Wie entsteht Reichtum? Wie entsteht Armut? In José Saramagos Roman „Die Stadt der Blinden“ wird exemplarisch der Sündenfall geschildert, der zu einer ungleichen Verteilung der Güter führt. In einer ehemaligen Irrenanstalt ist eine Gruppe von Blinden unter Quarantäne eingeschlossen. Wer das Gelände verlässt, wird von den Wachen erschossen. Ansteckungsgefahr! Die Blinden müssen sich komplett selbst verwalten, nur das Essen wird täglich dreimal von „außen“ geliefert — für jeden ein Essenspaket, genau abgezählt. Das funktioniert eine Weile, bis es einem der Blinden gelingt, einen Revolver in die Unterkunft zu schmuggeln. Von jetzt an gibt es das Essen nicht mehr umsonst, sagt er. Von jetzt an verteilen wir das Essen, und jeder muss dafür bezahlen, wenn er nicht verhungern will. Zur Bekräftigung seines Machtanspruchs schießt er in die Luft.
Die eingeschüchterten Blinden liefern ihm ihren Schmuck, ihren spärlichen Besitz, sogar ihre Eheringe aus. Dann kommt der zweite Schock: Die neue „Führungselite“ teilt jedem seine Ration zu: nur noch die Hälfte dessen, was jeder zum Überleben braucht. Vorerst sind die Opfer gegenüber der „Mafia“ machtlos. Während sie mit Hunger und Wut im Bauch ausharren, stapeln sich die Essenspakete im Zimmer der neuen Herren. Es ist viel mehr, als diese überhaupt selbst vertilgen können. Das Essen verfault und stinkt zum Himmel — so wie die Ungerechtigkeit dieser Situation …
Wie wird man Grundbesitzer?
Es ist unschwer zu erraten, dass Saramago hier ein Gleichnis für die Situation auf unserem Planeten schaffen wollte — von dem reizvollen Detail, dass es sich hier auch um einen frühen machtkritischen Seuchenthriller handelt, ganz abgesehen. Die einen haben im Überfluss, die anderen zu wenig. Die Geschichte zeigt, dass in einer Welt begrenzter Mittel die Armut des einen den Reichtum des anderen bedingt — und umgekehrt. Haben diese Beobachtungen etwas mit unserer wirklichen Welt zu tun? Wie entsteht in der Realität Reichtum, zum Beispiel der Reichtum an Grundbesitz?
Ein konkretes Beispiel: In Brasilien besitzen 2 Prozent aller Grundbesitzer 46 Prozent allen fruchtbaren Bodens. Hier die Geschichte dazu:
„Brasilien wurde Anfang des 16. Jahrhunderts von portugiesischen Invasoren ‚entdeckt’, soll heißen: unterworfen, besetzt und ausgeplündert. Die den indigenen Bevölkerungen gestohlenen Ländereien vergab der König von Portugal nach einer simplen Methode: Er teilte die brasilianische Atlantikküste in Parzellen auf. Alle seine Generäle, Admiräle, Bischöfe und Kurtisanen erhielten ein Stück Küste. Der neue Grundeigentümer suchte nun seinen Besitz gegen das Landesinnere hin zu vergrößern. Aller Boden, den er beim geradlinigen Vordringen ins Herz des unbekannten Kontinents betrat, gehörte ihm.“
So schrieb es Jean Ziegler in seinem Buch „Die neuen Herrscher der Welt“.
Eine skurril wirkende Geschichte aus grauer, barbarischer Vorzeit, möchte man meinen. Das Problem ist nun, dass diese ursprünglichen Riesengrundbesitze, capitanias genannt, zum großen Teil bis heute in den Händen der Nachkommen besagter Kapitäne und Kurtisanen sind. Heutige Großgrundbesitzer sind noch immer berechtigt, über Riesenlandstriche zu verfügen, die sie und ihre Familien nicht annähernd privat nutzen, geschweige denn zum allgemeinen Wohl mit Nutzpflanzen bebauen. Daher knöpfen sie den armen Bauern, die aus „ihrem“ Land tatsächlich etwas machen, hohe Pachtgebühren ab oder lassen das Land gleich ungenutzt brach liegen.
Verdienter Wohlstand?
Es stellt sich nun natürlich die Frage, ob Reichtum wirklich immer so zustande gekommen ist wie in dem fiktiven Beispiel aus „Die Stadt der Blinden“ oder dem realen Fall aus Brasilien. Gibt es keine Reichen, die ihr Vermögen wirklich verdienen? Jeder von uns kennt Menschen, die es durch harte Arbeit, durch Qualifikation und kontinuierliche Qualität zu Wohlstand gebracht haben: Ein Arzt, der als Chirurg Leben rettet. Eine Pianistin, die für die Beherrschung ihres Instruments jahrzehntelang unermüdlich geübt hat und Tausenden von Zuhörern damit Freude bereitet. Ein Unternehmer, der mit hohem Risiko und 60-Stunden-Woche eine florierende Firma aufgebaut und dutzende von Arbeitsplätzen geschaffen hat. Dürfen diese Menschen nicht mehr verdienen als ein „Faulpelz“, der seine Jugend vertrödelt hat, während unsere Pianistin schon als Teenagerin täglich fünf Stunden Klavier übte?
Dieses Bild vom redlich verdienten Reichtum („Jeder ist seines Glückes Schmied“) ist nicht grundlegend falsch. Es wird allerdings in unserer Gesellschaft zu einseitig betont, wobei die unbequeme andere Seite der Wahrheit gern unterschlagen wird.
In einer Liste des Magazins Stern werden 100 verschiedene Berufe hinsichtlich ihres Durchschnittsverdienstes miteinander verglichen. An der Spitze stehen Piloten mit durchschnittlich 6.927 Euro pro Monat, das Jahresgehalt ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld beträgt 83.124 Euro. Das erscheint gerecht, schließlich handelt es sich um einen verantwortungsvollen, hoch qualifizierten Beruf. Betrachten wir zum Vergleich den Spitzenverdienst eines Topmanagers.
Wenn Steve Angel, Chef des Industriegase-Konzerns Linde auf einer Gehaltstabelle mit jährlich 40,04 Millionen Euro dotiert wird, so bedeutet dies: Der Manager „verdient“ fast das Fünfhundertfache des Piloten. Eine Stunde im Leben des Steve Angel ist also mit fünfhundertmal mehr Sinn, Bedeutung und gesellschaftlichem Nutzen angefüllt wie eine Stunde im Leben unseres Piloten, in dessen Hände täglich Menschenleben gegeben sind?
Nimmt man statt des Piloten einen Altenpfleger als Maßstab, so kommen wir schon auf ein Verhältnis von rund 1:15.826. Herr Angel muss also eine sagenhafte Leistung vollbringen, denn Altenpflege ist, wie man weiß, eine aufreibende, harte und auch qualifizierte Arbeit. Wie aber, frage ich, kommt jemand dazu, sage und schreibe 270,1 Milliarden US-Dollar zu „verdienen“ — das geschätzte Vermögen von Elon Musk. Da muss eine Arbeitsstunde noch um einiges mehr „wert“ gewesen sein als bei unserem ohnehin schon an der Grenze zum Übermenschentum agierenden Herrn Angel. Wenn Musk 30 Jahre berufstätig gewesen wäre, hätte er zum Beispiel durchschnittlich neun Milliarden jährlich verdient, über den Daumen gepeilt also mehr als das Hundertausendfache unseres Piloten.
Geld bedeutet Macht
Angesichts solcher Dimensionen stellt sich natürlich die dringliche Frage: Kann man solche Geldsummen „verdient“ haben? Oder haben die Betreffenden nicht eher Glück gehabt, massiv getrickst und sich auf Kosten anderer bereichert? Und noch eine scheinbar naive Frage stellt sich: Was soll dieser Mann denn mit dem vielen Geld anfangen? Etwa 100 Schnitzel am Tag essen? 100 Rolls Royce besitzen? Oder gar 100 Yachten? Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: Vielleicht will ein Milliardär ja gar keine Schnitzel kaufen, sondern Menschen — zum Beispiel Medienschaffende oder Politiker. Müsste man also Reichtum nicht schon allein wegen dessen unkontrollierten Machtpotenzials begrenzen?
Eine zweite Antwort auf die Frage „Was fangen die mit ihrem Geld an?“, wäre ganz simpel: „Sie legen es an.“ Anlegen bedeutet im Klartext: Andere Menschen müssen dafür arbeiten. Es ist kein Zufall, dass das Wachstum der Schulden, sowohl der privaten als auch öffentlichen Haushalte, und das Wachstum der Vermögen einander spiegelbildlich entsprechen. In einem System begrenzter Ressourcen entspricht der Gewinn des einen dem Verlust des anderen. „Wirtschaftswachstum“ kann diesen Effekt nur abmildern, nicht verhindern.
Die Wachstumsideologie, die unsere Umwelt schädigt, ist der verzweifelte Versuch, unbegrenztes Vermögenswachstum zu ermöglichen, ohne dass deshalb die Löhne sinken müssen.
Ein Wettlauf, der längst verloren ist. Denn Zinsen führen gemäß einer mathematischen Gesetzmäßigkeit auf Dauer zu einem exponentiellen Wachstum. Produktivität und menschliche Leistungsfähigkeit können da nur zunehmend hinterherhinken.
„Somit besitzen weltweit die reichsten 0,001 Prozent, das sind knapp 100.000 Personen, etwa knapp ein Drittel des Finanzvermögens“, heißt es in einer aktuellen Studie vom Juni 2022. „Die Corona-Pandemie hat das Wachstum der Milliardäre nicht aufgehalten“, vermeldete vornehm zurückhaltend das Webmagazin heute, das diese Zahl veröffentlicht hat. Das ist eher beschönigend ausgedrückt. Der Blaue Bote bezeichnete Corona als den „Haupttreiber des Reichtumszuwachses der Milliardäre“. Der Ukraine-Krieg bescherte den Rüstungskonzernen laut Focus aktuell ein „Kursplus von 93 Prozent“.
Intuitiv lösen solche Zahlen bei jedem Unbehagen aus, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Kaum einer zieht aber die richtigen Schlussfolgerungen: Nehmen wir an, man könnte jene Superreichen, die derzeit die Hälfte des Weltvermögens für sich vereinnahmen, dazu bewegen, ihr Geld bis auf ein komfortables Existenzminimum freiwillig abzugeben. Bedeutet dies nicht, dass dann jeder von uns das Doppelte seines heutigen Einkommens beanspruchen könnte — oder dass er bei gleichem Einkommen nur die Hälfte arbeiten müsste? Das Doppelte — das könnte für Menschen, die vom Hungertod bedroht sind, das Überleben bedeuten. Dieses Geld ermöglichte heutigen „Prekären“ in Deutschland oder Österreich den Zugang zu mehr finanzieller Freiheit, zu Würde und bescheidenem Luxus.
Ist Reichtumskritik „Neid“?
Befürworter des Sozialabbaus und des freien Marktes bezeichnen solche Ideen gern als „Neiddebatte“. Ist an diesem Vorwurf was dran? Zunächst ist eine Gegenfrage zu stellen: Wünschen sich tatsächlich alle Kritiker des herrschenden Wirtschaftssystems, mit einem Milliardär oder erfolgreichen Börsenspekulanten zu tauschen? Viel wahrscheinlicher ist, dass sie an Gerechtigkeit interessiert sind, an einem angemessenen Lohn für ihre Arbeit — ohne dass große Teile des erwirtschafteten Reichtums an „Absahner“ abfließen. Die meisten Menschen haben wohl den Wunsch, von Existenznot befreit zu sein, von entwürdigen Einschränkungen ihrer Wahl- und Bewegungsfreiheit. Aber Neid?
Neid im moralisch fragwürdigen Sinn würde bedeuten, dass einen das Unglück der Reichen mehr begeistern würde als das eigene Glück. Es würde bedeuten, dass es einem nicht auf Gerechtigkeit und den maßvollen Wohlstand aller, sondern allein auf den eigenen Besitz — auf Kosten anderer — ankommt.
Neid ist der Wunsch, mit einem anderen, den man in einer glücklichen Lage wähnt, den Platz zu tauschen. Man strebt damit nicht die Abschaffung des Unrechts an, sondern dessen Aufrechterhaltung — nur mit umgekehrter Rollenverteilung.
Statt auf der Opferseite zu bleiben, möchte man nun auf die Täterseite überwechseln. Eine solche negative Form von Neid kann Kritikern des Reichtums und des herrschenden Wirtschaftssystems nicht pauschal unterstellt werden. Es handelt sich bei der Kritik an „Neiddebatten“ also eher um einen rhetorischen Trick, ein Scheinargument, mit dem privilegierte Kreise ihre Pfründe verteidigen.
Im Übrigen ist „Neid“ von den sieben katholischen Todsünden nicht diejenige, über die wir uns bezüglich der aktuellen Politik am meisten Sorgen machen müssen. Auch „Geiz“ gilt als Sünde, und ebenso „Völlerei“. Der Geiz verweigert sich dem freien Fließen der Energien, wozu Geben und Nehmen gleichermaßen gehören. Sein körperliches Pendant ist die Verstopfung, weshalb Sigmund Freud auch von einer „anal-hortenden“ Charakterstruktur spricht. Der Geizige lässt, was eigentlich fließen sollte, zu festen Gegenständen erstarren und bewacht diese wie ein Drache seinen Nibelungenschatz.
„Völlerei“ dagegen bedeutet: nie genug kriegen können — eine orale Störung, um im Freudschen Jargon zu bleiben. In buddhistischer Terminologie nennt man die Unmäßigen auch „hungrige Geister“. Sie füllen mit dem „In-sich-Hineinstopfen“ von materiellen Gütern eine spirituelle Leere aus, weil sie von ihrer Quelle abgeschnitten sind. Beide Störungen sind in Europa leider nicht nur skurrile Randerscheinungen, sondern Teil der materialistisch-neoliberalen Leitkultur.
Trendthema „Höchstlöhne“
Im Zusammenhang mit Managergehältern ist in letzter Zeit häufiger von „Höchstlöhnen“ oder von einem „Lohndeckel“ die Rede. Das geht schon in die richtige Richtung. Auffällig ist aber, dass man dabei nur den Splitter im Auge bestimmter Manager sieht, während der Balken im Auge der Großvermögensbesitzer völlig unbeachtet bleibt. Das leistungslose Einkommen von „Anlegern“ wird nach wie vor nicht in Frage gestellt. Wie wäre es — wenn man schon nicht das ganze System in Frage stellen will — mit einer Höchstrendite? Oder — dabei wäre noch mehr zu holen — mit einem Höchstvermögen? Alles, was über ein Vermögen von über 1 Million hinausgeht, könnte wieder an die Gemeinschaft zurückfließen, weil es ja irgendwie ursprünglich von der Gemeinschaft genommen wurde. Die Zahl ist natürlich nur ein willkürliches Beispiel.
„Enteignung“, „Kommunismus“, würden nun viele rufen. In diesem Zusammenhang stelle ich ein merkwürdiges Phänomen fest: Man wirft der menschlichen Spezies ja immer Egoismus vor. Ich beobachte dagegen eine weit verbreitete, erstaunliche Selbstlosigkeit.
Viele Normalverdiener plagt ein schlechtes Gewissen, wenn von einer möglichen Enteignung der Superreichen die Rede ist; dagegen nehmen sie ihre eigene, tatsächliche Enteignung über Zinsen, Gebühren, überhöhte Preise, vorenthaltenen Lohn und so weiter tagtäglich ohne Murren hin.
Man muss als Fazit sagen: Enteignung ist in unserer Gesellschaft keineswegs ein Tabu, solange sie nur die „kleinen Leute“ betrifft.
Schreckgespenst „Enteignung“
Warum also diese Angst, die großen Vermögen anzutasten? Ich kann besonders empfindsame und selbstlose Zeitgenosse beruhigen: Der Verlust würde nach psychologischen Untersuchungen nicht einmal die Laune der Übervermögensbesitzer trüben. Die Glücksforschung hat nämlich herausgefunden, dass ab einem bestimmten Niveau, bei dem die gröbste Armut überwunden ist, das Glücksniveau nicht mehr parallel zur Höhe des Gehalts wächst. „Es besteht zwar ein riesengroßer Unterschied zwischen dem, ob man ‚überhaupt kein’ oder ‚genug’ Geld hat, aber praktisch kein Unterschied mehr zwischen dem, ob man ‚genug’ oder ‚sehr viel’ Geld hat.“ So steht es in einem Glücksforschungsportal.
Auch wenn man Untersuchungen über das Glücksniveau von Lottogewinnern liest, tun sich Abgründe auf: Viele von ihnen hatten die „Passvorlage“ des Schicksals schlecht genutzt, waren nach einigen Jahren verarmt oder unglücklich. Einer der ersten deutschen Lottogewinner aus dem Jahr 1956 soll in einem Obdachlosenasyl gestorben sein. „Große Gewinne“, analysierte Gerhard Meyer, Psychologe und Glückspielforscher an der Universität Bremen, „überfordern viele Menschen.“
Das Glücksgefühl, das sich bei Bekanntwerden eines Lottogewinns einstelle, verflüchtige sich bereits nach wenigen Wochen wieder. Wer nicht klug wirtschaftet und versteht, dass auch produktive Arbeit glücklich macht, verspielt alles wieder in kurzer Zeit. Ein Lottogewinner aus Bayern wurde gar zum Bankräuber, weil er sich an einen gewissen Luxus gewöhnt hatte und Nachschub brauchte. Diesen Nachschub verschaffen sich Börsianer, Anleger und Spekulanten lieber auf ganz legalem Weg — ohne deshalb unbedingt zufriedener zu werden.
Wir stehen nun also vor einem unfassbaren globalen Wahnsinn. Millionen von Menschen opfern — meist gezwungenermaßen, oft aber auch passiv zustimmend — das, was sie dringend zum Leben bräuchten, um es einer Minderheit von Reichen zuzuschanzen, die dieses Opfer nicht einmal glücklicher macht.
Die Schlussfolgerung aus der Lottogewinnerstatistik ist eben nicht: „Lasst den Reichen ihren Reichtum und bleibt bescheiden!“, sondern eher: Befreit die Reichen von ihrer Sucht und die Armen von ihrem Mangel! Schon um des durchschnittlichen Glücksniveaus auf der Erde willen müsste jeder denkende Mensch eine Umverteilung von dort, wo sehr viel Geld vorhanden ist, hin zu den Bedürftigen befürworten. In der Unabhängigkeitserklärung der USA ist vom „Pursuit of Happiness“ die Rede, dem Recht, nach dem Glück zu streben. Müsste das Glück der Bürger nicht oberste Richtlinie der Politik sein?
Was also derzeit dem Glück der vielen im Weg steht, ist nicht einmal das Glück der wenigen, sondern deren starker Wille, sich auf illegitime Weise Vorteile zu verschaffen. Wenn man Führungskräfte nicht 500-mal so hoch bezahlt wie ihre Angestellten, dann gehen sie beleidigt ins Ausland. Und wenn man keine maßlos hohen Renditen ausschüttet, dann wandert das Kapital, dieses „scheue Reh“, ab. Solche Befürchtungen sind in vielen Fällen sicher berechtigt. Ich meine aber: Menschen, denen ein Jahresgehalt von 100.000 Euro nicht genügt, gehören überhaupt nicht auf Führungspositionen, sondern eher in psychotherapeutische Behandlung. Denn sie versuchen ja offenbar mit ihren übermäßigen Gehältern eine innere Leere auszufüllen, die möglicherweise ohne diesen Job gar nicht entstanden wäre. Man sollte sie davon erlösen und ihnen die Gelegenheit geben, bei bescheidenem Lebensstandard immaterielle Werte schätzen zu lernen.
Missverstandene „Eliten“
Realitätsnahe Analysen der Armuts- und Reichtumsentwicklung scheitern immer wieder daran, dass die meisten Menschen Absichten der „Eliten“ verkennen. Grund dafür ist, dass wir unsere eigene Mentalität dabei als Maßstab nehmen. Eine typische verkürzende Prämisse — ausgedrückt in meinen eigenen Worten — wäre in diesem Zusammenhang:
„Reiche versuchen so viel Geld wie möglich zu akkumulieren, damit es ihnen besser geht und sie mit dem erworbenen Vermögen ihr Leben genießen können. Die Armut der Massen ist demgegenüber ein Kollateralschaden, der zwar hartherzig in Kauf genommen wird, jedoch eigentlich nicht beabsichtigt war. Ist ein bestimmtes Level an luxuriösem Wohlgefühl erreicht, streben Reiche nicht weiter nach Profiten. Warum sollten sie auch. Es empfiehlt sich also, das ‚Raubtier‘ bis zur Erreichung einer gewissen Sättigung zu füttern, damit wäre der Klassenkonflikt befriedet, weiterer Überfluss könnte dann endlich auch den Normal- und Geringverdienern zugutekommen.“
Diese Annahme greift aus verschiedenen Gründen zu kurz. Wir sollten das Streben nach Vermögenswachstum nicht analog zu einer üppigen Mahlzeit sehen, bei der ab einem bestimmten Sättigungsgrad nicht mehr nötig ist, weiter zu essen. Vielmehr ist die passende Analogie die der Sucht. Es gibt diesbezüglich zwei Varianten: Sucht nach Reichtum und Sucht nach Macht. Offenbar ist Reichtum die mildere Droge, Macht dagegen eine hochtoxische Substanz mit großem Potenzial, abhängig zu machen.
Einen Superreichen darauf aufmerksam zu machen, dass er schon „alles hat“, gleicht dem Hinweis an einen Alkoholiker nach dem fünften Bier, er könnte doch jetzt eigentlich nicht mehr durstig sein.
Natürlich macht Konsum ab einer bestimmten Stufe nicht mehr glücklicher, wie uns die Glücksforschung verrät. Vielleicht aber geht es gar nicht um mehr Lebenszufriedenheit, so wie wir sie verstehen, sondern eher um die Vermeidung von Entzugserscheinungen.
Für den Reichen muss die Möglichkeit zu unbegrenzter Bedürfnisbefriedigung nach einiger Zeit schal wirken. Reizvoll erscheint es ihm dagegen offenbar, die Welt nach seinem Willen zu gestalten. Stellen Sie sich vor, Sie könnten ein Produkt, das Sie hergestellt haben, annähernd der ganzen Welt aufschwatzen oder aufnötigen. Ein Softwareprogramm etwa oder einen Impfstoff. Ihre Impulse würden das Alltagsleben von Millionen Menschen auf der ganzen Welt bis in die kleinste Verzweigung hinein beeinflussen — wie würde sich das anfühlen? Es wäre eine andere Art von „Glück“ als jenes, das in der bescheidenen Zufriedenheit des Normalmenschen liegt. Vielmehr sprechen wir von dem exquisiten Befriedigungsgefühl, das durch das Wachstum von Macht und Einflussmöglichkeiten erzeugt wird.
Harte neue Welt
Denkbar ist durchaus auch eine im erweiterten Sinn philanthropische Absicht. Jemand möchte eine stark zentral gelenkte Gesellschaft mit weitgehend entmündigten, jedoch bequem und in Frieden lebenden Bürgern schaffen, weil er tatsächlich glaubt, dies sei das Beste zum Wohle aller. Aldous Huxley verlieh dieser Vision Ausdruck in „Schöne neue Welt“. Menschen stehen dort unter Glücksdrogen, sie besitzen jedoch keine Freiheit zur eigenständigen Entwicklung, ihr Platz in der Gesellschaft wird ihnen ohne Aussicht auf Mitsprache „von oben“ zugewiesen. Doch das ist eine literarische Fiktion.
In der Realität verlegen sich unsere Politiker bisher eher auf „Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden“, sie schwören ihre allzu verweichlichte Bevölkerung auf unausweichliche Härten ein — gar auf zwei, fünf oder zehn „harte Jahre“. Als wäre es nicht schon jetzt hart genug, ein derartiges Politikerpersonal über Jahre ertragen zu müssen, zumal in Kriegs- und Corona-Zeiten.
Eine gar nicht schöne neue Welt droht, wenn Menschen — und ganze Völker — durch inszenierte „Sachzwänge“ in die Überschuldung getrieben werden. In der gegenwärtigen politischen Lage droht eine Verarmung auf breiter Front durch explodierende Energie-, Benzin- und Lebensmittelpreise. Menschen werden in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß Armut an Lebensqualität kennenlernen — zumindest in materieller Hinsicht. Sie sollen sich nach dem Vorbild des Wirtschaftsministers in Kurzduscher verwandeln und nirgendwo mehr hinfahren können, weil sowohl eine Autofahrt als auch eine Zugfahrt für sie unerschwinglich geworden sind. Oder sie können nur noch auf ein eingeschränktes Lebensmittelangebot zugreifen. Restaurantbesuche und der Genuss von Freizeitangeboten rücken dann nicht nur für Ungeimpfte außer Reichweite.
Dies kommt einer schrittweisen Hartz-IV-isierung breiter Bevölkerungsschichten gleich, weil eben diese in der Not erlernten Verhaltensmuster das Leben des extrem Einkommensarmen prägen: Man ist auf das enge Wohnumfeld beschränkt wie auf ein erweitertes Gefängnis; man kann sich nichts mehr leisten, was über die Erhaltung des „nackten Lebens“ hinausgeht; man hat ständige Angst vor der nächsten Rechnung, vor Überschuldung, Knappheit oder gar Hunger.
Eine solche Armut zermürbt, macht psychisch und am Ende auch körperlich krank. Wenn sich soziale Probleme, Demütigungserfahrungen und Wertlosigkeitsgefühle häufen, wird ein Aufbegehren gegen die herrschende Ordnung jedoch nicht — wie man annehmen könnte — wahrscheinlicher, sondern eher unwahrscheinlicher. Warum sonst hat sich seit der Ära Schröder nie eine wirklich kraftvolle Bewegung der Hartz-IV-Benachteiligten formiert? Wäre eine solche nicht mehr als angemessen, wenn man den Leidensdruck der Betroffenen bedenkt? Mit der Zeit schleicht sich ein Demoralisierungseffekt ein, der es den „Eliten“ im zweiten Schritt wiederum erleichtert, über die Entrechteten zu verfügen.
Hungernde schaffen es finanziell wie kräftemäßig nicht mehr, zu einer Demonstration in die nächstgelegene Großstadt zu fahren, sie bewältigen mit Mühe und Not den Fußmarsch zur nächsten „Tafel“. Anders ausgedrückt: Arme sind in vieler Hinsicht die idealen Staatsbürger.
Warum also sollte ein autoritärer Staat nicht bemüht sein, durch systematische Verarmung mehr von ihnen zu „erzeugen“?
Der Ring der Macht
Diese Dynamik funktioniert auch auf der Ebene der Völker und Nationen. Eskalierende, unumkehrbare Staatsverschuldung ist der „strategische Hebel“ des neoliberalen Projekts, so Albrecht Müller. Sie macht die Regierungen und Länder den Ansprüchen des Kapitals gegenüber fügsamer. In einer bestimmten „Liga“ geht es dann eigentlich überhaupt nicht mehr um mehr Reichtum, sondern nur noch um mehr Macht. In Richard Wagners vierteiligem Musikdrama „Der Ring des Nibelungen“ schmiedet der Zwerg Alberich aus dem schön glitzernden, jedoch im Grunde harmlosen Rheingold den „Ring der Macht“. Erst jetzt wird es gefährlich, denn der Zu-kurz-Gekommene strebt nach der Weltherrschaft.
So geschieht es auch in der Realität: Prassende Reiche, die sich in Schickeria-Soaps zur Schau stellen, sind ein Ärgernis, das eine Gesellschaft jedoch verkraften kann, so lange halbwegs für die Grundbedürfnisse der Nicht-Reichen gesorgt ist. Ein Bill Gates, ein Jeff Bezos oder ein Elon Musk dagegen sind eine wirkliche Gefahr für die Menschheit, weil ihre Gehirne nie zur Ruhe zu kommen scheinen, bevor sie nicht eine strategische Schnittstelle nach der anderen kontrollieren können: IT, Pharma, Künstliche Intelligenz, Trinkwasser, Ackerland … Solche Menschen sind persönlich nicht unbedingt „Prasser“, eher Arbeitssüchtige, deren Gedanken beständig um den zu erreichenden Machtzuwachs kreisen.
Wir müssen bei all dem auch eine noch dunklere Psychodynamik ins Auge fassen, eine Art Sadismus der Macht.
Nicht dass es ihm, dem Reichen, gut geht, könnte demnach der Hauptantrieb sein, sondern dass es uns, den Armen, schlecht geht. Armut wäre demgemäß nicht bloß ein Nebeneffekt des Reichtums; vielmehr machen „Eliten“ uns übrige Menschen bewusst und sehenden Auges kaputt, weil ihnen dies offenbar Freude bereitet.
Ihr persönlicher Wohlstand ist demgegenüber nur zweitrangig. Diese Variante wird nur sehr selten in den Fokus genommen, weil sie uns unvorstellbar erscheint. Wir gehen da schlichtweg zu sehr von unserer eigenen Wesensart aus, wir würden „so etwas“ nicht tun.
Der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm definierte die Motive des Sadisten als „das Bestreben, einen anderen Menschen völlig in die Gewalt zu bekommen, ihn zu einem hilflosen Gegenstand des eigenen Willens zu machen, zum absoluten Herrscher über ihn, zu seinem Gott zu werden und mit ihm machen zu können, was einem gefällt. Ihn zu demütigen und zu versklaven sind nur Mittel zum Zweck. Das radikalste Ziel ist, den Betreffenden zu quälen, da es keine größere Macht über einen anderen Menschen gibt, als wenn man ihm Schmerzen zufügt, wenn man ihn zwingt zu leiden, ohne dass er sich dagegen wehren kann.“
So mag es beim Anhäufen extremen Reichtums tatsächlich nicht um den lächerlich anmutenden Versuch gehen, hundert Schnitzel pro Tag zu essen oder hundert Yachten in den großen Luxushäfen der Welt liegen zu haben, sondern schlicht darum, mit dem eigenen Tun und Wirken einen Abdruck im Leben von möglichst vielen Menschen zu hinterlassen — ähnlich einer Fußspur im Schnee.
Das Bestreben, eine Wirkung zu erzielen, einen Unterschied zu machen und somit nicht umsonst gelebt zu haben, kann durch zugefügte Schmerzen ebenso befriedigt werden wie durch bei anderen Menschen hervorgerufenes Glück. Der Mächtige „spürt sich“ im Hass anderer auf ihn ebenso wie in ihrer Liebe. Und wenn es ihm schwerfällt, letztere in ihnen zu erwecken, kann ihm ersterer als kranke Ersatzbefriedigung dienen. Zu beweisen ist eine derartige Theorie nur schwer — erst recht nicht im Einzelfall. Aber auch wenn nicht sicher scheint, dass Sadismus das Hauptmotiv vieler Superreicher und mächtiger Strippenzieher ist — andere Erklärungsversuche für den desaströsen Zustand unserer Welt befriedigen ebenfalls nicht vollständig.
Die politische und soziale Gesamtsituation sieht schlicht so aus, als befänden wir uns in den Händen einer Clique von Sadisten. Auch die Definition, die der Marquis de Sade selbst in seinem Roman „Justine“ gibt, ist politisch anwendbar:
„Nicht Lust willst du deinen Partner empfinden lassen, sondern Eindruck willst du auf ihn machen; der des Schmerzes ist weit stärker als der der Lust (…) das merkt man; man nutzt ihn und findet Befriedigung.“