Anspruch und Wirklichkeit
Befürworter der Anti-Corona-Maßnahmen behaupten von sich, besonders vernünftig zu sein. Sie halten ihre Auffassung sogar für derart zwingend, dass ihnen jeglicher Zweifel daran bereits als irrationales Leugnen erscheint, welches wiederum abgrundtief verwerflich sei. Wer den drastischen Maßnahmen nicht begeistert zustimmt, wird mit Schimpf und Schande aus der Gemeinschaft derer ausgeschlossen, die sich im Besitz von Vernunft und Wahrheit wähnen. Viele Maßnahmenbefürworter fordern daher, alle Skeptiker physisch zur „Vernunft“ zu zwingen. Angehörige jener Gemeinschaft meinen zudem, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben. Wer ihre Aussagen bestreite, sei der „Wissenschaftsleugnung“ überführt.
Ein derart hoher Anspruch muss jedoch auch einlösbar sein. Niemand kann einfach verkünden, die Vernunft für sich gepachtet zu haben, sondern muss letztere konkret unter Beweis stellen, wenn er nicht eines Bluffs überführt werden will. Ferner muss er dargelegen, dass und in welcher Weise die eigene Auffassung mit der Wissenschaft im Einklang steht. Dies kann nolens volens nur nach Vernunftregeln und wissenschaftlichen Prinzipien erfolgen, welche aber formal und nicht inhaltlich zu bestimmen sind.
Wenn die Befürworter also behaupten, sie seien vernünftiger als ihre Gegner, müssten sie auf Nachfrage klären, was exakt sie darunter verstehen, damit geprüft werden kann, ob sie tatsächlich vernünftiger sind. Dies wäre zugleich ein Beweis ihrer Wissenschaftlichkeit. Denn in der Wissenschaft geht es unter anderem darum, aussagekräftige Vergleiche machen zu können. Vergleichbarkeit muss aber definitorisch erzeugt werden. Sie ist nicht einfach da. Weigern sich Befürworter, zu klären, was sie vernünftiger macht, entziehen sie sich der Argumentation und offenbaren damit zugleich ihre eigene Unvernünftigkeit.
Definition und Messbarkeit von Vernunft
Griffig ließe sich „Vernünftigkeit“ folgendermaßen definieren: Notwendige Bedingung einer als vernünftig geltenden Kommunikation ist der korrekte Gebrauch der Verstandeswerkzeuge, vor allem der Logik. Wer sie nicht oder nicht korrekt anwendet, kann nicht vernünftiger sein als derjenige, der sie korrekt anwendet. Indem sie einen höheren Grad an Vernünftigkeit für sich reklamieren, sagen die Befürworter also implizit, dass sie von jenen Verstandeswerkzeugen besseren Gebrauch machen und wissenschaftliche Prinzipien strenger befolgen als die von ihnen so bezeichneten „Zweifler“ und „Leugner“.
Das wäre eine fassbare und überprüfbare Definition. Sie hat zugleich den Vorteil, kaum angreifbar zu sein. Denn es ergibt wenig Sinn, auf der einen Seite zu behaupten, man sei vernünftiger und wissenschaftlicher als andere, dies aber zugleich zu bestreiten.
Science is measurement, und auch die Rationalität von Kommunikation kann gemessen werden, wenn man letztere durch Regeln standardisiert. Das Medium, in welchem standardisierte Vergleiche rationaler Rede stattfindet, ist der Diskurs. „Den Idealtypus (...) vernünftigen, weil gleichberechtigten und gleichverpflichteten Sprechens nennt man Diskurs, im Unterschied zur Diskussion. Ist der Diskurs auf einen Abschluss, auf ein Ergebnis ausgerichtet (...), dann nennt man den Diskurs Dialog“, stellt der Philosoph Peter Janich in seinem Buch „Kein neues Menschenbild“ klar (1).
Während „Diskussion“ einfach bedeutet, dass verschiedene Personen in beliebiger Weise über ein Thema sprechen, sind Diskurse strengen Vernunftregeln unterworfen. Es gilt nur der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“, wie es Jürgen Habermas ausdrückt.
Argumentationen wiederum sind Abfolgen von Aussagen mit Schlussfolgerungen. Sie sind umso besser, je weniger Logikfehler, je weniger Brüche und Sprünge sie aufweisen und je präziser die empirischen Daten sind, mit der sie gestützt werden.
Als bestmögliche Argumentation kann daher eine lückenlose Abfolge logisch gültiger Aussagen bezeichnet werden, die durch Daten optimaler Qualität abgesichert ist. Der Rationalitätsgrad von Argumenten lässt sich prinzipiell also durchaus bestimmen beziehungsweise messen.
Regeln und Prinzipien
Im Folgenden seien zehn der wichtigsten Vernunftregeln und wissenschaftlichen Prinzipien genannt.
1. Allgemeine Diskursregeln
Konsistenz und Kohärenz. Begründungen müssen möglichst widerspruchsfrei und zusammenhängend sein. In einer Argumentationskette dürfen keine Glieder fehlen. Sie müssen nicht jedes Mal vollständig aufgezählt werden, aber existieren. Direkte logische Widersprüche und performative Widersprüche müssen aufgelöst werden. Zur Diskussion steht immer das gesamte System von Überzeugungen, die eine Person explizit und implizit hat.
Widersinnige, widersprüchliche Rede hat keinerlei Rationalitätsgrad und ist damit ungültig. Neben dem einfachen logischen Widerspruch der Marke „Quadrate sind rund“ gibt es unter anderem auch den performativen Widerspruch. Hierbei handelt es sich, ganz grob gesagt, um einen Widerspruch einer Aussage mit den nicht genannten Voraussetzungen derselben. Das Paradebeispiel eines performativen Widerspruchs ist der Satz „Ich existiere nicht“, der die Existenz dessen, der ihn ausspricht, voraussetzt.
Trifft ein Teilnehmer eine in sich widersprüchliche Aussage oder wird in seiner Argumentation ein performativer Widerspruch offenbar, muss er seine Position revidieren, sofern er die Widersprüche nicht auflösen kann.
Je konsistenter und kohärenter eine Argumentation, desto besser ist sie. Konsistenz bedeutet Widerspruchsfreiheit, Kohärenz bedeutet Zusammenhang. Die Kette der Aussagen und Schlussfolgerungen, die zusammen ein Argument beziehungsweise eine Argumentation bilden, muss intakt sein, die Elemente müssen logisch und sachlich zueinander passen.
Besser noch als das Bild der Kette ist das des Netzes. In jeder Einzelfrage zu einem Thema steht immer das gesamte Gedankensystem zur Disposition — das Netz von sachlichen und moralischen Überzeugungen, die eine Person explizit oder implizit hat. Kann jemand ein eng gewobenes, robustes Netz vorweisen, wird es ihn immer tragen. Je weiter und schludriger es jedoch gefügt ist, desto wahrscheinlicher fällt derjenige, der es geflochten hat, in einem Diskurs durch die eigenen Maschen.
Je enger der logische Zusammenhang der Überzeugungen untereinander ist, desto rationaler, desto systematischer denkt eine Person. Je systematischer sie denkt, desto wissenschaftlicher denkt sie, und desto höher ist zugleich ihre Moralkompetenz.
Die Grundfragen in einem Diskurs lauten also immer: Wird die argumentierende Person x auch in der Einzelfrage y durch ihr Netz getragen? Muss sie es ausbessern, beschädigen, zerstören, um Position y vertreten zu können? Alles hängt miteinander zusammen. In einem Diskurs darf nicht an einer Stelle mit Hü und an der anderen mit Hott argumentiert werden.
Gänzlich verliert man, sobald man mit zweierlei Maß misst, also zum Beispiel geringe Standards akzeptiert, wenn es seine Auffassung stützt, zugleich aber in derselben Sache von anderen Teilnehmern strenge Maßstäbe einfordert. Wie wir noch sehen werden, ist das der seidene Faden, an dem alle Befürworter hängen. Würden sie nicht durchgängig mit zweierlei Maß messen, fielen sie sogleich ins Bodenlose.
2. Symmetrie
Gleichberechtigung und Gleichverpflichtung aller Beteiligten. Niemand darf sich eine überlegene Position anmaßen, darf nicht moralisieren, nicht dekretieren, schon gar nicht drohen oder einschüchtern. „Vernunft“ im Sinne von Gehorsam unter Bedingungen eines Machtgefälles hat in einem Diskurs keinen Platz. Erpresser, die ihren machtlosen Opfern „raten“, vernünftig zu sein, also blind zu gehorchen, sind vom Diskurs ausgeschlossen.
3. Argumente
Argumente gelten unabhängig von Person oder Gruppe. „Das sagt auch die AfD“ und dergleichen gilt nicht.
4. Keine Denkverbote, keine Dogmen
Selbstverständlichkeiten existieren nur, solange sie nicht hinterfragt werden. Auf Verlangen müssen Behauptende schlüssig darlegen, auf welche Weise sie zu diesen Überzeugungen gelangt sind. Äußerungen folgender Art sind schon wegen 2.unzulässig: „Wenn du x anzweifelst, bist du irrational und unmoralisch!“ Es handelt sich hierbei um eine plumpe Strategie der Selbstimmunisierung.
5. Asymmetrie im Begründungszusammenhang
Die Rechtfertigungspflicht hat allein und immer derjenige, der behauptet oder fordert, niemals derjenige, der bestreitet - Onus probandi incumbit ei qui dicit, non ei qui negat. Im Römischen Recht galt zudem der korrespondierende Grundsatz Necessitas probandi incumbit ei qui agit (= Die Beweispflicht liegt beim Ankläger).
Erwiderungen des Bestreitenden bestehen darin, dem Behauptenden in Frageform zu entlocken, was genau er sagen will, und ihn gegebenenfalls zu mahnen, seine eigene Logik korrekt anzuwenden: „Meinst du a? Wenn ja, dann gilt aber auch b. Wie bringst du das logisch mit c in Zusammenhang?“ Letzteres Verfahren ist der Mäeutik („Hebammenkunst“) des Sokrates sehr ähnlich. Es kommt nicht darauf an, welche Überzeugungen der Bestreitende hat, sondern darauf, mit welchen Überzeugungen der Behauptende „schwanger geht“.
6. Der Bestreitende muss niemals auf höherem Niveau erwidern als auf dem Niveau, das der Behauptende vorgibt
Kann der Bestreitende gegenüber dem Behauptenden auf diesem Niveau einen Gleichstand erzielen, hat der Behauptende verloren. Verwendet letzterer illegitime Mittel, darf dies der Bestreitende auch, um ersterem zu demonstrieren, dass er sich selbst disqualifiziert.
Wissenschaftliche Prinzipien
7. Operationalisierung
Das Messinstrument definiert den Begriff. Kriterium 7 ist das wissenschaftliche Pendant zu Kriterium 1: Kohärenz statt Korrespondenz. In der Wissenschaft geht es vor allem um möglichst exakte Messungen, welche wiederum standardisierte Messmethoden erfordern. Hierbei definiert die Messmethode den Begriff dessen, was gemessen werden soll. Das nennt man „Operationalisierung“.
„Intelligenz“ ist zum Beispiel durch einen entsprechenden Test definiert. Die Ausgestaltung des Tests wird nicht durch eine objektive Eigenschaft namens „Intelligenz“ festgelegt. Es ergibt keinen Sinn zu fragen, ob eine Person, die in einem bestimmten Test eine hohe Punktzahl bekommen hat, wirklich intelligent sei. Denn Intelligenz ist durch den Test definiert. „Hohe Intelligenz“ bedeutet also „hohe Punktzahl“.
8. Vergleichbarkeit
Um relationale wissenschaftliche Aussagen treffen zu können, muss Vergleichbarkeit aktiv hergestellt werden. Wissenschaftlich sind Vergleiche nur, wenn sie auf standardisierten Verfahren beruhen.
9. Präzision
Präzisere Methoden sind unpräziseren vorzuziehen.
10. Nullhypothese
Die beim Thema Corona wichtigste Grundwissenschaft ist die Statistik. Vor einer statistischen Untersuchung werden üblicherweise zwei Hypothesen formuliert:
Erstens: Die Nullhypothese H0, welche besagt, dass es keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen gibt.
Zweitens: Die Alternativhypothese H1, welche besagt, dass es einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen gibt.
Die Untersuchung besteht dann im Versuch, die Nullhypothese zu verwerfen. Die Alternativhypothese wird auch „Arbeitshypothese“ genannt, weil man sich mit ihr an der Nullhypothese abarbeitet und dabei oft genug auf Granit stößt. Denn kann der behauptete Zusammenhang durch die Analyse nicht erwiesen werden, bleibt die Nullhypothese gültig. Die Nullhypothese bleibt so lange gültig, bis nach festgelegten Standards die Alternativhypothese als erwiesen gilt. Bei Gleichstand haben die Vertreter der Nullhypothese gewonnen. Kriterium 10 ist das wissenschaftliche Pendant zu den Kriterien 5 und 6.
Man mag all diese Prinzipien für willkürlich gewählt und nicht bindend erklären. Wenn man diese Auffassung jedoch als Argument und nicht als unverbindliches Geräusch oder Gekritzel präsentiert, begeht man einen performativen Selbstwiderspruch. Ums Argumentieren kommt nicht herum, wer argumentieren will. Der Philosoph Karl-Otto Apel nennt dies das „Apriori der Argumentation“ (2).
Schon Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) erkannte, dass das Philosophieren selbst dann unvermeidbar ist, wenn man dessen Vermeidbarkeit begründen will. Beim Versuch, seine Skepsis gegenüber den Diskursregeln nicht zumindest nach einigen dieser Regeln vorzubringen, wird man aller Voraussicht nach scheitern. Lehnt man sie ab, ist man in der Pflicht, tauglichere Regeln zu benennen, wenn man etwas rational begründen will.
Vergleichstabu
Schauen wir nun anhand jener Regeln und Prinzipien, wie es um Vernünftigkeit und Wissenschaftlichkeit bei den Befürwortern strenger Anti-Corona-Maßnahmen bestellt ist.
Nachdem hierzulande Politik und Medien abgewiegelt hatten, wurde ab März 2020 plötzlich mit auffälliger Penetranz überall verkündet, Corona könne und dürfe auf keinen Fall mit Influenza verglichen werden.
Diese Botschaft prasselte vor allem in den sozialen Netzwerken auf die User ein. Wer es dennoch tue, verharmlose das „neue Virus“ in sträflicher Weise.
Doch wie soll man ohne Vergleich zu dem Schluss kommen können, dass der nämliche Vergleich verharmlosend ist? Ein Vergleich, der gar nicht vollzogen wird, kann sich nicht als verharmlosend erwiesen haben. Beachten die Verkünder des Vergleichsverbots selbiges, kommt ihnen damit die Begründung ihres Verbots abhanden. So, wie es meist formuliert wird, verstößt es also direkt gegen die Kriterien 1, 2 und 4.
Auf den naheliegenden Verdacht, dass der Vergleich nur deshalb so vehement tabuisiert wird, weil er sich rational aufdrängt, scheinen nur wenige zu kommen. Das gilt auch für den Vergleich der jetzigen Situation mit dem Vorabend des Dritten Reiches. Jeder, der ihn aus coronaskeptischer Perspektive vorbringt, wie beispielsweise der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg, wird an den Pranger gestellt.
Befürworter geben sich hingegen freie Hand, mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen, was immer sie damit gleichsetzen wollen. Doch es ist inkohärent, den Worst Case „Jahrhundertpandemie“ mitsamt extremer Notlage bereits von Beginn an zur Richtschnur des Handelns zu machen, und zugleich heftig zu kritisieren, dass jemand die massiven Grundrechtseinschränkungen im Lichte des Worst Case einer dem Nationalsozialismus ähnlichen Gesellschaftsordnung vergleichend betrachtet.
Der Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Primo Levi (1919 bis 1987) hat in Bezug auf den Holocaust gesagt: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 wurde verabschiedet, um zu verhindern, dass Gleiches erneut geschieht, also der Worst Case.
Erich Kästner sagte in seiner Rede „Über das Verbrennen von Büchern“ im Jahr 1953: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns in Deutschland 1933 widerfuhr. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluss meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“ (3)
Es ist also für diejenigen, die den Worst Case in Bezug auf Corona für handlungsleitend halten, argumentativ unmöglich, den Vergleich mit dem Dritten Reich abzulehnen. Maßnahmenbefürworter müssten nach ihren eigenen Maßstäben den Vergleich mit dem Dritten Reich sogar begrüßen, denn andernfalls würden sie gegen die Kriterien 1, 2, 3 und 4 verstoßen. Begrüßen sie aber um der Kohärenz willen diesen Vergleich, können sie die Maßnahmen nicht mehr rechtfertigen. Ihr Anspruch, vernünftiger, wissenschaftlicher und moralischer zu sein als die Skeptiker, bleibt uneingelöst.
Wortklauberei?
In ungeregelten Diskussionen wird auf solche Kritik erwidert, man solle nicht so spitzfindig sein, man wisse doch, was gemeint sei. Doch in Diskursen zählt dieser Einwand nicht. In der kleinsten Lücke ist Platz für ein ganzes Universum des Widersinns. Wer fordert, andere sollten sich nicht so haben, verlangt von ihnen, sich in ihn „einzufühlen“, den Subtext zu erraten, kurz: sich seiner Willkür zu beugen. Dieses Mittel verstößt gegen Kriterium 2 und dient dem Zweck, auf illegitime Weise die Oberhand zu behalten. Subtexte sind zwar unvermeidlich, sollten aber dem vorgetragenen Haupttext nicht widersprechen.
Außerdem müsste der Behauptende nach den Kriterien 2 und 6 beim Bestreitenden ebenfalls Fünfe gerade sein lassen, wann immer letzterer es verlangt. Damit würde jede rationale Argumentation ad absurdum geführt. Erinnern wir uns an die in Kriterium 5 erwähnte „Mäeutik“. Mit dieser Technik soll geklärt werden, was der Behauptende genau sagen will, und ob das, was er sagen will, rationalen Kriterien genügt. Der Bestreitende fragt also: „Du sagst ‚vergleichen‘. Doch ich zeige dir, dass du ‚vergleichen‘ nicht meinen kannst, ohne dir zu widersprechen. Was meinst du also dann?“
Ein Maßnahmenbefürworter könnte nun klarstellen, dass er „gleichsetzen“ meint, wenn er „vergleichen“ sagt. Doch jeglichem Gleichsetzen muss logisch ein Vergleichen vorausgehen. Wie sollte man sinnhaft „x ungleich y“ sagen können, wenn man vorher nicht verglichen hat? Warum aber lag ausgerechnet auf dem Gleichsetzen so schnell ein Tabu, wenn SARS-CoV-2 tatsächlich gleich gefährlich oder gleich schlimm sein konnte wie Influenza oder andere Coronaviren? Es hätte auch schlimmer oder weniger schlimm sein können.
Worin besteht der rationale Vorzug, auf Basis von Nichtwissen oder unzureichendem Wissen dogmatisch festzulegen, dass Corona gefährlicher und schlimmer zu sein habe als Influenza?
Antworten Befürworter nun mit dem Vorsorgeprinzip, drängt sich die Gegenfrage auf, warum sie es — siehe Kriterium 1 — nur hier in Anschlag bringen und nicht zum Beispiel auch für den Fall, dass SARS-CoV-2 ähnlich gefährlich sein könnte wie Influenza, oder sogar weniger gefährlich als diese?
Denken wir an die Kriterien 4, 5 und 6 könnte der Bestreitende in einem konkreten Gespräch zum Beispiel erwidern: „Stimmst du mir zu, dass jedes Handeln, Unterlassen und Zulassen Folgen hat? Stimmst du mir weiter zu, dass jedes Handeln, Unterlassen und Zulassen negative Folgen haben kann? Wenn ja, berufe ich mich nun ebenfalls auf das Vorsorgeprinzip und dekretiere kraft meines nicht vorhandenen Amtes, dass Corona auf keinen Fall in seiner Gefährlichkeit überschätzt werden darf, damit nicht durch Massenpanik und Aktionismus großes Unheil angerichtet wird.
Wer Corona mit Influenza vergleicht oder gleichsetzt, verharmlost letztere, betreibt unverantwortliche Angstmache und wird mit lebenslänglicher Verbannung ins Panikorchester bestraft. Du siehst: Mit dem Vorsorgeprinzip hast du argumentativ nichts gewonnen. Weil du es in dieser Weise verwendest, darf ich es auch, um das Gegenteil zu ,beweisen‘. Da du in der Rechtfertigungspflicht bist, habe ich gewonnen, und du musst dir etwas anderes überlegen. Komm wieder, wenn du Besseres zu bieten hast. Mit Vergleichsverboten und Vorsorgeprinzip kannst du niemanden überzeugen, der seinen Verstand beisammen hat.“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Peter Janich, Kein neues Menschenbild, Frankfurt am Main 2009, S. 21.
(2) Vgl. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Band 1, Frankfurt am Main 1973, S. 62.
(3) Erich Kästner, Über das Verbrennen von Büchern, Zürich 2013, S. 12.
Eine ausführliche Version des Textes hat der Autor hier zur Verfügung gestellt.