Befreiung vom Leistungsdruck: Wie wir uns von der Zukunftsangst lösen
So toll sie sich auch anhören, diese Erfahrungen — Mentoren, Herausforderungen, Erkenntnisse —, sie nützen nicht viel, solange Kinder und Jugendliche sich in der Schule und in ihrem Alltag nicht als Subjekte ihres Lebens wahrnehmen, sondern gezwungen sind, den Anforderungen, Abläufen und Bewertungen Erwachsener gerecht zu werden. Damit ist jede Form von externem Leistungsvergleich in fremdbestimmten Kategorien gemeint, zu der sie genötigt werden.
Wir wissen es alle: Wer unter Druck steht, möglichst gut abliefern zu müssen, der kann nur schwerlich Lust dabei empfinden. Wer fürchten muss, nicht gut genug zu sein, der hat Mühe, zu anderen in Beziehungen zu treten. Die wesentliche Bedingung für jede Lust am Lernen und Gestalten und für jede echte Verbundenheit mit anderen ist daher, sich selbst als Subjekt wahrzunehmen. Und deshalb ist es nötig, dass wir unsere Kinder von unfreiwilligem Genügen-Müssen befreien, so weit es nur geht.
Gezwungenermaßen verglichen zu werden verhindert die Wahrnehmung als Subjekt. Der seelische Schmerz, den das erzeugt, ist der Grund, weshalb Schüler sich vor Leistungskontrollen fürchten. Der Zwang, die Abrichtung und die Demütigung, die durch den Leistungsdruck in unserem Bildungssystem entstehen, behindern die Wirkung der günstigen Erfahrungen, die wir hier beschreiben. Damit sie zum gelingenden Leben beitragen können, wollen wir Sie nun zur Befreiung vom Leistungsdruck einladen.
Eine Befreiung der Schüler und ihrer Eltern sowie eine Befreiung der Lehrer. Wie diese Befreiung allen drei Gruppen gelingen kann, in welche Konflikte sie dabei eventuell geraten und wie sie diese handhaben können, darum geht es nun. Unsere Beobachtungen sind keine allgemeingültigen Wahrheiten, eher vorübergehende Überlebenshilfen. Sie können uns nützen, solange wir sie noch brauchen. #LifeHack
Der Konflikt vieler Eltern und ihrer Kinder
Der Schulerfolg hängt, zumindest in Deutschland, noch immer stark vom Elternhaus ab – so auch der Schulmisserfolg. Die wenigsten Kinder gehören zu den Glücklichen, denen der Schulstoff nur so zuzufliegen scheint. Die Demontage ihres Selbstwertgefühls, die Kids durch miserable Schulnoten erleiden, ist für liebende Eltern kaum auszuhalten. Damit das Kind auf dem geforderten Level mithalten kann, wird Nachhilfeunterricht veranlasst — Zeit, in der es entspannen und spielen sollte. Zudem übernehmen viele Mütter und Väter zu Hause einen Job als Zweitlehrer ihrer Kinder. Das entstehende Lehr-Lern-Verhältnis kann aber die hochemotionale Eltern-Kind-Beziehung und den Alltag enorm belasten.
Hinzu kommt die Gestaltung der Schulkarriere: Welche Schule wählen wir für unser Kind? Freie Schule? Staatliche Schule? Privat oder öffentlich? Gymnasium oder Realschule? Versetzen oder zurückstufen? Nachteilsausgleich ja oder nein? Jedes Kind hat nur dieses eine Leben, und dafür wollen wir Eltern keine falschen Entscheidungen treffen, die sich später zum Nachteil auswirken. Bei vielen entsteht dadurch ein psychischer Druck. Wir Eltern haben heute genauso viel Stress mit der Schule wie unsere Kids.
Bei den Kindern entsteht psychischer Druck, weil sie Angst haben, auf dem für sie gewählten schulischen Weg nicht zu bestehen. Sie werden ständig verglichen mit ihren Mitschülern und haben Angst, die Erwartungen nicht zu erfüllen, das Klassenziel nicht zu erreichen oder nicht gut genug zu sein.
Sie wollen Mama und Papa nicht enttäuschen und weinen deshalb bei einer Note, die schlechter als gewünscht ausfällt. „Schon wieder nur eine Drei. Mama und Papa wollen doch, dass ich Arzt werde.“ In Wahrheit wollen Mama und Papa vor allem, dass ihr Sprössling glücklich wird, dass ihm sein Leben gelingt. Dabei kann er auch gern Arzt werden. Aber das ist nicht das Wichtigste. Das gelingende Leben ist es, was wir Eltern uns für unsere Kinder wünschen. Aber wie soll denn ihr Leben gelingen, wenn sie der Leistungsdruck schon in ihrer Kindheit traurig macht?
An dieser Stelle geraten Eltern in einen Konflikt. Denn auch 2020 sind die Zugänge zu Laufbahnen noch immer limitiert. An Universitäten werden Studienplätze noch immer nach dem Numerus clausus vergeben. Natürlich braucht nicht jeder ein Abitur, aber die angesehensten Berufe unserer Gesellschaft sind noch immer den Besten der Besten, den Einserschülern an Gymnasien vorbehalten. Arzt kann eben nicht jeder werden, der Lust auf diesen Beruf hat.
Es gibt also noch eine Menge guter Gründe dafür, dass unsere Kinder unbedingt einen Schulabschluss — idealerweise das Abitur — machen sollten, und zwar mit einem möglichst guten Notendurchschnitt. Sei es auch auf Kosten der günstigen Erfahrungen. Und das, obwohl wir wissen, dass der Weg dahin auf täglichem Notendruck beruht, dass die Unterrichtsthemen standardisiert und fremdbestimmt sind. Alle Schüler an Regelschulen sind dem während ihrer gesamten Schulzeit ausgesetzt. Und wir Eltern wollen, dass sie es irgendwie meistern, obwohl wir verstanden haben, dass genau das unseren Kindern die Lust am Lernen und Gestalten verbaut, sie voneinander trennt und ihre innere Orientierung geradezu verhindert. Obendrein zwingt die Schulpflicht unsere Kinder körperlich in die Schule. Das ist doch ein riesengroßes Dilemma.
Wenn nun das, worauf wir Eltern bisher bei guter Bildung und Erziehung Wert gelegt haben, gar nicht zum gelingenden Leben führt, und wenn wir die Lern- und Gestaltungslust und die Verbundenheit als Voraussetzung für ein gelingendes Leben erkennen, dann erscheint es möglicherweise sinnvoll, ihrer Erhaltung und Entfaltung im Aufwachsen unserer Kinder höchste Priorität einzuräumen. In deren Schullaufbahn und auch im familiären Alltag würde sich eventuell einiges ändern. Unseren Fokus, all die Kraft, Zeit und materiellen Ressourcen würden wir dann viel mehr in diese Richtung lenken anstatt in Richtung der alten Kompetenzen und Lernziele. Die Nachhilfestunden müssten vielleicht einer größeren Freizeit weichen. Schließlich wollen wir alle nur das Beste für unsere Kinder. Aber fast automatisch weckt so ein Richtungswechsel unsere Sorgen um die Qualität der Zeugnisnoten und des Schulabschlusses.
Fragen wir Eltern uns doch mal: Was ist eigentlich dieses Beste, das wir für unsere Kinder wollen. Worum geht es beim Aufwachsen eigentlich? Welches Idealbild herrscht in der eigenen Familie? Ein Einser-Abi? Oder wäre auch ein Vierer-Abi okay? Oder gar kein Abi, sofern unsere Kinder wissen, was für Menschen sie in dieser Welt sein wollen? Oder legen wir sogar überhaupt keinen Wert auf Abschlüsse, solange sie sich mit anderen verbinden können und ihre Lernlust lebt? Müssen wir uns jetzt also entscheiden? Entweder Entfaltung oder ein gutes Zeugnis? Und: Geht denn nicht beides?
Sollten wir unsere Kinder jetzt nicht mehr zur Mathe-Nachhilfe schicken, sondern zum Improvisationstheater? Oder auch das nicht? Sollten wir lieber mehr zweckloses Chillen mit Kumpels zulassen, statt auf erledigte Hausaufgaben zu drängen? Sollten unsere Kinder eher kreative GIFs für ihre Instagram-Storys anfertigen, statt für die morgige Klausur zu büffeln? Und überhaupt: Wer garantiert uns denn, dass die Zukunft auch wirklich so kommt, wie ständig behauptet wird? Wer weiß das schon? Sollten also nicht besser wir Erwachsenen der Kompass für unseren Nachwuchs bleiben? Schließlich ist aus uns doch auch etwas geworden.
Die Angst vieler Eltern, aus ihrem Kind könnte „nichts werden“, ist verständlich. Je ungewisser die Zukunft erscheint, desto geringer ist unser Vertrauen darauf, dass sie gut wird. Und da wir Erwachsenen den stärksten Einfluss auf die Zukunftschancen unserer Jüngsten haben, sollten wir sie auch möglichst früh fördern, mit all dem, was uns selbst bisher halbwegs vernünftig erschien. Oder?
Das sind nachvollziehbare Überlegungen. Wir können sie Ihnen nicht abnehmen. Aber vielleicht können wir Ihnen mit den folgenden Ausführungen die Auseinandersetzung erleichtern. Denn Sie stehen vor keiner „Entweder-oder-Entscheidung“. Vielmehr geht es darum, eine souveräne Haltung zu finden, die Ihnen im Familienalltag als Eltern, im Berufsalltag als Lehrer und vor allem im Schulalltag als Schüler Orientierung gibt und hilft, Prioritäten zu setzen.
Der Konflikt vieler Lehrer
Seit zwölf Jahren geben wir mit unserem Verein Eduventis Fortbildungen, Workshops und Coachings für Lehrer. Mittlerweile sind wir rund 10.000 Lehrern persönlich begegnet. Meistens stellen wir unseren Teilnehmern zum Anfang des gemeinsamen Tages die Frage, warum sie mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Wir bitten alle, sich einige Minuten Zeit zu nehmen, in sich zu gehen und ihre Antworten auf Karten zu schreiben. Diese Karten sortieren wir dann nach Übereinstimmung und arbeiten weiter mit ihnen. Wir haben diese Antwortkarten in all den Jahren gesammelt, inzwischen ist der Stapel schon recht groß.
Es wird Sie nicht überraschen: Acht von zehn der Lehrer antworten sinngemäß, dass ihnen die Kinder und Jugendlichen menschlich am Herzen liegen. Sie wollen ihr Wohlergehen fördern und sie in ein bestmöglich gelingendes Leben begleiten. Einer von zehn nennt vorrangig eigennützige Gründe. Der Job hält jung und so weiter. Und ein weiterer von zehn mag vor allem, dass der Lehrerberuf ein sicherer Job mit gutem Gehalt ist.
Diese zwei von zehn Lehrern lassen wir mal außen vor und konzentrieren uns auf diejenigen, die sich in erster Linie um ihre Schüler kümmern wollen. Sie stehen in einem Konflikt. Ihr Beweggrund widerstrebt ihrem Dienstauftrag. Sie haben zwar den Auftrag, die Schüler zum Klassenziel zu führen, jedoch nicht alle mit Bestnoten. Sie sollen selektieren, in der Klasse möglichst die Normalverteilung nach Gauß im Notenspektrum herstellen. 25 Prozent Einserschüler, 50 Prozent Zweier- und Dreier-Durchschnitte und 25 Prozent schlechter als Drei. Zudem sitzen ihnen mitunter noch Eltern im Nacken, die ihnen, was den Schulerfolg ihrer Kinder betrifft, nicht würdevoll, sondern fordernd bis übergriffig begegnen. Dabei wünschen sich nahezu alle Lehrer nichts mehr als ein gelassenes Verhältnis zu den Eltern ihrer Klasse.
Mit anderen Worten: Die meisten Lehrer können also im Alltag gar nicht das ausleben, worum es ihnen persönlich eigentlich geht. Sie müssen in zu knapper Zeit mit zu vielen Schülern unter zu schlechten Bedingungen ihren Stoff schaffen und dabei den fremdbestimmten Notenspiegel berücksichtigen.
Die Diskrepanz zwischen dem Bild, was für Lehrer sie in ihren Schulen gern wären, und ihrem erlebten Berufsalltag erzeugt einen Schmerz. Viele schildern uns diesen Schmerz ganz direkt, anderen sieht man ihn an. Er steht geschrieben in ihrer Körperhaltung, ihrem Gesichtsausdruck, ihren etlichen Krankmeldungen mit mannigfaltigen Diagnosen. Wenn Menschen sich nicht mehr als Subjekte ihres Herzensberufs erleben, kann das tatsächlich krank machen. #BurnOut
Die Befreiung
Zunächst: Der Konflikt ist kleiner, als er erscheint. Für Schüler, Eltern und auch Lehrer. Aus der Nähe betrachtet steht nämlich nicht das Abschlussziel an sich dem Erhalten und Entfalten der Lernlust und Verbundenheit im Wege, sondern der Alltag, den Kinder und Jugendliche bis dahin erleben. Das Trimmen auf ein Leistungsideal, das Vergleichen zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Schülern, das Pauken von Themen, die sie nicht interessieren, der Mangel an informellen Begegnungen im durchgetakteten Wochenplan, das Genügen-Müssen, die Gewohnheit, sich an äußeren Ansprüchen zu messen.
Würde es gelingen, diese psychologischen Abrichtungsmuster abzumildern oder gar aufzulösen, stünde die Schulzeit gar nicht so arg im Konflikt zu den günstigen Erfahrungen für ein gelingendes Leben. Im Gegenteil, dann könnte sie sie nicht nur nicht verhindern, sondern sie möglicherweise sogar unterstützen. Wir sehen drei Wege der Befreiung: die Befreiung durch Weggang, die Befreiung durch Umbau und die Befreiung durch Haltung.
Die Befreiung durch Weggang
Schüler und ihre Eltern können natürlich die Schule wechseln. Zu Bildungseinrichtungen, die die günstigen Erfahrungen von vornherein schon auf ihrer Agenda haben. Die Evangelische Schule Berlin Zentrum, die Aktive Schule Potsdam, alle Waldorfschulen oder andere anthroposophische und reformpädagogische Ansätze leben allesamt ein Grundverständnis vom Kind als Subjekt und Gestalter. Weitaus schwieriger, aber nicht unmöglich wären auch Formen der Homeschooler oder der Freilerner. Lehrer können in solchen Kontexten ihren Beruf noch mal neu lieben lernen und sich besser entfalten. Natürlich sind nicht für jeden Lehrer und jeden Schüler ausreichend Plätze an solchen Schulen verfügbar. In ländlichen Regionen ist die Auswahl ohnehin begrenzt.
Die Befreiung durch Umbau
Schüler, Eltern, vor allem aber Lehrer können an ihrer bisherigen Schule bleiben, diese aber umgestalten, ihre alten Bildungsziele, Inhalte und Strukturen in Bewegung bringen. Elternrat und Lehrerkollegium können hier viel bewirken. Der Nationale Aktionsplan zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) bietet in Deutschland die Gesetzesgrundlage, nach der sich allerhand günstige Erfahrungen für unsere Erwachsenen von morgen umsetzen lassen. Der BNE ermöglicht auch finanzielle Mittel, um diesen Umbau zu unterstützen. Erfahrene Bildungsakteure wie der Eduventis e. V. eignen sich als externe Partner beim Umbau. Der größte Hebel dafür liegt nicht bei den Zielen und Inhalten, sondern im Verändern der Organisationsstruktur. Ein Wandel der täglichen und wöchentlichen Abläufe, der Stundentafel, eine Neudefinition der Lehrerrolle — all das kann einen Wandel der Kultur und des Miteinanders bewirken.
Die Initiativen „Schule im Aufbruch“ in Deutschland und „Schulen der Zukunft“ in der Schweiz haben sich zu diesem Zweck gegründet. Sie inspirieren und begleiten Schulen, ihre Kollegien und Träger beim Struktur- und Kulturwandel. In Deutschland haben sich bereits etwa 200 Schulen auf diesen Weg begeben. In Österreich sind es an die 300 Schulen, und auch in der Schweiz gibt es zahlreiche Schulen, die entsprechende Prozesse in Gang gesetzt haben. Jede Schule, die offen dafür ist, kann sich hier Unterstützung holen.
Für die Befreiung durch Umbau braucht es unbedingt mehrere Mitwirkende. Schulleitung, Lehrerkollegen, Eltern und Schüler sollten an einem Strang ziehen. Der schnellste und effektivste Weg der Befreiung, den Sie sofort und ohne Mitwirkung anderer gehen können, ist jedoch der dritte Weg: die Befreiung durch Haltung. Da dieser Weg auch den meisten Mut erfordert, widmen wir ihm etwas mehr Aufmerksamkeit.
Die Befreiung durch Haltung
Der Leistungsdruck und all seine Folgen gründen auf dem Mythos vom Schulabschluss als Weichenstellung in die Zukunft. Eine gute Zukunft, so heißt es, hängt stark von den Berufschancen ab. Und diese hängen vermeintlich vom Schulabschluss ab. Ein gutes Abitur bietet also eine bessere Zukunft als ein Abi mit Ach und Krach. Ein Abi mit Ach und Krach ist aber immer noch besser als ein Real- oder ein Hauptschulabschluss. Viele glauben, wer ein schlechtes oder gar kein Abitur hat, dessen gute Zukunft sei schon halbwegs eingeschränkt. Der kann zumindest kein Arzt werden. Weniger angesehene Berufe mit geringerer Vergütung und geringeren Karrierechancen bleiben letztlich übrig.
Diese Berufe muss zwar auch jemand ausüben, aber kein Kind soll hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben. Die richtig gute Zukunft gibt’s letztlich nur mit richtig gutem Schulabschluss. Der Schulabschluss wiederum hängt von den Schulnoten ab. Und die wiederum hängen von den Klausuren und Tests ab. Die Klausuren und Tests hängen von den Unterrichtsstunden und den Hausaufgaben ab. Und deshalb muss jedes Kind in den Unterrichtsstunden aufmerksam aufpassen, alle Hausaufgaben sorgfältig erledigen, zu Hause büffeln und in den Tests und Klausuren hervorragende Noten schreiben. Wer das verbockt, hat im Endeffekt fast keine Chance auf eine gute Zukunft. Also: Unterricht, Büffeln, Hausaufgaben, Klausuren, Noten, Abschlussprüfung! Das Dogma der Kindheit.
Dieser Mythos vom Schulabschluss als Weichenstellung in die Zukunft prägte das bisherige Motto elterlicher Lernfürsorge: „Schule geht vor!“ Er erzeugte und erzeugt noch immer all den Druck, der die günstigen Erfahrungen im Aufwachsen verhindert.
Doch so überraschend es klingen mag, bereits heute lassen sich Schulbesuch und Erhaltung der Lernlust einigermaßen vereinbaren. Dazu ist es nötig, den Mythos aufzulösen und die mentale Macht des Leistungsdrucks zu verringern, indem wir Schulerfolg nicht mehr mit gelingendem Leben gleichsetzen. Schule als Abbild der Lebensrealität hat längst ausgedient. Sollte dies überhaupt jemals gestimmt haben, so ist diese Episode vorbei.
Ohne diesen Mythos wird die Schulzeit handhabbar für Kids und Eltern. Schule verliert dann ihr Monopol auf Bildung. Sie wird zu einer von mehreren Notwendigkeiten, die es im Leben zu vereinbaren gilt. Die Schulzeit wird dann zu einer Lebensphase, die es zu nutzen gilt, ohne unterwegs die Lust am Lernen und Gestalten zu verlieren. Sie wird zu einer Chance. In ihr kann man lernen, wie man die eigene Begeisterung beschützt und mit Konflikten umgeht. Und für Lehrer eröffnet sich ohne diesen Mythos ein Berufsalltag, in dem sie beides schaffen können: Lern- und Gestaltungslust entfalten und ihren Dienstauftrag erfüllen. Lehrer wie auch Schüler und Eltern können dann viel leichter und spielerischer mit schulischen Angelegenheiten umgehen. Aus einer druckfreien Haltung heraus können wir Erwachsenen den Kindern dann helfen — solange die Schulstrukturen noch ihre psychologischen Abrichtungsmuster zelebrieren —, unbeschadet durch das alte Gewässer zu schippern und in ihrem Aufwachsen die günstigen Erfahrungen zu sammeln.
Das angstbesetzte Streben nach einem guten Schulabschluss und der daraus entstehende Schulstress sind schon heute vollkommen unnötig, nicht nur für ein gelingendes Leben, sondern auch für den Zugang zu angesehenen Berufen. Dazu gleich ein paar unpopuläre Fakten. Also, Achtung: In wenigen Minuten stirbt ein Mythos.
Leute, schaut mal, sie bauen den Zirkus ab
Wir werden den Mythos jetzt Schritt für Schritt abbauen. Wir demontieren ihn wie ein riesiges Zirkuszelt. Zirkus Mythos. Hier werden die Löwen dressiert, gelobt und bestraft. Sie tanzen in der Manege, und das Publikum klatscht. Sie entfremden sich ihrer eigenen Natur, ihre wahre Stärke tritt dabei kaum zutage. Aber die Show geht weiter, muss weitergehen. Mitunter vollbringen sie wahre Kunststücke. Draußen in der freien Wildbahn aber könnten sie mit ihrer speziellen Ausbildung mittlerweile kaum überleben. Der Zirkus selbst besteht aus nichts weiter als einer Zeltplane, einem Gerüst und Seilen, die ihn halten. Zuerst kappen wir die Seile.
Glauben Sie wirklich, ohne Erfolg im Schulunterricht blieben Kinder „dumm“, nicht lebensfähig? Wir wissen inzwischen: Die Arbeitswelt von morgen rekrutiert nicht mehr nach Schulerfolg und Schulabschlüssen, sondern nach Persönlichkeit, Können und Wollen. In unserer Arbeit mit Ausbildungsbetrieben bewegen wir uns in verschiedensten Branchen. Wir haben mit der Industrie ebenso zu tun wie mit Handel und IT. Seit mehreren Jahren erleben wir bei der Bewerberauswahl dieser Unternehmen flächendeckend eine deutliche Tendenz hin zur Persönlichkeit der Bewerber und deren Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen — und weg von der Bedeutung von Schulnoten im Abschlusszeugnis.
Die Deutsche Bahn schaut bereits seit 2013 nicht mehr auf Schulnoten. Stattdessen führen die Bewerber einen Online-Test durch, der zeigen soll, wie sie so drauf sind, wie engagiert und interessiert sie sind. Das geht schnell und macht jeden Bewerber interessant. Zwar sollen sie noch einen Schulabschluss nachweisen. Es spielt aber keine Rolle, wie gut oder schlecht die Noten darin sind.
Auch bei Siemens setzt man auf sogenannte Online-Assessments. Zeugnisnoten haben daneben zwar noch eine gewisse Relevanz, sind aber schon seit 2009 immer weiter in den Hintergrund getreten.
Die Drogeriemarktkette dm gilt aktuell als einer der beliebtesten Ausbildungsbetriebe Deutschlands. Als wir nachfragen, worauf bei ihrer Auswahl von Nachwuchskräften der größte Wert gelegt wird, verrät man uns: „Die Ansprüche der (jungen) Menschen an die Arbeitswelt ändern sich, und die Persönlichkeit der Mitarbeiter sowie deren soziale Kompetenzen erlangen immer mehr Wichtigkeit. Diese Eigenschaften sind für unsere Kernaufgaben, besonders in den dm-Märkten, ein wesentlicher Bestandteil, daher wird im Rahmen unserer Bewerberauswahl darauf viel Wert gelegt. Zudem stellt die Persönlichkeit eine gewisse Grundausstattung eines jeden dar und kann nur schwer verändert beziehungsweise erlernt werden, im Gegensatz zu Fachkenntnissen, die bei Bedarf grundsätzlich leichter erworben werden können.“ Statt Eignungstests werden bei dm Gruppengespräche geführt, um einander kennenzulernen. Die passenden Bewerber werden dann zu einem Schnuppertag eingeladen. Danach treffen beide — Bewerber und Betrieb — ihre Entscheidung.
Die Bahn, Siemens, dm, das sind drei große deutsche Arbeitgeber. Mittlere und kleine folgen ihrem Beispiel. Sie achten auf Interesse und Engagement der jungen Nachwuchskräfte. Sie suchen Leute, die wollen. Das ist es, was in Unternehmen heute und ganz sicher auch in Zukunft zählt. Motivation, Persönlichkeit und zwischenmenschliche Fähigkeiten werden im Berufsleben unserer Kinder die größte Bedeutung haben. Und so etwas lässt sich nicht von Zeugnissen ablesen. Zensuren gelten deshalb in einigen Unternehmen schon heute nur noch als informatives Beiwerk im Bewerbungsverfahren. Und der Trend, weg von Schulnoten, geht rasant voran. Die sich wandelnde Arbeitswelt braucht nämlich mehr Gestalter als Wissensträger.
Noch wichtiger als Fachwissen und spezielles Können sind ihnen die Fähigkeiten der Bewerber im Umgang mit sich selbst, mit ihren Aufgaben und mit ihren Mitmenschen. Um ihre Geschäftsmodelle in die digitale Zeit zu transferieren und ihre globalen Probleme in den Griff zu kriegen, suchen Unternehmen Leute, die ihre Ellenbogen einfahren und miteinander ko-kreieren können, Leute, die mutig um die Ecke denken, die proaktiv handeln, anstatt zu fragen, welche Seite sie als Nächstes aufschlagen sollen. Unternehmen und Betriebe haben begriffen, dass heute niemand mehr „fertig ausgelernt“ ist, sie ermöglichen deshalb ihrer Belegschaft lebenslanges Lernen. Sie entwickeln sich aus diesem Grund mehr und mehr zu Lernorten.
Dieser Wandel entsteht aus der Digitalisierung des Arbeitsmarkts. Im ersten Teil wurde gezeigt, wie relevant menschliche Eigenschaften für das Arbeiten im 21. Jahrhundert werden. Doch noch eine zweite Schere ist am Werk, die die Seile am Zirkuszelt durchtrennt: Sie hat mit Demografie und Fachkräftemangel zu tun. Weil es nicht genügend Bewerberinnen und Bewerber gibt, verlieren Schulnoten als Auswahlkriterium an Bedeutung. Große und kleine Ausbildungsbetriebe können es sich nicht mehr leisten, Bewerber voreilig wegzuschicken. Statt zu prüfen: „Ist der Bewerber gut genug?“, fragen Personalverantwortliche sich daher eher: “Passt er zu uns, könnte er hier zu der Fachkraft werden, die wir suchen? Und kann es uns gelingen, dass er lange bei uns bleibt?“
So, die Seile sind ab. Als Nächstes demontieren wir im Zirkus Mythos das Gerüst. Stange für Stange ziehen wir unter der Plane hervor. Oder anders gesagt: Selbst bei den angesehensten Berufen unserer Gesellschaft ist das Abitur unbedeutender, als Sie vermutlich glauben. Es kann nämlich jeder Arzt werden, wenn er es denn wirklich will. Oh doch. Wer diesen Beruf inständig ergreifen will, der kann dies heute tun. Das geht sogar mit einem Vierer-Abitur. Dafür gibt es verschiedene Wege. Einer davon ist eine Bewerbung an der privaten Universität Witten/Herdecke. Mit einem außergewöhnlichen Auswahlverfahren betrachten sie dort jeden Studienbewerber individuell und vergeben ihre Studienplätze ohne Numerus clausus. Ein anderer und kostenfreier Weg ist der Zugang zum Studium über Wartesemester. Zwischen sechs und acht Jahren seit Schulabschluss dauert aktuell die Wartezeit in Deutschland. Dann kommt jeder, auch mit einem Vierer-Abitur, zum Zug.
Eine dritte Alternative ist ein Studium im europäischen Ausland, etwa in der Slowakei. Auch hier wird kein bestimmter Abiturdurchschnitt vorausgesetzt. Nach dem Ersten Staatsexamen ist oft der Wechsel an eine Universität in Deutschland möglich. Er ist nicht ganz einfach, gelingt aber meist. Wenn nicht, dann wird im Ausland zu Ende studiert. Für die anfallenden Studiengebühren und den Lebensunterhalt helfen relativ hoch verzinste Studienkredite. Diese können Auslandsstudierende bei der ein oder anderen Bank in Deutschland erhalten und später von ihrem relativ hohen Arztgehalt zurückzahlen.
Sie sehen, entscheidend ist der Wille, es wirklich durchzuziehen. Viele von Ihnen wurden bestimmt schon von Ärzten behandelt, die einst ein Vierer-Abitur hatten. Haben Sie es jemals bemerkt?
Das waren noch halbwegs bekannte Nachrichten. Was aber wirklich wenige Leute, ja, oft nicht einmal Ärzte wissen: Ihr Kind kann in Deutschland auch ohne Abitur Arzt werden. Ja, Sie lesen richtig, das geht. Im Jahr 2017 haben laut dem Online-Portal „Studieren ohne Abitur“ bundesweit 14.595 Personen ohne Abitur oder ohne Fachhochschulreife ein Studium begonnen, 1.679 davon in Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften.
Die Variante wird Dritter Bildungsweg genannt und heißt, dass der Zugang zum Studium möglich ist, wenn jemand eine Berufsausbildung abgeschlossen, einen Meisterabschluss oder gleichwertige Aufstiegsfortbildung erlangt hat.
Der Arztberuf ist nur ein Beispiel von vielen begehrten Professionen, die heute auf mehr Wegen als weithin bekannt ergriffen werden können. Nichts ist also dran an der verbreiteten Annahme, nur mit Abitur hätten unsere Kinder eine freie Berufswahl. Die Wahrheit ist: Egal, mit welchem Abschluss sie die Schule verlassen — solange sie eine innere Orientierung haben und wissen, was sie aus ihrem Leben machen wollen, können sie nahezu jeden Beruf erlangen, den sie sich wünschen.
Und nun, nachdem wir auch das Gerüst entfernt haben, fegen wir noch die schlaffe Zeltplane des Zirkus Mythos vom Boden.
Viel Druck entsteht nämlich auch durch die Bildungsempfehlung, die in Grundschulen ausgesprochen wird. Eltern betrachten sie noch immer als Weichenstellung für spätere Zukunftschancen. Leistungsdruck entsteht außerdem dadurch, dass die zentralen Schulabschlussprüfungen vom Staat festgelegt werden und Eltern der Meinung sind, ihre Kinder müssten bis dahin alles auf dem Kasten haben, um eine solche Abschlussprüfung zu bestehen. Einteilung des Lernens im eigenen Tempo ist nicht möglich. Mithalten ist angesagt. Wir bieten eine andere Sichtweise an, um uns alle auch von diesem Druck zu befreien.
Klar ist nun, keiner braucht zwingend das Abitur, um zu studieren. Wer es aber doch haben will, kann sich entspannen: Auch hier bestehen mehrere Möglichkeiten. In Deutschland gilt eine gesetzliche Schulpflicht von elf bis zwölf Jahren, je nach Bundesland. Nach Ende dieser Schulpflicht können alle Abschlüsse allgemeinbildender Schulen selbstständig erworben werden. Das steht seit vielen Jahren im Schulgesetz und wird in den verschiedenen Bundesländern Externenprüfung, Schulfremdenprüfung oder auch Nicht-Schülerprüfung genannt. Zuständige Ansprechpartner dafür sind die jeweiligen Schulämter. Die Kosten für solch eine externe Prüfung liegen zwischen null Euro und 350 Euro. In der Regel kostet eine externe Mittlere Reife weniger als ein externes Abitur. Die Vorbereitungen, um diese Prüfungen zu bestehen, sind Sache des Prüflings. Er kann drei Wochen, drei Monate oder auch drei Jahre damit zubringen, ganz wie es ihm beliebt.
Falls Sie die Externenprüfung in Erwägung ziehen, hier ein paar Worte zum rechtlichen Rahmen, bezogen auf Deutschland. Nach neun bis zehn Jahren Vollzeit-Schulbesuch — meist sind die Schüler dann fünfzehn Jahre alt — besteht in allen Bundesländern nur noch eine Teilzeitschulpflicht. Diese dauert je nach Land zwei bis drei Jahre oder bis zum achtzehnten Lebensjahr an. Sie kann auf vielfältige Weise erfüllt werden. Klassische Wege sind die Berufsausbildung mit Besuch der Berufsschule, das Berufsvorbereitungsjahr, das Berufsgrundjahr und, Achtung, das Gymnasium. Ja, auch nach Abschluss der mittleren Reife besteht die Variante zum Abitur an einem Gymnasium. Außerdem erkennen die Behörden auch den Bundesfreiwilligendienst #BuFDi, das Freiwillige Soziale Jahr #FSJ, #FSJKultur, das Freiwillige Ökologische Jahr #FÖJ oder Praktika im In- oder Ausland an. Diese Formate lassen sich auch hintereinanderknüpfen.
Wenn Ihr Kind kein Gymnasium, kein Berufsgymnasium, keine Fachoberschule oder ähnliches besucht, dann spart es seine zwei Abiturversuche eben für später im Leben auf. Wir haben mit zahlreichen jungen Menschen gesprochen, die diesen Weg im eigenen Tempo beschreiten. Sie alle wählten eine der genannten Möglichkeiten, um nicht in Konflikt mit der Teilzeitschulpflicht zu geraten. Nach dem Ende der Schulpflicht, also zum Beispiel mit neunzehn Jahren, kann jeder Mensch, der nicht Schüler einer Schule oder anerkannten Ersatzeinrichtung ist, ein externes Abitur ablegen, auf das er sich in der für ihn passenden Weise und Dauer vorbereitet. Man meldet sich in dem Land, in dem man wohnt, zur Prüfung an, geht am betreffenden Tag hin, beantwortet dort die Fragen auf dem Zettel und geht anschließend wieder hinaus. Und falls es nicht geklappt hat, gibt es noch einen zweiten Versuch. Die Details lassen sich bei den jeweiligen Schulbehörden erfragen.
Insgesamt können wir sagen: Jedes Kind hat die Option, das Abitur auch nach der Schulzeit zu machen und danach direkt zu studieren. Es ist nicht an den Besuch des Gymnasiums gekoppelt. Schüler können beispielsweise den gymnasialen Unterricht auch bis zum Ende der zehnten Klasse mitnehmen, die Mittlere Reife erwerben, das Gymnasium verlassen, zwei bis drei Jahre lang etwas anderes machen und sich dann selbstständig auf das Abitur vorbereiten. Den richtigen Zeitpunkt dafür können Menschen frei wählen. Worauf wir hier hinweisen, ist kein Trick, sondern simples deutsches Recht. #LifeHack
Das mag nun gut klingen. Aber schaffen sie das Abitur dann auch? Wenn sie sollen, sicher nicht. Aber wenn es ihnen etwas bedeutet, sie die Herausforderung selbst wählen, dann stehen die Sterne günstig. Wer keine Kindheit unter Druck verbracht hat, sondern seine Lernlust bis ins Jugendalter bewahren konnte, wer hier und da gelernt hat, ein Thema zu recherchieren und Dinge durchzuziehen, auch wenn es mal schwierig wird, der wird als Jugendlicher auch in der Lage sein, sich dieses Abitur zu holen.
Wer dies nicht allein machen will, dem sei der Verein „Abinom“ im baden-württembergischen Freiburg empfohlen. Jugendliche zwischen siebzehn und einundzwanzig haben sich hier vor einigen Jahren zu einer Lerngemeinschaft zusammengeschlossen, um sich gemeinsam auf ihre externen Prüfungen vorzubereiten. Sie nehmen sich dafür zwischen einem und drei Jahren Zeit. Dafür haben sie nebenberufliche und pensionierte Lehrer engagiert, die sie von Herzen gern und achtsam unterstützen. Sie treffen sich in kleinen Gruppen in ihren Vereinsräumen, arbeiten in familiärer Atmosphäre und motivieren sich dabei gegenseitig. Die Organisation übernehmen die Jugendlichen komplett selbst. Neben dem Abi-Stoff lernen sie dabei noch, Verantwortung zu tragen. Sie finanzieren das alles über Spenden und Mitgliedsbeiträge, die weit unter den Beiträgen freier Schulen liegen.
Auch „Methodos“ in Freiburg bietet solch eine Lerngemeinschaft an, weitere etablieren sich derzeit in ganz Deutschland. Methodos und Abinom sind wunderbare Beispiele dafür, wie Jugendliche ihr Ziel selbst in die Hand nehmen, ganz ohne Gymnasium. Wer selbst so eine Lerngruppe gründen möchte, kann sich für Tipps gern an die Mitglieder von Abinom wenden. #Nachmachen
Impulse für den Alltag
Erkennen Sie als Eltern hier die Ähnlichkeit zum Führerschein? Niemand von uns würde im Grundschulalter einen Gedanken daran verschwenden, ob das eigene Kind in sieben Jahren mal einen Führerschein erwerben wird, weil dieser so wichtig für sein späteres Leben ist. Wenn es dann eines Tages den Wunsch äußert, Auto fahren zu dürfen, unterstützen wir es und besprechen gelassen den geeigneten Zeitpunkt, die geeignete Lernform, den Ort, den Lehrer, die Dauer, den Turnus. Und drücken ihm die Daumen.
Genauso entspannt können wir es auch mit dem Abitur halten. Studieren geht auch ohne Abi, das Abi geht auch ohne Gymnasium. Ihrem Kind stehen in Deutschland alle Wege offen. Es gibt keinen Grund, die ausgesprochene Bildungsempfehlung in der vierten Klasse als wegweisend für das Leben zu erachten. Das ist vollkommen unnötig. Also geben wir ihr nicht länger diese große Bedeutung, die ihr in Wahrheit ja überhaupt nicht zusteht. So befreien wir uns Eltern und unsere Kinder von dem Leistungsdruck und von den negativen Auswirkungen auf das Selbstbild, die diese Bildungsempfehlung oft in der Kindheit erzeugt. Die Entscheidung über Schulart und Bildungsgang dürfen wir Eltern gemeinsam mit unseren Kindern nun statt nach Kriterien des Schulerfolgs mit freiem Blick auf sein gelingendes Leben treffen. Kein Schulabschluss wird das Leben eines Kindes so stark beeinflussen wie das Selbstbild, das es bis dahin von sich erschaffen hat, die Art, in der es sich in die Gemeinschaft eingebunden fühlt, und die Leichtigkeit, mit der es dann neue Herausforderungen anpackt.
Wir dürfen seine Schulzeit daher beruhigt gestalten, seine Schulart und seinen Bildungsgang anhand dessen wählen, wo es voraussichtlich die entspannteste Kindheit, die meiste Freude, die stabilsten Freundschaften und die größten Gestaltungsmöglichkeiten (Projektarbeit, Exkursionen, Feste) haben wird. Wie gelassen wird es die Zensurengebung in der jeweiligen Schulform erleben? Gibt es ältere Schüler, die für jüngere da sind? Wie viel Raum für Spiel gibt es im Leben des Kindes, wenn es diesen oder jenen Bildungsgang besucht? Die erhaltene Bildungsempfehlung brauchen wir zu Hause nicht mal zu erwähnen — höchstens beiläufig, als weiteren Impuls, nachdem wir mit unserem Kind, mit den Eltern seiner Freunde und auch mit seinen Mentoren gesprochen haben. Wir können ihm eine wunderbare Kindheit während der Schulzeit ermöglichen. #HalbSoWild
Gute Schulabschlüsse sind eine gute Sache, wenn Schüler sie entspannt erreichen. Niemals sollten solche Abschlüsse auf Kosten ihrer Lernfreude, ihres Selbstwertgefühls oder ihrer Verbundenheit gehen. Es ist absolut unnötig und schädlich, unsere Kinder entsprechend zu trimmen.
Die Qualität des Miteinanders und der Zeit, die sie in ihrer Schulzeit erleben, ist relevanter für deren Zukunft als gute Prüfungsergebnisse. Und wenn unsere Kinder dann „groß“ sind und sie es als junge Erwachsene für sinnvoll halten, einen besseren Abschluss zu erlangen, können wir sie dabei unterstützen, dieses Projekt zu realisieren. Haben sie bis dahin ihre innere Orientierung ausgeprägt und ihre Lust am Lernen erhalten, werden sie sich jedes benötigte Wissen und Können aneignen können und passende Zugänge zu beruflichen Chancen finden. Ganz gleich, welche Noten da einst auf einem Zettel standen.
Natürlich können wir es weiterhin für wichtig erachten, unseren Kindern in jungen Jahren möglichst viel Nützliches zu vermitteln, damit sie sich in verschiedenen Wissensgebieten auskennen. Dieses Ausbildungsideal ist legitim. Aber es wird nur wenig zu einem gelingenden Leben beitragen. Dieses wird eher wahrscheinlich, wenn wir ihnen ermöglichen, sich darüber bewusst zu werden, wie sie beschaffen sind und wie sie sich auf eine ko-kreative Weise mit anderen verbinden können, um gemeinsam Großes zu vollbringen. Erst nachdem unseren Kindern diese Vorbildungsleistung ermöglicht wurde, können wir uns auf Wissen und Können konzentrieren. Ohne den ersten Schritt kann ihre Bildung und Erziehung nur ein Unterfangen von Anpassung und Normierung bleiben. Und als normierte, angepasste Bewerber haben sie am Arbeitsmarkt immer weniger Chancen.
Ihren normierenden und entfremdenden Schulalltag können Kinder mit Bestnoten bewältigen. Dass sie danach aber um 15 Uhr nach Hause kommen und sich vor lauter Ermattung so leer und stumpf fühlen, dass sie keinerlei Antrieb mehr verspüren, sich schöpferisch zu betätigen, widerstrebt ihrer Natur. Die Arbeitswelt, die sie erwartet, braucht kaum mehr angepasste Pflichterfüller. Die Gewöhnung an solch einen Alltag verbaut unseren Kindern schon heute ihre beruflichen Perspektiven, keine Bestnote kann das mehr wettmachen. Wenn wir ihnen aber ein neues Aufwachsen im Alltag ermöglichen, erschafft das für sie auch eine neue gesellschaftliche Realität. #Heldengesellschaft
Ein Beispiel — wenn Sie Eltern von Fünft- oder Sechstklässlern sind, kennen Sie vielleicht Situationen wie diese:
Die ganze Familie kommt nach einem langen Tag relativ spät nach Hause. Die Eltern haben ihr Kind noch von seinen Freunden abgeholt. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Ein kurzes Abendbrot, danach bereiten sich alle allmählich darauf vor, ins Bett zu gehen. Kurz vor dem Zudecken fällt dem Kind ein, dass am nächsten Tag eine Klausur ansteht, für die es noch gar nicht gepaukt hat.
Wie würden Sie damit umgehen?
Sie könnten sofort Ihren Unmut äußern, sich aufregen, Ihr Kind für seine Schusseligkeit kritisieren. Sie könnten mehr Disziplin und Verantwortungsbewusstsein von ihm einfordern. Sie könnten die Situation eskalieren lassen. Sie könnten Ihr Kind dazu zwingen, und sei es noch so müde, vor dem Einschlafen noch eine Stunde lang zu pauken. Den Tag würden Sie auf diese Weise entzweit beenden. Ihr Kind würde wahrscheinlich mit einer negativen Stimmung einschlafen und sich alleingelassen fühlen. Am nächsten Morgen könnten Sie es noch mit einem strengen Blick und dem Appell, sich aber ja ordentlich anzustrengen, auf seinen Schulweg verabschieden.
Sie könnten das Ganze aber auch anders gestalten. Sie könnten die Sache „klein halten“, sich mit ihrem Kind für fünfzehn Minuten konzentriert zusammensetzen, um die wesentlichen zwei bis drei Klausurfragen herauszufinden. Diese könnten Sie dann kurz und in guter Stimmung gemeinsam pauken, um eine realistische Mindestnote zu erreichen. Die Angst vor einer schlechten Note wird Ihrem Kind damit genommen. Sie geben ihm einen Gutenachtkuss, sagen ihm, dass Sie immer zu ihm halten, komme, was wolle. Ihr Kind wird einigermaßen gut und mit dem Gefühl von Sicherheit einschlafen. Am nächsten Morgen könnte es halbwegs entspannt zur Schule aufbrechen. Es wäre so fähig, sein Bestmögliches in der Klausur abzurufen.
Eine dritte Möglichkeit wäre, noch am Abend eine Betreuung für den kommenden Tag zu organisieren, sodass Sie Ihr Kind im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten von der Schule freistellen können. So verschaffen Sie ihm Zeit, um mit Online-Lernplattformen wie Khan Academy oder Schlaukopf in aller Ruhe zu Hause für die Klausur zu trainieren. Zusätzlich könnten Sie auch einen Lernbegleiter engagieren, der das Ganze ein wenig unterstützt. In der Schule könnte sich Ihr Kind dann später selbstständig um einen Nachschreibetermin für die Klausur kümmern, den es gut vorbereitet wahrnimmt.
Fallen Ihnen noch weitere Wege ein, um mit dieser Situation umzugehen? Nur zu. Jede Möglichkeit, Ihr Kind vom Leistungsdruck zu befreien, begünstigt seine Bildung für ein gelingendes Leben.
Aufgrund der gesetzlichen Schulpflicht ist es in Deutschland noch nötig, dass wir unsere Kinder in Schulen mit dem alten preußischen Bildungsideal schicken. Das müssen wir tolerieren. Aber die innere Haltung, mit der wir sie dorthin schicken, ist der Hebel zur Veränderung. Die körperliche Anwesenheit in den Schulgebäuden bedingt kein Mitlaufen im Leistungsdruck. Unseren Fokus können wir auf eine gute Kindheit legen, ein gelingendes Leben und die günstigen Erfahrungen, die dazu beitragen. Kurz gesagt, es geht beim Aufwachsen um nichts Wichtigeres als um die positiven Aspekte von Gemeinschaft, Lernfreude und Gestaltungslust und die Ausprägung von innerer Orientierung. Die Bildungsempfehlung für das Gymnasium und gute Vornoten beim Abi sind dafür nicht relevant. Kultivieren wir diese Haltung in unserer Familie, ist der Leistungsdruck für unsere Kinder Schnee von gestern. Genau wie ein abgebauter Zirkus.
Schule mit anderen Augen sehen
Jetzt, wo der Mythos begraben ist, können wir unsere alte Schule ganz neu betrachten. Jetzt, wo wir den ganzen Zirkus vom Schulerfolg nicht mehr mitmachen, können wir in aller Gelassenheit neu bestimmen, welchen Stellenwert wir der Schule im Leben unserer Kinder einräumen. Wie wollen wir diese Schulzeit gestalten? Was an unserer Schule halten wir für wertvoll?
Betrachten wir die Schule nicht mehr unter dem Leistungsaspekt, erkennen wir an ihr einige Aspekte, die zu einem gelingenden Leben durchaus beitragen können. Diese können wir verstärken, mehr Wert auf sie legen, sie vervielfältigen. Damit verschaffen wir unseren Kindern ein günstigeres Aufwachsen, als wenn wir einzig das System kritisieren. Denn ohne den Zirkus um den Schulerfolg hat die Institution Schule ihr Monopol auf die Bildung unserer Kinder verloren. Nun bestimmen wir selbst, worum es beim Aufwachsen geht. Schule ist nun eher eine Ergänzung auf diesem Weg. Ein zwar etwas in die Jahre gekommener, aber wohlwollender Partner, der unseren Kindern trotz aller Kritikpunkte noch eine Menge Gutes zu bieten hat.
Es ist nämlich eine große Errungenschaft, dass es überhaupt Orte gibt, wo unsere Kinder zusammenkommen können — meist kostenfrei —, wo sie andere Kinder und Jugendliche verschiedenen Alters treffen, Freundschaften schließen und Konflikte austragen können, wo sie Klassenfahrten und Wandertage erleben, Projekttage mit Auftritten und Kuchenbasaren, Schulfeste und Weihnachtsfeiern.
Es sind Orte, wo sie Verantwortung übernehmen können, etwa im Schulsanitätsdienst oder in Schülerfirmen, Orte, wo für alle eine Verpflegung organisiert wird, wo es Licht, Heizung und irgendeine Form von Möblierung gibt sowie Personal, das auf allgemeine Sicherheit achtet. Weiterhin gibt es in Schulen viele gute Fachleute, die sich mit einzelnen Kindern befassen, die ihr Wohl im Blick haben, die bei besonderem Bedarf sogar in interdisziplinären Teams zusammenkommen und darüber beraten, was ein Kind braucht. Sie können staatliche Hilfen mobilisieren und sogar Eltern bei Problemen unterstützen. Vor allem an Förderschulen wird in dieser Hinsicht vielerorts wertvolle Hilfe geboten.
Und das ist noch nicht alles, was wir an Schule wertschätzen. In den letzten Jahren haben wir immer wieder Schüler und Eltern erlebt, die die Schule gerade aufgrund ihrer Rückschrittlichkeit als Erfahrung zum Ausprägen einer inneren Orientierung nutzen. Das klingt zunächst erst mal widersprüchlich. Wir meinen das so: Schule als hierarchische Institution, die in ihren Mustern noch immer einer gut funktionierenden Anstalt ähnelt — lange Gänge, abgeteilte Zimmer und Kabinette, portionierte Aufmerksamkeit —, bietet einigen Kids einen extremen Gegensatz zu ihrer außerschulischen Lebenswelt. In den Familien, von denen wir hier sprechen, erleben die Schüler zu Hause kaum eine Ähnlichkeit mit den schulischen Alltagsmustern. Nicht im familiären Umgang, nicht in den Berufstätigkeiten ihrer Eltern. Den Schultag erleben sie als Blase, die nur noch wenig mit ihrem Leben zu tun hat.
Diese Familien kultivieren den Unterschied und begreifen Schule als Erprobungsfeld für das Ausgestalten der inneren Orientierung ihrer Kinder. Die Kids sagen offen ihre Meinung, sie unterlaufen die Anpassungstendenzen dieser veralteten Institution — nicht aggressiv, sondern indem sie eine eigene Haltung einnehmen, ihre Schülerrechte kennen und wahrnehmen, Stellung beziehen. Auf diese Weise kanalisieren sie ihre jugendliche Rebellion, indem sie lernen, eigene Werte zu formulieren.
Gelten solche Schüler als unbequem? Bei einigen Lehrern sicherlich. Andere wiederum bestärken ihren heranreifenden Mut. Bei Mitschülern stehen sie meist hoch im Kurs. Weil sie “ihr Ding machen“, sich nicht alles gefallen lassen.
Wie schaffen die Schüler das? Woher nehmen sie die Kraft? Ganz klar: Sie haben das Gefühl, nichts befürchten zu müssen. In einer Zeit des Freiwerdens, wie sie im ersten Teil beschrieben wurde, ist der Schulbesuch ein Zwangskontext, der aber mehr und mehr aufweicht. Diese Schüler wie auch ihre Eltern sind sich bewusst über das Gewaltverbot an Schulen, das in unserer Gesellschaft inzwischen flächendeckend gilt. Auch seelische Gewalt ist keine Option mehr. Die Eltern informieren sich und ihre Kinder gründlich darüber, welchen Handlungsspielraum Schulleitungen und Lehrer haben und welchen nicht. Häufig pflegen sie zudem gute Beziehungen zu einigen Lehrern ihrer Kinder. Ein solches Maß an Aufgeklärtheit macht es einer Institution aus dem alten Jahrtausend sehr schwer, ihr Korsett aufrechtzuerhalten.
Noch eine zweite Komponente fiel uns in diesen Familien auf. Die Eltern bieten ihren Kindern zu Hause einen absolut sicheren Hafen. Sie geben ihrem Kind bedingungslose Liebe, die es sich nicht zu verdienen braucht. Ihr Credo lautet: „Wir halten immer zu dir, auch wenn du Fehler gemacht hast. Denn wir lieben dich.“ Durch diesen Rückhalt werden Kinder mutig, sie mischen sich ein, wenn sie sehen und erfahren, wie sie oder andere gedemütigt oder unfair behandelt werden. Familien, die so gestrickt sind, kommunizieren viel auf der Gefühlsebene. Statt zu fragen: „Und, wie war die Schule heute?“, erkundigen sich die Eltern auf diese Weise: „Ging es heute fair zu?“, „Hattest du Spaß?“, „Was hast du erlebt auf dem Weg zur Schwimmhalle?“. Gab es Ärger, so fragen sie: „Wie zufrieden bist du damit, wie du in diesem Moment gehandelt hast?“.
Nach geschriebenen Tests interessiert die Eltern nicht so sehr die mögliche Note, eher: „Und, wie entspannt bist du heute im Test geblieben?“, „Was hat dir Druck gemacht? Wie hast du versucht, den loszuwerden?“, „Was ging dir leicht von der Hand?“, „Welche Vorgehensweise hat dir genützt?“. Das Kind spürt durch solche Fragen das Interesse der Eltern an seinem Befinden und seinem Zurechtkommen. Der Notenvergleich hat in diesen Familien, wenn überhaupt, nur untergeordnete Relevanz. #Nebensache
Entfalten ohne Leistungsdruck
Viele Familien ermöglichen ihren Jugendlichen nach Beendigung der Schulpflicht heute ein Gap Year. Das Gap Year ist die elterliche Erlaubnis, einige Zeit der eigenen inneren Orientierung zu widmen – befreit von allen Karriereerwartungen. Die Jugendlichen nutzen diese Zeit ganz verschieden, mit Reisen, Work and Travel oder Au-pair. Sie produzieren einen Film, besuchen eine Kunstschule oder jobben. Wenn uns auch der Begriff der „Lücke“ (Gap) unangemessen erscheint, kann so eine Phase eine wunderbare Sache sein. Nämlich dann, wenn die Jugendlichen, eingebunden in eine Gemeinschaft, sinnstiftenden Aufgaben nachgehen. Hier können sie selbst gewählte Herausforderungen anpacken, einschneidende Erfahrungen sammeln und vor ihrem Einstieg ins Berufsleben ihre Lern- und Gestaltungslust wiederentdecken, erstes eigenes Einkommen generieren, innere Klarheit erlangen, Lebensentwürfe vergleichen. Die Gap-Year-Jugendlichen und ihre Familien lassen das Dogma vom nahtlosen Lebenslauf los. Genießen, Sich-Vergnügen und Lernen sind in dieser Zeit genauso wertvoll wie Kontakte knüpfen und Dinge erschaffen.
Suchen Sie als Eltern für Ihre jüngeren Kinder einen nicht formalen, aber dennoch betreuten Rahmen zum Ausleben ihrer Schöpferkraft, können Sie zum Beispiel fündig werden bei Malorten. Hier können sich Kinder mit Farben spontan ausdrücken, ihre Ergebnisse spielen dabei keine Rolle; sie werden weder bewertet noch kommentiert. Beim Malen leben sie ihre Freude am Spielen aus. Malorte können Sie vielerorts im deutschsprachigen Raum finden. Und dort, wo Sie keinen finden, können Sie selbst einen eröffnen und sich vom Gründer Arno Stern dafür ausbilden lassen. Wenden Sie sich dazu an den Malort e.V.
Durch die Schulzeit schippern
Die Zeit einer Schule, die für ein gelingendes Leben stark macht, wird kommen. Bis dahin können wir Eltern unseren Kindern die Schulpflicht und die Zustände in den Bildungseinrichtungen nicht ersparen. Aber wir können dafür sorgen, dass sie nicht mehr dem Leistungsdruck ausgesetzt sind, dass seine selektierende Wirkung größtenteils verpufft. Die Schulzeit kann so auch heute zu einer guten Sache werden. Kritisieren, rügen, loben oder lieben wir unsere Kinder nicht wegen ihrer Noten.
Zeigen wir bedingungslose Liebe und Akzeptanz. So helfen wir ihnen, ihre Lust am Lernen und Gestalten zu bewahren. Dann schippern wir Hand in Hand mit unseren Kindern durch die Schulzeit. Begreifen wir sie in erster Linie als soziales Erprobungsfeld.
Auf diesem können Kinder herausfinden, was für Menschen sie in dieser Welt sein wollen und was für welche nicht. Lassen wir sie in ihren Einrichtungen anecken, mitreden, sich einmischen und dabei ihre Würde bewahren. Stärken wir sie, wenn’s draußen stürmisch zugeht, und lassen wir sie ausruhen im sicheren Hafen. Vertrauen wir auf ihre Schöpferkraft. Dann kann Schule wenig Schaden anrichten, ihnen sogar nützen für ein gelingendes Leben.
Die Befreiung für Lehrer durch Haltung
Die Schule mit anderen Augen zu betrachten lässt uns allerhand Gutes an ihr erkennen. Dazu gehören vor allem auch die Lehrer, zumindest ein großer Teil von ihnen. Wir wissen, wovon wir sprechen, und haben höchste Wertschätzung für das, was Lehrer täglich leisten. Wir brauchen sie dringend, und sie verdienen unsere größte Unterstützung. Für das Fortbestehen unserer Demokratie sind sie entscheidend. Erst recht in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche sind sie wichtige moralische Instanzen für die junge Generation.
Besonders hervorheben möchten wir die „analogen“ Lehrer, die wenig technikaffin sind und sich im Digitalisierungswahn mitunter als „altes Eisen“« wahrnehmen. Gerade sie sind jetzt gefragt, um zwischenmenschlichen Umgang zu kultivieren, um ethische Folgen abzuschätzen. Zum Verständnis von Massenbeeinflussung, Mitbestimmung und Minderheitenschutz bedarf es keiner Programmiersprache. Ihre Lebenserfahrung aus dem 20. Jahrhundert ist ein rares Gut. Es wird heute und in den nächsten zehn Jahren dringender gebraucht als je zuvor. Denn wird diese Quelle einmal versiegt sein, wird keine Generation diesen Schatz jemals wieder bergen können. Digitale Bildung muss aktuell in einem Zusammenhang mit gesellschaftlicher Ethik und Demokratie gesehen werden. Deshalb braucht sie jeden Lehrer, ob mit oder ohne Tablet. Die Technik sollte den Kollegen überlassen werden, die sich dafür begeistern können. #Scharnierphasenlehrer
Das öffentliche Bild des Lehrers hierzulande ist schlechter, als es sein sollte. Viele Lehrer leisten gute Arbeit aus guten Gründen. Das einzige Problem ist nur der schon erwähnte Konflikt: Der Auftrag, die Schützlinge zu selektieren, und der geringe soziale Freiraum im straffen Alltag widerstrebt vielen. Jene, die glauben, aufgrund der Strukturen ständig gegen ihr inneres Anliegen handeln zu müssen, werden selbst zu Objekten dieser Strukturen. Und das macht auf Dauer krank. Die meisten Lehrer starten mit Idealen. Viele geben sie jedoch irgendwann auf.
Zum Glück ist aber längst ein Paradigmenwechsel im Gange. Mehr und mehr Lehrer erkennen, dass diese Strukturen nicht starr sind. Und mehr und mehr Lehrern gelingt es, ihre Ideale zu bewahren. Sie verfügen über eine innere Klarheit darüber, was für Lehrer sie sein wollen. Ständig treffen wir sie in unserer Arbeit an Schulen. Wir nennen sie Lehrer mit Begeisterung. Trotz aller Widrigkeiten halten sie am Kern ihrer Ideale fest. Sie sind hungrig geblieben. Sie geben Schülern intellektuelle und emotionale Anstöße und dämmen die abrichtenden Effekte der Schulstrukturen auf ein Mindestmaß ein. Ihnen ist es zu verdanken, dass dieses veraltete Schulsystem immer noch halbwegs verantwortungsvolle Menschen hervorbringt. #LehrerMitBegeisterung
Impulse für den Alltag
Wie steht es eigentlich um Ihre Ideale? Sind Sie so ein Lehrer mit Begeisterung? Wären Sie es gern? Waren Sie es mal?
Bis unsere Schulen flächendeckend dem Wandel in die Freiheit folgen, brauchen wir alle Geduld. Wie bleiben Sie als Lehrer bis dahin bei Kräften? Wie schaffen Sie Ihren Stoff, kommen zu den Noten in all der knappen Zeit und beschützen dabei noch Ihre berufliche Begeisterung? Wenn Sie Lehrer sind und sich das gerade fragen, hilft Ihnen vielleicht folgende kleine Gedankenübung: Stellen Sie sich vor, Sie blicken am Ende Ihrer Tage auf Ihr Leben zurück — wie gelungen werden Sie das Gelebte empfinden? Was werden Sie hinterlassen, bewirkt, erschaffen haben? Wie viel Sinn werden Sie erkannt, wie viel Freude geteilt, wie viel Tiefe werden Sie empfunden haben? #MomentderWahrheit
Sie können sich jetzt entscheiden: Wollen Sie in diesem Moment der Wahrheit auf ein Leben zurückschauen, in dem Sie dem Bewahren gedient haben? Oder wollen Sie Entwicklung und Veränderung ermöglicht, junge Menschen für ihre abenteuerliche Zukunft stark gemacht haben?
Vor keiner geringeren Frage stehen Sie heute als Lehrer. Sie können die Antwort beispielsweise vor Ihrem Spiegelbild formulieren. Und die Entscheidung können Sie nur persönlich treffen. Keine Schulbehörde, keine Schulleitung, keine Kollegin wird sie Ihnen abnehmen. Sie können sich entscheiden, jetzt den Stress, ihren „Stoff zu schaffen“, loszuwerden. Sie können die Dehnbarkeit der Lehrpläne ausschöpfen, Sie können vernachlässigen, was nicht zwingend prüfungsrelevant ist. Sie können sich entscheiden, Ihren Schülern stattdessen die günstigen Erfahrungen für ein gelingendes Leben zu ermöglichen. So entstehende Lücken im Stoff werden Ihre Schüler bei Bedarf später selbst füllen, da auf diese Weise ihre Lernlust erhalten bleibt.
Sie können sich auch dazu entscheiden, die Wege einfallsreich zu wählen, auf denen Sie zu den Noten gelangen, die man von Ihnen verlangt. Diese Wege können Sie Ihren Schülern transparent machen. Falls jemand Sie damit konfrontieren sollte, dass der Notenspiegel Ihrer Klasse nicht der Gauß’schen Normalverteilung entspricht, erzählen Sie diesem Menschen, worum es Ihnen geht — und schenken Sie ihm dieses Buch. Sie können auch Ihren Umgang mit der Anwesenheit von Schülern bewusst abwägen. Denn Fehlen ist nicht immer gleichbedeutend mit Schulverweigerung, und Schulverweigerung ist nicht immer gleichbedeutend mit Kindeswohlgefährdung. Wenn heute bundesweit freitags Schüler streiken und demokratisches Engagement ausüben, geraten einige Lehrer und Schulleiter in einen Gewissenskonflikt. Für viele fühlt es sich richtig an, was die Schüler tun, für einige nicht. Hier zeigt sich das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Realität und staatlicher Ordnungssysteme.
Wir wollen Sie ermutigen. Als Lehrer haben Sie das Kindeswohl im Blick. Sehen Sie das gefährdet, melden Sie natürlich sofort jedes Fernbleiben vom Unterricht. Erkennen Sie jedoch, dass ein Schüler, dem es offensichtlich gut geht, dessen Elternhaus stabil und liebevoll ist, der nicht versetzungsgefährdet ist, einige Male im Unterricht fehlt, weil er sich für seine Zukunft einsetzt oder mit seinem Großvater einen Steinofen im Garten fertig mauert, ist die Lage eine andere. Fühlen Sie sich ermuntert, Ihren Entscheidungsspielraum maximal auszunutzen, bevor Sie blind Anweisungen befolgen und Meldung machen. Sie könnten den Schüler bitten, einen kleinen Aufsatz über die Statik beim Ofenmauern zu schreiben, der ihn zu seiner Note bringt.
Im Schulalltag halten Sie als Lehrer (und auch als Schulleiter) mehrere solcher Hebel in der Hand. Als Lehrer können Sie also durchaus Ihren Dienstauftrag erfüllen, Zensuren pünktlich zur Notenkonferenz beisteuern, ohne die Schüler ihrer Lernlust zu berauben. Sie können einen Schulalltag erschaffen, der Schülern hilft, ihre Lernlust zu behalten. Die erwähnten acht von zehn Lehrern können dann endlich alle wieder das machen, worum es ihnen eigentlich geht. Informieren Sie auch Ihre Schüler, Ihre Schulleitung und die Eltern Ihrer Klassen darüber, was für Sie zählt. Dann wissen diese, woran sie bei Ihnen sind. So können Sie aufrecht durch Ihren Schulalltag gehen.
Damit wir uns richtig verstehen: Dies hier ist kein Aufruf zum dienstlichen Ungehorsam. Vielmehr eine Einladung zu einer neuen pädagogischen Ethik. In Zukunft werden wir mehr Lehrer mit Begeisterung brauchen, die bei Kräften sind und ihren Job lieben. Sehen Sie in den Spiegel und entscheiden Sie selbst. Wenn Lehrer und Schulleiter bewusst souverän mit der Überwachung der Schulpflicht umgehen, wenn sie autonom entscheiden, gleicht das einem historischen Moment, als schon einmal staatliche Systeme nicht mehr zur Lebensrealität der Bevölkerung gepasst hatten.
Bei den Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig, als Menschenmassen auf die Straße drängten, hatten viele Polizisten ihre Mitbürger nicht gewaltsam aufgehalten und verhaftet, obwohl sie an einigen Montagen dazu angewiesen worden waren. Unsere heutige Situation in den Schulen ist weit weniger brenzlig. Doch was die persönliche Ethik betrifft, ist die Lage sehr ähnlich. #Emanzipation
Wenn Sie sich den Zwängen und Regularien Ihres Alltags ausgesetzt fühlen, so liegt die Befreiung daraus in Ihrer Emanzipation. Schauen wir uns dazu den Lehrermarkt an. Der Fachkräftemangel im Lehrerberuf gleicht dem der Programmierer in Wirtschaftsunternehmen. Personalabwerbung mit allen erdenklichen Methoden ist im „War for Talents“ an der Tagesordnung. IT-Spezialisten können wahnsinnige Forderungen stellen, die Arbeitgeber auch bereitwillig erfüllen. Sie können sich im Arbeitsleben ziemlich viel erlauben, bevor sie abgemahnt, gerügt oder auch nur schräg angesehen werden. Die Schule ist ein komplett anderes Metier, hat aber ähnliche psychologische Muster. Schulbehörden sind dermaßen in der Bredouille, dass sie in einigen Bundesländern begonnen haben, Lehrer von freien Schulen anzurufen und abzuwerben — Zustände wie in der Wirtschaft.
Als Lehrer befinden Sie sich nicht in einer unterlegenen Position, das können Sie getrost vergessen. Sie können Ihre persönliche Haltung an Ihrer Schule realisieren, auch wenn veraltete Strukturen dem augenscheinlich im Weg stehen. Wenn Sie begründen können, warum bestimmte Dinge Ihnen so viel bedeuten, werden Sie in den meisten Fällen auch den Freiraum dafür erhalten. Und falls nicht, können Sie jederzeit zur nächstbesten freien oder staatlichen Schule wechseln. Sie können freie und staatliche Schulen gegeneinander ausspielen. Die Schulbehörden und -träger wissen das. So radikal das auch klingen mag: In Zukunft werden Menschen nur noch dort arbeiten, wo sie sich wohlfühlen. Besonders gilt das im Lehrerberuf. Und wie jedes Wirtschaftsunternehmen wird auch jede Schule an Qualität und Größe verlieren, die es nicht schafft, dass die dortigen Lehrer sich wohlfühlen — in materieller wie ideeller Hinsicht. Wirtschaftsunternehmen haben das alles längst begriffen. Die Schulen beginnen gerade damit, es zu begreifen. Denken Sie als Lehrer daran: Sie sind der Gestalter Ihres Berufs. Nur Mut. #TrauDich
Quellen und Anmerkungen:
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Gerald Hüther, Marcell Heinrich, Mitch Senf: „#Education For Future. Bildung für ein gelingendes Leben“, Wilhelm Goldmann Verlag München in der Verlagsgruppe Random House, erschienen am 17. Februar 2020.
© Hüther/Heinrich/Senf, #Education for Future, ©Goldmann Verlag 2020. Jegliche Vervielfältigung, auch in Auszügen, ist genehmigungspflichtig.
„Aufbruch in die Freiheit, Teil 1“ finden Sie hier.
Ausgewählte Initiativen:
Schulentwicklung:
www.schule-im-aufbruch.de
www.schulen-der-zukunft.org
www.eduventis.org
Externer Schulabschluss:
www.abinom.de
www.methodos-ev.org
Schulen:
www.waldorfschule.de
www.montessori-deutschland.de
www.aktive-schule-potsdam.de
www.ev-schule-zentrum.de
Freilerner:
www.freilerner.de
www.schulfrei-community.de
Homeschooling:
khanacademy.org
www.schlaukopf.de
Entfaltungsräume:
www.malort-verein.de
Gap-Year-Optionen:
www.solidaritaetskorps.de
www.weltwaerts.de
www.afs.de
www.yfu.de
www.aupair.com