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Antisemitismus 2.0

Antisemitismus 2.0

Darf man Israel kritisieren?

Antizionismus gleich Antisemitismus? Dieses „Argument“ dient oft als argumentativer Schutzwall, hinter dem sich massive Menschenrechtsverletzungen in Israel verschanzen. In Deutschland fällt Kritik an der Politik der israelischen Rechten eher (über)vorsichtig aus. Dabei würden gerade die Erfahrungen aus der Nazi-Diktatur es erfordern, sich gegen Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung einzusetzen – von wem auch immer sie ausgeht.

Offizielle Vertreter jüdischer Gemeinden erwecken gern den Eindruck, Jüdinnen und Juden stünden einheitlich hinter Benjamin Netanjahu und seiner teilweise desaströsen Palästina-Politik. Jüdische Kritik am gewalttätigen Zionismus wird als Marotte weniger Exzentriker mit „jüdischem Selbsthass“ abgekanzelt. Eine ausführlichere Recherche zeigt aber: es sind viele, die mittlerweile sagen „Nicht in unserem Namen“ – und sie haben gute Argumente.

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes ist eindeutig. Dass Menschen aufgrund ihres jüdischen Glaubens Nachteile erfahren, ist eine traurige Realität. Derartigem Antisemitismus ist unbedingt entgegenzutreten. Die Gleichsetzung der Begriffe Antisemitismus und Antizionismus birgt aber eine Gefahr: Wer den aus der zionistischen Bewegung entstandenen Staat kritisiert, kann leicht als „Antisemit“ diskreditiert werden. In Deutschland führt das dazu, dass Israel-Kritik eher verhalten ausfällt.

In diesem Artikel geht es nicht um Recht- oder Unrechtmäßigkeit der Staatsgründung oder inhaltliche Kritikpunkte an der israelischen Besatzungspolitik. Es dreht sich um die Frage, ob es zulässig ist, Kritiker Israels pauschal als Antisemiten zu bezeichnen. Zunehmend drängt sich der Eindruck auf, dass „Antisemit“ genauso zur Diffamierung genutzt wird, wie „Verschwörungstheoretiker“ oder „Querfrontler“.

Versuch einer begrifflichen Einordnung

Zunächst einige Definitionen, die der Wikipedia entnommen wurden, da diese nicht im Verdacht steht, antisemitisch zu sein. Sie sollen ein gemeinsames Verständnis schaffen, da Begriffe auch anders verstanden und genutzt werden.

Als Semiten werden (historische) Völker bezeichnet, die eine semitische Sprache sprechen. Zionismus bezeichnet eine Nationalbewegung und nationalistische Ideologie von Juden, die auf einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zielt. Nakba beschreibt die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinensern nach der Staatsgründung 1948.

Für Israel-Kritik fand sich keine Definition. Was wohl daran liegt, dass auch keine Definition zu „Deutschland-Kritik“ oder „Frankreich-Kritik“ zu finden ist. Hier wird der Begriff als Kritik am politischen Handeln der Regierung Israels verstanden.

Antisemitismus ist eine mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründete Judenfeindlichkeit, die etwa seit dem Jahr 1800 in Europa auftritt. Antizionismus ist ein Sammelbegriff für gegen den Zionismus gerichtete politische Ideologien. Mitunter bestehen enge Zusammenhänge zur Judenfeindlichkeit.

Der Satz „Mitunter bestehen enge Zusammenhänge zur Judenfeindlichkeit“ führt bei Anhängern Israels zu Aussagen wie: „Antizionismus beinhaltet immer auch Antisemitismus." Da ist die Konsequenz: „Israel-Kritik heißt Antisemitismus“ naheliegend. Verständnis für die Lage der Palästinenser findet man in diesen Kreisen nicht. Kritik wird oft sofort als antisemitische Hetze abgetan. Obwohl die Legende des unbesiedelten Landes genau das ist, was das Wort besagt: eine Legende.

Für die Gründer Israels waren die 1,3 Millionen Araber, die sich 1947 in Palästina befanden, ein Problem. Die Politik der zionistischen Bewegung war lange vor der Gründung des Staates und vor der Shoa auf Landgewinn ausgerichtet. Das belegt unter anderem ein Brief von Ben Gurions an seinen Sohn. Darin machte er 1937 deutlich, dass eine Teilung in ein jüdisches und arabisches Gebiet nicht von Dauer sein würde:

„My assumption (...) is that a Jewish state on only part of the land is not the end but the beginning. (...) The establishment of a state, even if only on a portion of the land, is the maximal reinforcement of our strength at the present time and a powerful boost to our historical endeavors to liberate the entire country.“

Wer das erwähnt, ist oft „Antisemit“. Trotzdem gibt es Menschen, die sich auch öffentlich kritisch über die Lage in Israel aussprechen. Einige von ihnen, denen man kaum klassischen „Antisemitismus“ vorwerfen kann, werden hier vorgestellt. Alle genannten Israelkritiker mit deutschem, US-amerikanischem beziehungsweise kanadischem, isländischem, französischem oder israelischem Pass verbindet eines: ihre jüdischen Wurzeln.

Folgt man der Wikipedia, ist der Antisemitismus-Vorwurf hier völlig absurd. Es gibt zwar – man glaubt es kaum – jüdische Holocaust-Leugner, die die antisemitischen Ressentiments bedienen, sie stellen aber eine extrem kleine Gruppe dar. „Self-hating Jews“ ist eine weitere Abwertung von Menschen, die sich trotz ihrer jüdischen Wurzeln nicht in die Geiselhaft der israelischen Politik nehmen lassen. Es ist aber schwer möglich, allen ein derartiges psychologisches Problem zu attestieren. Auch wenn sie, ob ihres unterschiedlichen Grades an Radikalität in ihrer Kritik, mehr oder weniger anerkannt sind.

Israelkritik aus Israel – eine (mutige) Minderheit

Der frühere Außenminister Moshe Dayan begriff noch, warum Palästinenser sich wehrten.

„We came here to a country that was populated by Arabs and we are building here a Hebrew, a Jewish state; instead of the Arab villages, Jewish villages were established. You even do not know the names of those villages, and I do not blame you because these villages no longer exist. There is not a single Jewish settlement that was not established in the place of a former Arab Village.”

Der General benennt Konflikt und Wurzeln, ohne von Antisemiten zu sprechen.

Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Avi Primor sagt 2015:

„Die Kritik gegen Israel heute ist nicht unbedingt, bei den meisten Kritikern jedenfalls nicht, eine Kritik gegen den Staat Israel, auch nicht eine Kritik gegen das Volk Israel. Es ist eine Kritik gegen eine bestimmte Politik, und die wird verschwinden, sobald diese Politik verschwindet.”

Dass der Begriff systematisch verwendet wird, um Menschen anzuprangern, die Israel kritisieren, erfährt man von der verstorbenen Shulamit Aloni, früher israelische Ministerin für Erziehungsfragen, Knesset-Abgeordnete, Chefin der Meretz-Partei und Menschenrechtsaktivistin . Auf die Frage „Häufig wenn Widerspruch in den USA gegen die israelische Regierung geäußert wird, dann werden diese Leute hier antisemitisch genannt. Was ist Ihre Antwort darauf als eine israelische Jüdin?“ antwortete sie:

„Nun, das ist ein Trick. Den wenden wir immer an. Wenn jemand aus Europa Israel kritisiert, dann bringen wir ‚den Holocaust‘ hoch. Wenn Leute in diesem Land Israel kritisieren, dann sind sie antisemitisch.“

Zu Israel-Kritikern gehören viele Veteranen, oft Offiziere von Breaking the Silence, die das Verhalten der israelischen Armee und Regierung anprangern und Übergriffe per Foto und Video dokumentieren. Weitere regierungskritische Organisationen sind B'Tselem, Peace Now, Gusch Schalom, Standing Together und Woman Wage Peace. Wer sich über die Entwicklung mit regierungskritischen Blick auf dem Laufenden halten möchte, dem sei Haaretz oder +972 Magazine empfohlen. Auch einzelne Persönlichkeiten aus Israel treten öffentlich gegen die Politik auf, wofür sie nicht selten bedroht werden. Dazu gehören unter anderem David Sheen, Jeff Halper, Shlomo Sand, Uri Avnery, Michel Warschawski, Lizzie Doron und Amira Hass.

Nicht fehlen darf der Filmemacher Yoav Shamir, der nach eigener Aussage als israelischer Jude nie Antisemitismus erfahren hat, obwohl der Begriff in Israel aber überall zu finden sei. Auf einer Reise mit israelischen Jugendlichen zu Holocaust-Mahnmalen in Polen wird deutlich, warum das Bedrohungsgefühl in Israel so stark ist. Hier keine Manipulation oder Propaganda zu sehen, fällt schwer. Der Film ist dank seiner Ehrlichkeit überzeugend. Er bietet einen fast humorvollen Blick auf die traurige Realität der Antisemitismus-Propaganda.

Orthodoxe Antizionisten – „jüdischer“ geht es kaum

Vereinfacht gesagt: (ultra)orthodoxe Juden sind etwas Besonderes in der Welt von heute. Sie leben die Religion nicht nur getreu der Thora, sie widmen ihr Leben dem Studium der Thora und sehen sich als die echten Bewahrer des jüdischen Glaubens. Nach diesem Glauben darf es den Staat Israel nur für Juden nicht geben. Viele verurteilen die Verbrechen an den Palästinensern und deren Vertreibung scharf und suchen auch mit ausgesprochenen Gegnern Israels das Gespräch. Sie werden nicht selten Opfer antisemitischer Gewalt, weil sie aufgrund der äußeren Erscheinung als Juden erkannt und mit Zionisten in einen Topf geworfen werden. Seitens der israelischen Staatsmacht werden sie verfolgt, weil sie den Staat nicht anerkennen.

Einer der bekanntesten Vertreter ist Rabbi Weiss Sprecher der antizionistischen Gruppe Neturei Karta, der den friedlichen Protest gegen die Existenz des Staates vorantreibt. Seine kritischen Positionen gegenüber dem Holocaust führten zu scharfer Kritik, obwohl er sich selbst als Stimme der Opfer bezeichnet und seine Großeltern in Auschwitz verloren hat. Reuven Cabelman ist Berliner Sprecher der Gruppe, die darauf hin weist, dass die Führung des zionistischen Staates keinerlei Recht dazu hat, die jüdischen Opfer des 2. Weltkrieges als „Alibi“ für die Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu missbrauchen. Für ihn ist „Antizionismus alles, nur kein Antisemitismus. Solange dieser feine, aber wichtige Unterschied nicht begriffen wird, bleibt der Philosemit bzw. der Prozionist der wirkliche Antisemit.“

Israelkritische Nachgeborene der Opfer im „Land der Täter“

Deutschland ist verpflichtet, mit Antisemitismus besonders sensibel umzugehen. Antisemitische Vorfälle dürfen sich nicht häufen. Um dem entgegenzuwirken, hat es sich die Amadeu Antonio Stiftung auf die Fahnen geschrieben, antisemitische Vorfälle zu dokumentieren. Findet man aber auf der Webseite unter „Antisemitische Vorfälle 2016“ folgendes: „30.11.2016, Charlotte Knobloch wird abgemahnt“ und weiter „Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, verliert in einem Gerichtsprozess gegen den Publizisten Abraham Melzer.“, wird es abstrus. Abraham Melzer ist Jude, was dem Besucher der Webseite aber nicht mitgeteilt wird. Es gilt als antisemitischer Vorfall, wenn eine Jüdin gegen einen Juden einen Prozess führt und diesen verliert. Da fragt man sich, ob der Vorfall aufgeführt worden wäre, wenn Melzer verloren hätte.

Abraham Melzer gehört zu den bekanntesten Israelkritikern im deutschsprachigen Raum. Der Herausgeber der Webseite der-semit.de „Die andere jüdische Stimme“ und Buchautor von „Die Antisemitenmacher“ sagt öffentlich:

„Israel-Kritik ist nicht antisemitisch.“

Der Initiator der Berlin Erklärung Schalom 5767 und früheres Mitglied im Zentralrat der Juden Rolf Verleger ist ein deutscher Psychologe, Hochschullehrer und Essayist. Der Sohn von Shoa-Überlebenden äußert sich seit 2006 kritisch zu den „militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung gegen den Libanon“ und zu der Israel unterstützenden Haltung des Zentralrats hierzu, worauf er seine Funktionen in der jüdischen Gemeinde verlor. In einem TAZ-Interview sagt er 2016:

„Antisemit ist nicht, wer Israels Politik kritisiert. Den Groll gegen die Juden befördert, wer jede Kritik unterbindet.“

Und er geht noch weiter:

„Ich finde es antisemitisch, das zu unterstützen, was Israel macht. (…) Weil es sich gegen die zentrale Botschaft des Judentums richtet. (...) Die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen, die Israel begeht, unhinterfragt hinzunehmen, finde ich aber in letzter Konsequenz antisemitisch.“

Ernst Tugendthat, Michal Bodemann und Wolfgang Edelstein gehören zu den jüdischen Erstunterzeichnern der Berliner Erklärung.

Auf der Webseite Soziale Opposition findet man die Übersetzung eines Briefes, den Albert Einstein, Hanna Arendt und 26 weitere jüdische Intellektuelle bereits 1948 verfassten und in der New York Times veröffentlichten:

„Zu den beunruhigendsten politischen Phänomenen unserer Zeit im neu geschaffenen Staat Israel gehört der Aufstieg der ‚Freiheitspartei‘, einer politischen Partei, die in ihrer Organisation, ihren Methoden, ihrer Politik, Philosophie und ihrer gesellschaftlichen Ausrichtung den Nazis und Faschisten ähnelt. Sie wurde aus der Mitgliedschaft und den Anhängern des ehemaligen Irgun Zvai Leumi, einer terroristischen, rechtsgerichteten und chauvinistischen Organisation in Palästina, gebildet.“

Die heute häufig kritisierten Vergleiche der israelischen Regierung mit Nazis und Faschisten stellten für diese kritischen Denker kein Problem dar.

Die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost verwehrt sich wie viele andere Juden scharf dagegen, dass Zionisten und andere sich anmaßen, die Juden weltweit für sich zu vereinnahmen. Unbedingt erwähnt werden müssen auch Felicia-Amalia Langer, Evelyn Hecht-Galinski, Judith und Reiner Bernstein sowie Alfred Grosser für ihr Engagement, das ihnen häufig sehr viel Kritik einbringt.

Jüdische Israelkritik aus den USA

In den USA ist die Israel-Lobby enorm stark vertreten. AIPAC, das American Israel Public Affairs Committee gilt mit über 100.000 Mitgliedern als die stärkste Gruppe. Das 2007 von den Professoren John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt veröffentlichte Buch „The Israel Lobby“ führte zu enormen Kontroversen und war ein Tabubruch. Es beleuchtet den Einfluss der Israel-Lobby auf die US-Außenpolitik:

„Sie definieren sie als ‚lose Koalition von Einzelpersonen und Organisationen‘, die sich aktiv dafür einsetzen, die amerikanische Außenpolitik in eine israelfreundliche Richtung zu steuern. Die Autoren legen Wert darauf, dass es nicht angemessen sei, von einer ‚jüdischen‘ Lobby zu sprechen, da nicht alle Juden eine enge Bindung an Israel haben und einige Unterstützer der Lobby keine Juden seien – ‚christliche Zionisten‘ spielten ebenso eine bedeutende Rolle.“

Das Verhalten von US-Politikern erweckt den Eindruck, dass es kaum möglich ist, die USA gegen den Willen der AIPAC zu regieren. Die Auftritte von Georg Bush, Barak Obama, Hillary Clinton oder Donald Trump bei den Konferenzen sprechen für sich.

Trotz dieser weltweit wohl stärksten Lobby im Namen Israels gibt es in den USA zahlreiche jüdische Kritiker israelischer Politik. Der Cicero schreibt:

„Es gibt immer mehr linke jüdische Aktivisten und Publizisten in den USA, die sich gegen die israelische Militärpolitik stellen. Dazu zählen Philip Weiss, der sich als Anti-Zionist bezeichnet und das Blog Mondoweiss.com betreibt, der Autor Max Blumenthal (Sohn des Clinton-Beraters Sidney Blumenthal), und Amy Goodman vom TV-Programm „Democracy Now"".

Ferner führt der Artikel

  • Henry Siegman, früherer Direktor des American Jewish Congress und orthodoxer Rabbi
  • MJ Rosenberg, früherer Mitarbeiter der Israellobby AIPAC, der für die Huffington Post schreibt
  • David Remnick, Chefredakteur des New Yorker, der das „israelische Blutvergießen" in Gaza beklagte
  • Peter Beinart, Journalismus-Professor an der City University of New York und liberaler Zionist, der heute den Boykott von Waren aus Westbank unterstützt
  • Jon Stewart, Host im Comedyprogramm „Daily Show“, kritisierte Hillary Clinton für ihre pro-israelische Haltung
  • liberale Publikationen wie der Jewish Forward, die zunehmend israelkritisch werden wie deren Kolumnist J.J. Goldberg

auf. Nicht fehlen dürfen Judith Butler und Larry Cohler-Esses, die sich auch kritisch positionieren.

Der linke Intellektuelle Noam Chomsky ist unter anderem für seine Kritik an der Politik Israels weltweit bekannt. Der emeritierte Professor für Linguistik am MIT unterstützt seit 2008 das Free Gaza Movement, das er als „mutiges und notwendiges Unterfangen“ bezeichnet. In einem Interview heißt es unter anderem:

„Israel’s Actions in Palestine are much worse than Apartheid in South Africa.“

Der New Yorker Politikwissenschaftler Norman G. Finkelstein verfasste kritische Werke zum Zionismus, dem Nahostkonflikt und zum Gedenken an den Holocaust. Sein Buch „Die Holocaust-Industrie“ setzte Finkelstein massiver Kritik aus. Nachdem aber seine Familie zu den Opfern des Holocausts gehört, die Eltern überlebten das Warschauer Ghetto, die Mutter das KZ Majdanek, der Vater Auschwitz, alle anderen wurden umgebracht, kann man ihn nicht so leicht diskreditieren.

Israelische Exilanten – erneut in der Diaspora

In der Linken Zeitung erschien 2016 der Artikel „Auswanderung aus Israel als politische Tat“ von Naaman Hirschfeld. Der Doktorand aus Berlin bezeichnet sich als Post-Israeli, da er Israel 2012 verlassen hat.

„Ich war ein Kind zur Zeit der Oslo-Abkommen. Es gab Hoffnung. Heute gibt es keine Hoffnung, weder auf Frieden noch auf Veränderung in Israel. Dieses Land ist ein sinkendes Schiff.“

Die jüdische Antifaschistische Aktion in Berlin wurde als linke Bewegung, in der Israelkritik erlaubt ist, gegründet und steht allen offen. Zu den Partner-Organisationen mit denen man sich solidarisiert gehören unter anderem die BDS-Bewegung, die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, das 972Magazine, Breaking the Silence oder B’Tselem. Die dort organisierte jüdisch-israelische Linke ist systematischer Gewalt seitens deutscher – israel-höriger – Linker ausgesetzt.

Miko Peled, „der Sohn des Generals“, kam in Jerusalem zur Welt. Er lebt in den USA und setzt sich vehement für die Palästinenser ein. Das besondere an ihm ist der Anlass, bei dem er Aktivist wurde: 1997 wurde seine Nichte von einem palästinensischen Attentäter getötet. In seinem Buch wird deutlich, was das für ihn bedeutete:

„Statt aus diesem traumatischen Ereignis die Konsequenz zu ziehen, die Araber und Palästinenser zu hassen, schlug er den entgegengesetzten Weg ein und widmete sich konsequent der Frage: Wie konnte es zu diesem furchtbaren Ereignis kommen? Wer sind die Menschen, aus deren Mitte dieses Attentat hervorging? Was haben wir, die Israelis, getan, um sie zu solchen Aktionen zu treiben? Und noch wichtiger: Wie können wir, Israelis wie Palästinenser, eine Situation schaffen, in der zwischen uns Frieden herrscht statt eine sinnlose, zerstörerische Feindschaft, auf deren Altar täglich Menschenleben geopfert werden?“

Der Israeli Moshe Zuckermann arbeitet seit 2009 an der Sigmund-Freud-Privatstiftung in Wien. In einer Buchrezension, die er in der Süddeutschen Zeitung 2013 veröffentlichte, wird er deutlich:

„Israel betreibt seit Jahrzehnten ein Okkupationsregime gegen die Palästinenser. Doch besonders in Deutschland verweigere man sich dieser Realität. (…) Die Unbescholtenheit von "Juden = Zionisten = Israelis" darf auf keinen Fall infrage gestellt werden; sie allein garantiert die Makellosigkeit derer, mit denen man sich solidarisieren muss, um sich selbst – ‚wiedergutmachend‘ – moralisch schadlos zu halten.“

Weitere bekannte Antizionisten, die Israel verlassen haben, sind Ilan Pappe, Udi Aloni, Tanya Reinhart und Elias Davidsson.

Resümee

Diese Menschen und Organisationen sind ein Ausschnitt aus einer Welt, die Zionisten und nichtjüdische Philosemiten am liebsten ignorieren. Es sind aber schon zu viele Menschen mit jüdischen Wurzeln oder jüdischen Glaubens, die sich als erklärte Anti-Zionisten „outen“. Und sie machen deutlich: Antisemitismus und Israel-Kritik müssen voneinander getrennt werden. Eine Gleichsetzung würde bedeuten, dass alle Juden für die Politik der israelischen Regierung zur Verantwortung gezogen werden sollen. Warum sollten deutsche, US-amerikanische, isländische aber auch israelische aktive Gegner der israelischen Politik für die Verbrechen der israelischen Regierung verantwortlich sein? Ist das nicht geradezu rassistisch?

Zum Abschluss eine Bitte. Wagt es, nicht nur kritisch zu denken. Wagt es, eure Kritik auszusprechen. Aber bleibt differenziert. Sprecht nicht von „den Juden“ oder „den Israelis“. Das befeuert Antisemitismus. Sprecht von israelischer Politik oder der israelischen Armee. Diese Unterscheidung wird von vielen Menschen mit jüdischen Wurzeln geteilt.

„Im Interview wurde er gebeten, ein paar Worte dazu zu sagen, was man machen könne, um dem jüdischen Israeli und dem Palästinenser, die im Saal anwesend waren, ein friedlicheres Leben zu ermöglichen. Er schaute kurz zu den beiden Männern hinüber und sagte dann: ‚Ich sehe keinen Palästinenser. Ich sehe auch keinen Israeli. Ich sehe nur zwei Menschen.‘ Der Interviewer fragte ihn etwas irritiert, ob er die Frage nicht richtig verstanden hätte. ‚Doch, doch!‘, antwortete er. ‚Aber Sie haben meine Antwort nicht verstanden.‘“ (Wolfgang Süss)


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Weiterführende Informationen zu den hier genannten Israel-Kritikern beziehungsweise weitere Antizionisten mit jüdischen Wurzeln findet man in der Langfassung dieses Artikels.

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