13,8 Millionen Menschen in Deutschland gelten als arm ― das sind 16,6 Prozent der mehr als 84 Millionen Bundesbürger. Darauf hatte im Juni 2022 der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem aktuellen „Armutsbericht“ aufmerksam gemacht. Als von Armut betroffen beziehungsweise bedroht gilt offiziell, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Diese Grenze liegt derzeit hierzulande bei 1.148 Euro im Monat für Alleinstehende. Weitere Informationen gibt es unter anderem auf der Website der „Nationalen Armutskonferenz“ (NAK):
Der „Armutsbericht 2022“ weist darauf hin, dass „ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere Selbstständigen (von 9 auf 13,1 Prozent), die während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten“, registriert wurde. Zudem gebe es „Armutshöchststände“ bei Rentner (17,9 Prozent) sowie Kindern und Jugendlichen (20,8 Prozent).
Die Entwicklung habe sich in Folge der Coronakrise verschärft, wie Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider dazu Ende Juni 2022 erklärte:
„Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie.“
Die Coronakrise habe vor allem Menschen ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Minijobbern und kleine Selbstständige „erheblich getroffen“. Das ist dazu ebenfalls im aktuellen „Verteilungsbericht“ des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zu lesen, veröffentlicht im November 2022.
Es gibt laut dem „Armutsbericht“ regionale Unterschiede, die eine soziale Spaltung Deutschlands deutlich machen. Schleswig-Holstein, Brandenburg, Baden-Württemberg und vor allem Bayern würden sich „positiv absetzen“. Dagegen wiesen fünf Bundesländer überdurchschnittlich hohe Armutsquoten auf: Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und das Schlusslicht Bremen, „weit abgeschlagen mit einer Armutsquote von 28 Prozent“. Und: „Armutspolitische Problemregion Nr. 1“ bleibe dabei das Ruhrgebiet, der mit 5,8 Millionen Einwohnern größte Ballungsraum Deutschlands. In dem ehemaligen industriellen Herz der Bundesrepublik lebt dem Bericht zufolge heute mehr als jeder und jede Fünfte in Armut.
Nützliche Debatte
Die 60-Prozent-Grenze sorgt wiederholt dafür, dass die Rolle dieser sogenannten relativen Armut in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, infrage gestellt oder als nicht so gravierend dargestellt wird. Dabei wird oftmals der Vergleich mit der Lage von Menschen in anderen Weltgegenden missbraucht, die in extremer Armut leben.
„Für die politisch Verantwortlichen wirkt es natürlich beruhigend und sie selbst entlastend, wenn das Phänomen ausschließlich in Entwicklungsländern verortet wird“, meinte der renommierte Armutsforscher Christoph Butterwegge dazu im August 2021 in der Zeitschrift Ossietzky. Er verwies darin auf die Betroffenen von extremer beziehungsweise existenzieller Armut in Deutschland, deren Zahl ebenfalls zunimmt:
„Wohnungs- und Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige, ‚Straßenkinder‘, bei denen es sich meist um obdachlose Jugendliche handelt, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, EU-Ausländer/innen ohne Sozialleistungsansprüche und ‚Illegale‘, die man besser als illegalisierte Migrant(inn)en bezeichnet.“
Butterwegge klärte darüber auf, was die relative Armut bedeutet, die „auf den Wohlstand, der sie umgibt, und den Reichtum, der sie hervorbringt“, verweise. Betroffen davon sei „wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber nur das Allernötigste leisten und mangels finanzieller Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann“.
Der Sozialforscher hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Er stellte klar, dass nicht das Verhalten der Betroffenen die Ursache sei. Ausschlaggebend seien stattdessen vielmehr „die sozioökonomischen Verhältnisse, unter denen sie leben (müssen). In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott- oder naturgegeben, sondern letztlich systemisch, das heißt, durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt.“
Dreifache Ausgrenzung
In einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung im Juli 2022 schrieb der Armutsforscher:
„Arme unterliegen in unserer Gesellschaft einer dreifachen Ausgrenzung: Ökonomisch bedingt mangelt es ihnen häufig an den langlebigen Konsumgütern und personenbezogenen Dienstleistungen, die für materiell Bessergestellte als normal gelten. Ihre sozialen Beziehungen leiden unter den Ressentiments gegenüber ‚Hartzern‘, ‚Drückebergern‘ oder ‚Faulenzern‘, die Boulevardmedien und Privatsender in der Mehrheitsbevölkerung gezielt verbreiten. Politisch können sie ihre Interessen nicht durchsetzen, sondern bleiben in der Regel ohne Einfluss auf staatliches Handeln, das ihnen gegenüber im besten Fall patriarchalisch und im schlimmsten Fall repressiv ist.“
Butterwegge machte jüngst in mehreren Interviews und Beiträgen deutlich, dass die Armut „immer stärker zur Mitte der Gesellschaft vordringt“. Davon kündet auch der schon erwähnte aktuelle „Verteilungsbericht“ des WSI. Danach ist der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber Durchschnittsverdienenden zwischen 2010 und 2019 um ein Drittel gewachsen. Auch die Ungleichheit bei den Einkommen habe einen neuen Höchststand erreicht.
Schon vor der Coronakrise hat laut dem jährlichen WSI-Bericht die Zahl der Armen zugenommen. So sei in den 2010er-Jahren, in denen eine generell gute Wirtschaftsentwicklung verzeichnet wurde, die Armutsquote von 14,3 auf 16,8 Prozent gestiegen. Und: „Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, stieg im gleichen Zeitraum von 7,9 auf 11,1 Prozent“. Das bedeutet mehr als acht Millionen Einzelschicksale in einem der reichsten Länder dieser Welt.
Neben der Coronakrise spitze die gegenwärtige Politik im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die Lage armer Menschen zu, heißt es beim WSI. Vor allem Haushalte am unteren Ende der Einkommenshierarchie würden die hohen Energiepreise und die Inflation hart treffen.
Vielfache Folgen
Der Psychologe Georg Rammer warnt wie Sozialforscher Butterwegge seit Langem vor den individuellen und gesellschaftlichen Folgen und schrieb 2018 in der Zeitschrift Ossietzky:
„Die Armut entfaltet ihre destruktive Kraft in Verbindung mit der krassen Ungleichheit. Diese macht Menschen und Gesellschaften krank ― das ist bekannt und durch unzählige Studien nachgewiesen.“
Armut und Ungleichheit bedeuten laut Rammer systematische Benachteiligung nicht nur in materieller, sondern auch in sozialer und seelischer Hinsicht.
„Mindestlohn und Hartz IV, Minijobs, Leiharbeit et cetera erlauben kein Leben in Würde. Für Betroffene bedeutet das, auf Selbstverständlichkeiten des Alltags verzichten zu müssen und von vielen Möglichkeiten ausgeschlossen zu sein.“
Armut bedeute Dauerstress, ständige seelische Belastung in Familien und erlaube kein selbstbestimmtes Leben. Die Folgen seien oftmals Angst, Scham, Schuldgefühle, Depression, Rückzug. Die sozialen Ursachen würden individualisiert.
Rammer erinnerte daran, dass der Sozialmediziner Gerhard Trabert schon 1999 die Krankheiten auflistete, die armutsbedingt häufiger auftreten: Herzkrankheiten, Schlaganfall, Krebs-, Magen und Lebererkrankungen, Ängste, Depression, Unfälle, Erkrankungen der Verdauung, der Atemwege, Schlaf- und Menstruationsstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen. Selbsttötungsversuche würden bis zu 20-mal häufiger bei Arbeitslosen als bei vergleichbaren Gruppen von Erwerbstätigen zu finden seien. „Die Folge: Die Lebenserwartung ist bei Armen acht bis elf Jahre geringer als bei Wohlhabenden.“ Der Psychologe verwies ebenso auf die sozialen und seelischen Folgen für Kinder: „Armut und ihre Folgen werden ‚vererbt‘“.
Wie Armutsforscher Butterwegge und der „Armutsbericht“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes weist der aktuelle WSI-„Verteilungsbericht“ auf eine weitere Folge hin: Arme haben weniger Vertrauen in das Handeln politischer Akteure. „Hier geraten die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken“, so die Autoren.
„All dies wird nicht nur von den Armen selbst, sondern auch über die gesamte Bevölkerung hinweg als Bedrohung wahrgenommen: 70 Prozent der Deutschen geben an, dass sie eine zunehmende soziale Spaltung fürchten.“
Verschärfte Lage
Butterwegge kritisiert seit Jahren die bundesdeutsche Politik für ihre Untätigkeit angesichts der hohen Armutszahlen. In der Süddeutschen Zeitung schrieb er, dass die politisch Verantwortlichen in Deutschland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die Lage der Betroffenen noch verschärften: Die etablierten Parteien und die (Medien-)Öffentlichkeit der Bundesrepublik hätten sich mehr um ukrainische Flüchtlinge als um einheimische Obdach- und Wohnungslose gekümmert. Zum Teil seien Notunterkünfte sogar geräumt worden, weil die Betreiber solcher Einrichtungen mehr Geld erhielten, wenn sie ukrainische Geflüchtete unterbrachten.
„Während mehrere Hundert Arme im Gefängnis saßen, weil sie die Geldstrafe für ihr ‚Schwarzfahren‘ nicht bezahlen konnten, durften Ukrainerinnen und Ukrainer den öffentlichen Personennahverkehr kostenlos benutzen.“
Der Sozialforscher warnte:
„So erzeugt man Vorurteile und Ressentiments gegenüber Menschen, die gleichfalls Hilfe brauchen. Wie im Laufe der ‚Flüchtlingskrise‘ 2015/16 wächst somit die Gefahr des Rassismus, der sich in letzter Konsequenz auf die Konkurrenz zwischen unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen zurückführen lässt.“
Daraus würden rechtspopulistische Bewegungen, Organisationen und Parteien Honig saugen, „die ihre demagogische Propaganda als Ergebnis der Machenschaften einer korrupten Elite und einer Welle der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme deuten“.
Butterwegge gehört zu jenen Sozialwissenschaftlern, die zwar klar erklären, dass „die Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen der Bundesrepublik grundsätzlich infrage zu stellen“ sind, wenn Armut tatsächlich bekämpft werden soll. Sie beklagen, dass in Folge der Pandemie die Armut und die Ungleichheit zugenommen haben. Aber sie weigern sich leider, zu erkennen und zu benennen, dass die Politik in der Coronakrise und die dabei gezielt gemachte Angst vor dem Virus SARS-CoV-2 genau den gleichen Verhältnissen und Interessen entsprang. So fehlt bei ihnen der Hinweis darauf, dass nicht ein Virus, sondern dieselben Kräfte für die wachsende Armut und die sie verschärfende Coronapolitik verantwortlich sind. Dabei haben sie das analytische Rüstzeug für solche Erkenntnisse.
Erforderliches Machtmittel
2009 hatte Butterwegge in der Zeitschrift Ossietzky klar geschrieben: „Die Armut ist gewollt!“ Sie entstehe „nicht trotz, sondern durch Reichtum.“ Armut sei ein Strukturmerkmal und Funktionselement einer kapitalistischen Marktgesellschaft sei, die fast alle Lebensbereiche dem Konkurrenzparadigma und neoliberalen Modellvorstellungen unterordnet.
„Armut ist für die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse erforderlich, hält sie doch unmittelbar Betroffene, Erwerbslose und Arbeitnehmer/innen gleichermaßen unter Kontrolle. Armut dient als politisch-ideologisches Druckmittel, materielles Disziplinierungsinstrument und soziale Drohkulisse zugleich: Sie demonstriert jenen Menschen, die arm sind, dass ihre Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft nicht ausgereicht hat, um sich zu etablieren, und sie demonstriert jenen Menschen, die nicht arm sind, dass sie weiterhin loyal bleiben müssen, um nicht abzustürzen.“
Es ist die gleiche Politik, die Armut hervorruft und die Gesellschaft in solche Schockzustände wie durch die Coronakrise versetzt.
Psychologe Rammer schrieb 2018:
„Die staatlichen Statistiken dienen nicht als Basis für die Bekämpfung der Armut, sondern als Abschreckung. Neben der Terrorangst der Bürger soll die Angst vor sozialem Abstieg wirken; im Hintergrund lauert die Angst vor Altersarmut und das Schuldgefühl, den Kindern keine gute Lebensgrundlage vermitteln zu können. Mit der Angst verbindet sich die Scham: Die infame Schuldzuweisung an die Armen, sie selbst seien ihres Elends Grund, wurde von vielen Betroffenen verinnerlicht.“
Die Demütigung und persönliche Entwertung, die Zerstörung des Selbstbewusstseins seien beabsichtigte „Kollateralschäden“ ― ebenso wie die Schwächung der Gewerkschaften, so Rammer. Armut und Ungleichheit wirkten als Gewalt und entsprächen In ihrer Wirkung systematischer Körperverletzung. „Sie zerstören das Selbstbewusstsein, versagen Mitgefühl und Respekt und entziehen Lebensenergie.“ Der Psychologe betonte:
„Unterdrückung und Ausbeutung zu bekämpfen und zu besiegen setzt Selbstbewusstsein, Emanzipation und Rebellion der Betroffenen voraus. Ein solcher Klassenkampf ist nicht abzusehen.“
Dem ist vier Jahre später nichts hinzuzufügen. Die „Nationale Armutskonferenz“ (NAK) stellte im November 2022 fest: „Die harte Diskriminierung und Brandmarkung von sozial Ausgegrenzten, die besonders unter der gegenwärtigen Krise leiden“, sei mit dem neuen „Bürgergeld“ noch in den Vordergrund geraten.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Armut ― sozialer Sprengstoff und Herrschaftsmittel“ Anfang Februar im Magazin ViER Heft 1/23 (online siehe www.vierte.online).