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Aufbruch in die Freiheit

Aufbruch in die Freiheit

Freiheit will gelernt sein. Exklusivabdruck aus „#Education For Future: Bildung für ein gelingendes Leben“. Teil 1.

Sogar die Hirnforscher sind darauf hereingefallen. In den sogenannten Libet’schen Experimenten waren Testpersonen gebeten worden, zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einen Knopf zu drücken. Mithilfe elektrophysiologischer Ableitungen ließ sich nachweisen, dass es im Gehirn bereits 300 Millisekunden, bevor die Testpersonen den Entschluss fassten, diese Handlung auszuführen, zu einer Aktivierung gekommen war. Damit, so meinten die Forscher, sei nun bewiesen, dass der Mensch keinen freien Willen besitzt, dass er nur deshalb in bestimmter Weise handelt, weil die betreffende Handlung in seinem Gehirn vorher vorbereitet ist. Er führe nur noch aus, was dort bereits festgelegt worden sei.

Es entbrannte eine hitzige Debatte darüber, wie frei der Mensch in seinem Handeln sei. Bemerkenswert daran war, dass sie nur in Deutschland stattfand und dass sie allmählich im Sande verlief, als die Hirnforscher zugeben mussten, dass die Probanden in diesem Test ihre Entscheidung ja schon vor der Labortür getroffen hatten, indem sie sich bereit erklärten, an diesem Experiment (gegen eine Bezahlung) teilzunehmen. Mit dem Drücken des Knopfs befolgten sie also nur noch eine Anweisung des Versuchsleiters. Dazu hatten sie sich verpflichtet, weil sie offenbar das damit zu verdienende Geld brauchten.

Interessant ist dieses Experiment deshalb, weil es deutlich macht, dass Menschen keine freien Entscheidungen treffen können, solange sie von irgendetwas oder irgendjemanden abhängig sind. Wenn sie Durst oder Hunger haben, Not leiden oder Schmerz spüren, müssen sie diese körperlichen Bedürfnisse normalerweise zunächst erst einmal stillen, bevor sie etwas anderes wollen und dann auch tun können. Das gilt in gleicher Weise für seelische Bedürfnisse.

Den stärksten psychoemotionalen Schmerz erfahren wir immer dann, wenn wir erleben müssen, dass wir von anderen Personen zum Objekt von deren Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen, Maßnahmen oder gar Anordnungen und Befehlen gemacht werden.

Dann werden unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse — das nach Verbundenheit und Zugehörigkeit und das nach eigener Gestaltungsfähigkeit und Autonomie — gleichzeitig verletzt. Im Gehirn kommt es dann zur Aktivierung derselben Netzwerke, die auch immer dann aktiviert werden, wenn wir körperliche Schmerzen erleiden.

Es stimmt also, wenn wir sagen, dass es wehtut, nicht gesehen, aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen und von anderen abgelehnt zu werden. Und dass es eine schmerzhafte Erfahrung ist, nicht das tun zu können, was man will, sondern das ausführen muss, was andere von einem erwarten oder verlangen. Unter solchen Bedingungen kann niemand eine freie Entscheidung treffen. Erwachsene nicht und erst recht Kinder nicht.

In den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern ist es in den letzten Jahrhunderten gelungen, Hunger, Not und Elend, auch viele Erkrankungen und Bedrohungen weitgehend zu überwinden. Die Freiheit der dort lebenden Menschen wird also inzwischen weitaus weniger durch die damit einhergehenden Nöte und Leiden eingeschränkt, als das noch vor ein oder zwei Jahrhunderten für die meisten der Fall war. Bei uns sind inzwischen sogar die alten hierarchischen Herrschaftsstrukturen durch demokratische Gesellschaftsordnungen abgelöst worden. Aber auch in denen gibt es noch immer hierarchische Strukturen, und die führen dazu, dass all jene, die weiter „unten“ gelandet sind, von denen bevormundet und auf unterschiedliche Weise zum Objekt der jeweiligen Absichten und Ziele derer gemacht werden, die sich einen Platz weiter „oben“ in der Hierarchie sichern konnten.

Es gibt also weiterhin Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Reiche und Mächtige einerseits und Arme und Machtlose andererseits, Vorgesetzte und Untergebene, Befehlshaber und Befehlsempfänger und eben auch Lehrer und deren Schüler oder Erziehungsberechtigte und deren Kinder. Die Mächtigen und Einflussreicheren müssen aufpassen, dass ihnen ihre Macht nicht verloren geht, und diejenigen, die von deren Entscheidungen abhängig sind, versuchen sich davon zu befreien und selbst in eine etwas einflussreichere Position zu gelangen. Beide stehen daher unter Druck, sind Getriebene und können sich unter diesen Bedingungen nicht frei entfalten.

Aber einen Vorteil haben diese hierarchisch geordneten Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse schon: Sie wirken wie eine unsichtbare Kraft, die alle Beteiligten zwingt, sich so sehr wie möglich anzustrengen. Sei es, um nicht abzusteigen oder — noch begehrter — um endlich aufzusteigen. Das Ergebnis dieser Bemühungen sind von ihnen erbrachte besondere Leistungen. Es geht dabei nicht nur darum, wirksamer, schneller, effektiver als andere zu sein. Die besten Aufstiegschancen haben diejenigen, die etwas Neues entdecken, erfinden, bauen und in die Welt bringen. Sie verschaffen sich damit einen Wettbewerbsvorteil, vor allem dann, wenn sich das Neue rasch ausbreitet.

Aber diese von dem Bemühen um Erfolg und Aufstieg immer schneller und immer zahlreicher in die Welt gebrachten Neuerungen führen zwangsläufig dazu, dass die ursprünglich noch recht überschaubare und durch umsichtige Machthaber bisweilen auch einigermaßen gut geordnete Welt ständig komplizierter, vielschichtiger und unüberschaubarer wird. Die alten, viel zu starren hierarchischen Macht- und Herrschaftsstrukturen erweisen sich dann als zunehmend ungeeignet, um einigermaßen Ordnung in diese hochkomplexe Lebenswelt zu bringen. Aufhalten lässt sich dieser Prozess nicht, wir sind gegenwärtig nicht nur seine Zeugen, sondern seine Mitgestalter. Entstanden ist dabei eine inzwischen globalisierte und digitalisierte Welt, in der alles von allem abhängig ist und die sich so rasch verändert, dass wir selbst kaum noch mitkommen.

Das Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen ist jetzt, erstmals in der gesamten Menschheitsgeschichte seit der Sesshaftigkeit vor etwa zehntausend Jahren, nicht mehr durch hierarchische Ordnungsstrukturen steuerbar.

In allen Bereichen unserer Gesellschaft, in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, auch in der Kirche, den Vereinen, im Zusammenleben der Menschen in Dörfern und Städten und sogar in Familien funktionieren sie nicht mehr. Sie sind zu wenig anpassungsfähig und viel zu schwerfällig für diese sich viel zu rasch verändernde Lebenswelt. Deshalb beginnen sich die alten Hierarchien allmählich aufzulösen. In der Familie bestimmt nicht mehr ein Oberhaupt, was dort zu geschehen hat. Auch die bisher Patriarchat genannte hierarchische Ordnung funktioniert nicht mehr. In den Schulen haben die Lehrer wachsende Schwierigkeiten, für Ruhe und Ordnung im Unterricht zu sorgen und ihre Lehrpläne umzusetzen. In den Verwaltungen rumort es angesichts der Vielzahl immer neuer Vorschriften und Erlasse. Die Politiker müssen sich zunehmend auf ständig neue Wünsche und Forderungen ihrer Wähler einstellen, und in vielen Unternehmen sind längst flache Hierarchien und neue, von den Mitarbeitern selbstverantwortlich gestaltete Arbeitsabläufe entstanden.

Das ist erst der Beginn dieser wohl größten Transformation unserer Lebenswelt seit der Entstehung hierarchischer Ordnungsstrukturen, damals vor etwa zehntausend Jahren. Kein Wunder also, dass es nun überall auf der Welt zu Irritationen, Spannungen, Konfrontationen und einem ziemlichen Durcheinander kommt. Das alte Denken ist in den Köpfen der meisten Menschen und in den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen noch immer ziemlich fest verankert. Für die auf uns zukommende Welt von Morgen haben wir noch keine neue Orientierung gefunden. Niemand weiß so recht, wie und vor allem in welche Richtung es weitergehen soll.

So sieht die Welt aus, in die unsere Kinder gegenwärtig hineinwachsen. Anhalten oder zurückdrehen lässt sich diese Entwicklung nicht, auch wenn es mancherorts versucht wird. Damit unsere Kinder und Jugendlichen lernen, sich in dieser Welt zurechtzufinden, brauchen sie unsere Hilfe. Wie aber sollen wir ihnen helfen, wenn wir doch selbst mehr oder weniger ratlos mit ständig neuen Schreckensmeldungen eines sich global ausbreitenden allgemeinen Durcheinanders konfrontiert werden? Um unseren Kindern helfen zu können, sich in dieser zukünftigen Welt zurechtzufinden, müssten wir in der Lage sein, dieses Durcheinander zu verstehen, indem wir seine tieferen Ursachen, also das hinter diesen Phänomenen verborgene Prinzip erkennen.

Natürlich lassen sich dafür die Unfähigkeit einzelner Politiker, die Gier rücksichtsloser Unternehmer, das kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsystem verantwortlich machen oder gar eine notorische Unfähigkeit der Vertreter unserer Spezies postulieren, die uns ein friedliches und konstruktives Miteinander unmöglich macht. Es könnte aber auch sein, dass dieses ganze Durcheinander die zwangsläufige Begleiterscheinung eines Entwicklungsprozesses ist, der schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte immer im Hintergrund abgelaufen ist und der sich nun nur immens beschleunigt: die fortwährende Suche nach Möglichkeiten zur immer besseren Entfaltung der im Menschen und im menschlichen Zusammenleben angelegten Potenziale. Ein zunächst langsam beginnender, aber dann immer schneller werdender Aufbruch in die Freiheit.

Denn das ist der älteste Menschheitstraum: die Befreiung aus Not und Elend, Hunger und Armut, aus dem Ausgeliefertsein gegenüber Naturgewalten und Krankheiten, auch aus der Knechtschaft und Bevormundung durch andere, mächtigere und einflussreichere Personen. Einzelne Vertreter unserer Spezies haben es hin und wieder geschafft, sich aus all diesen Zwängen zu befreien. Manche durch Anhäufung von Macht, Geld und Einfluss. Manche durch Loslösung von allem und den völligen Verzicht auf das, was ihre Freiheit auf irgendeine Weise einschränkt. Beide Strategien sind aber ungeeignet für ein befreites und friedvolles Zusammenleben aller Menschen in einer globalisierten Welt.

Weder das individuelle Streben nach immer mehr Macht und Einfluss noch der individuelle Rückzug in meditative und kontemplative Übungen kann einen Menschen in die Freiheit führen. Denn beides ist mit der Grundlage unseres Menschseins unvereinbar. Wir sind zutiefst soziale Wesen und können ohne andere gar nicht leben, geschweige denn die in uns angelegten Potenziale zur Entfaltung bringen.

Dazu, also auf dem Weg in die Freiheit, brauchen wir den Austausch mit anderen Menschen. Nicht mit lauter Gleichgesinnten, sondern mit möglichst vielen, die anders sind als wir selbst, die andere Lebenserfahrungen gemacht, andere Vorstellungen herausgebildet, sich anderes Wissen und Können angeeignet haben.

Wie aber sollen wir unsere Kinder auf ein Leben in einer solchen, sich zumindest in unserem Kulturkreis jetzt schon abzeichnenden Freiheit vorbereiten? Was brauchen sie, um sich aus den alten Mustern bisherigen Denkens, Fühlens und Handelns herauszulösen? Wie können wir ihnen helfen, sich selbst als Mitgestalter dieses Aufbruchs in die Freiheit zu erleben und nicht davon überrollt zu werden? Ja, klar, dazu brauchen sie eine qualifizierte Ausbildung. Aber die haben auch all jene, die sich auf Kosten anderer bereichern, die andere Menschen zur Verfolgung ihrer jeweiligen Machtinteressen benutzen, sie verführen und von sich abhängig machen. Jene, die die Regenwälder abholzen lassen und mit ihren Unternehmen die Umwelt verpesten. Die sind als Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler oder Lobbyisten alle bestens ausgebildet. Sonst wären sie ja nicht so erfolgreich.

Was die jetzt heranwachsenden Kinder und Jugendlichen brauchen, ist also vor allem eine Bildung, die es ihnen ermöglicht, ihr Zusammenleben mit anderen Menschen und mit anderen Lebewesen auf unserem Planeten so zu gestalten, dass sich das Leben in seinen vielfältigen Formen hier auch in Zukunft weiter entfalten kann.



Quellen und Anmerkungen:

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Gerald Hüther, Marcell Heinrich, Mitch Senf: „#Education For Future. Bildung für ein gelingendes Leben“, Wilhelm Goldmann Verlag München in der Verlagsgruppe Random House, erschienen am 17. Februar 2020.

© Hüther/Heinrich/Senf, #Education for Future, ©Goldmann Verlag 2020. Jegliche Vervielfältigung, auch in Auszügen, ist genehmigungspflichtig.