrophe ausgerufen, weil der deutsche Schüler ein zehntel Kreuz weniger richtig gesetzt hatte als der Durchschnittsschüler.
Die Lehrer haben daraufhin schnell kapiert, welchen Aufgabentyp man nun besonders einüben muss, und so wurden die deutschen Testwerte immer besser bis zu einem Sättigungswert.
Nun wissen wir aus Untersuchungen in den USA aber, dass Schulsysteme in standardisierten Tests unter bestimmten Umständen sozusagen von selbst immer besser werden: Wechselt man den Test, dann schneiden die Systeme zunächst wieder schlecht ab und werden dann wieder besser.
Die besseren Testwerte von Deutschland verweisen also nicht auf bessere Leistungen, sondern nur auf ein besseres Bedienen des PISA-Testkonstrukts, das zudem deutlich gegen den deutschen Bildungsbegriff orientiert.
Aber wenn man an die Sinnhaftigkeit des PISA-Testkonstrukts glaubt, dann ist Deutschland doch besser geworden.
Ich selbst halte die PISA-Daten und insbesondere eine Argumentation mit den dortigen Kompetenzstufen für komplett unbrauchbar. Wer aber die Kompetenzorientierung verteidigt, der glaubt an so etwas wie den Bericht für PISA 2015. Dort wird aber nun gerade die Annahme der Mathematiker gestützt, dass die Studierenden mit schlechteren Mathematikkenntnissen an die Uni kommen.
Für das Gymnasium vermerkt der Bericht:
„Die durchschnittliche mathematische Leistung insbesondere an dieser Schulart ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken, die Leistungsspitze ist kleiner geworden. In PISA 2015 schaffen es nur noch 31 Prozent der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die Anforderungen der oberen beiden Kompetenzstufen erfolgreich zu bewältigen, während es 2012 noch 40 Prozent und 2003 sogar 42 Prozent waren. Es sei angemerkt, dass die Bildungsbeteiligung hier keine Rolle spielen dürfte, denn 2015 waren in der Stichprobe 33 Prozent Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, 2012 lag ihr Anteil bei 36 Prozent und 2003 bei 31 Prozent der Fünfzehnjährigen.“
In fünf Sätzen zusammengefasst: Was ist Ihrer Meinung nach das Problem jenseits der bisher vorgetragenen beiden Positionen? Und welche Wege zur Orientierung hin auf eine wirklich bessere Bildung wären zu beschreiten?
Mathematikunterricht leidet daran, dass Rechentechniken entlang der Frage „Wie rechnet man das?“ verständnislos abgearbeitet werden. Mathematische Bildung entfaltet sich aber entlang von Fragen wie „Warum funktioniert dieses Verfahren?“ oder „Auf welche Probleme antwortet dieses Verfahren oder dieser Begriff?“. Diese Fragen werden durch die Testorientierung der sogenannten Bildungsstandards zurückgedrängt, deshalb ist die Kritik der Mathematiker an diesen Standards berechtigt. Die Alternative liegt aber nicht im Unterricht von gestern. Sie liegt in Verständnisorientierung, in neuen Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Rechnen und digitaler Technik und in einer Diskussion um die Funktion des Abiturs.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Wolfram Meyerhöfer wurde 1970 in Woldegk (Vorpommern) geboren. Er studierte Mathematik und Physik an der Universität Potsdam, wo er auch 2004 promovierte. Inzwischen ist er Professor für Mathematikdidaktik an der Universität Paderborn. Er ist Mitglied in den Beiräten des Deutschen Philologenverbandes, der Gesellschaft Bildung und Wissen und der Stiftung Bildung.
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