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Angstfrei

Angstfrei

Nur wenn wir uns von gefühlten Abhängigkeiten befreien, können wir ein neues Vertrauen in das Leben entwickeln.

Die Geburt einer neuen Zeit

Wir erleben derzeit in der Welt die Schlussphase der patriarchalen Epoche, die Jahrtausende Menschheitsgeschichte mit Gewalt geprägt hat. Diese Gewalt hat alle möglichen Formen angenommen, sie durchdringt alle Lebensbereiche und ist dabei fast unsichtbar geworden. Ihre Grammatik ist unscheinbar, geht es doch um „Fakten“, Zahlen, Inzidenzen, um „Systemrelevanz“ oder „Alternativlosigkeit“, um „Arbeitskraft“ oder „Personalfreistellung“. Der Mensch wird zum „Prosumenten“ (1), zum Cybernanthrope (2), der sich selbst nach Kriterien der Ökonomie definiert.

Wir sind gewalttätig in der Erziehung und Bildung, im Umgang miteinander und mit der Natur, im Umgang mit unseren Mitgeschöpfen auf dieser Welt, und wir sind gewalttätig im Umgang mit uns selbst. Alles, was wir sind und tun, unterwerfen wir dem strengen patriarchal geprägten Zensor in uns, vor dem wir nie genügen.

Dadurch haben wir eine Welt des Mangels geschaffen, weil wir selbst tief in unserem Innern nicht an unseren Wert glauben. In dieser Welt gibt es den Begriff der Schuld, einer Schuld, die immer weitergegeben und scheinbar nie aufgelöst wird.

Folgelogisch ist unsere ganze Wirtschaft und unser Finanzsystem auf Schuld aufgebaut: Schulden sind das äußere Symbol einer inneren Wertehaltung.

Schuld verursacht Angst, denn: Tief im Keller unserer Seele haben wir verinnerlicht, dass es eine strafende Instanz gibt, der wir irgendwie ausgeliefert sind.

Unsichtbare Schuldprojektionen

Inzwischen glauben wir natürlich, diese strafende Instanz abgeschüttelt zu haben. Wir haben aber das Programm nicht gelöscht, denn wir versuchen uns durch Fleiß und Gehorsam freizukaufen, wir sehen den Menschen in calvinistischer Manier als ungenügend, wir waschen bereitwillig unsere „Hände in Unschuld“ — symbolisch vor jedem Betreten eines Geschäftes mit Desinfektionsmittel. Wir sind eben unrein, unser Selbstbild ist nicht makellos, es korreliert daher gerne mit der Idee von Viren, welche wir als Projektion unserer eigenen Unreinheit und Schuld nutzen können.

In einer Welt, in der Schuld als tiefe, unbewusste Wirkkraft vorhanden ist, muss Gewalt zur Normalität gehören. Schuld ist eben keine Verantwortung.

Schuld ist eine Last, während Verantwortung mit Würde und Kompetenz zu tun hat.

Noch immer gibt es also kein Bild vom Menschen, welches ihn wirklich in seine Würde hebt. Unbewusst halten wir an der Idee der Erbsünde fest — und wir wollen endlich befreit werden von dieser Last. Bei dem Versuch, Schuld loszuwerden, verlagern wir sie. „Die Anderen“ sollen sie haben: China, die Superreichen, die Eliten, die Flüchtlinge, die Großindustrie, die Faschisten, und so weiter. Und wir begegnen uns nicht mehr mit Wertschätzung, sondern in einem ewigen Gegeneinander. Wir Menschen behandeln uns schlecht, seit Jahrtausenden. Der Mensch ist des Menschen Wolf; alles Leid geht vom Menschen aus.

Ein angsterzeugendes Selbstverständnis

Darüber hinaus hat der moderne Mensch auf breiter Ebene seinen Glauben verloren, und damit sein Aufgehoben-Sein im Kosmos und in Gott. Er hat den strafenden Gott zwar abgeschafft, aber dessen Begleit-Annehmlichkeit gleich mit: Da gibt es keinen höheren Zweck und Sinn mehr in unserem Dasein, und eine ewige Existenz schon gar nicht. Wir haben einen religionsfreien Glauben der „Vernunft“ erschaffen — doch ist die Vernunft eine „Hure“, wie Martin Luther es ausgedrückt hat, und die Welt ist global unvernünftig wie noch nie. Diese Welt ist für uns keine Heimat mehr, sondern eine Gefahr.

Die inhärente Gewalt mag auch hier ihre Ursache haben; im Aufbäumen gegen die eigene scheinbare Bedeutungslosigkeit mit ihrer scheinbaren Vergänglichkeit, ein Schrei gegen das Leben mit all seiner Ungerechtigkeit und Willkür. Warum Rücksicht nehmen, wenn ich doch irgendwann willkürlich verschlungen werde vom großen und alles zermalmenden Nichts, wie es uns der stille Duktus aktueller Wissenschaft eintrichtert?

Und natürlich erzeugt diese Vorstellung gemeinsam mit der Schuld Angst. Und der Versuch, Schuld und Angst loszuwerden, erzeugt zwangsläufig eine Welt der Kontrolle.

Nur ist Kontrolle eine reine Eigenschaft des menschlichen Geistes.

In der Natur gibt es keine Kontrolle. Der Versuch, das Angsterzeugende selbst zu kontrollieren, erschafft immer mehr davon. Es ist der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Genau genommen ist Kontrolle der Lebendigkeit diametral entgegengesetzt. In den Dynamiken des Lebens finden wir nämlich nur Kooperation: Wenn etwas „bekämpft“ wird, wie zum Beispiel ein Virus, dann, weil ein Immunsystem mit dem Ganzen kooperiert. Es wirkt nicht isoliert im Körper, als „Waffe“ oder „Task Force“. Diese Kooperationsfähigkeit werden wir erlernen müssen, wollen wir dauerhafter Teil dieser Welt bleiben — und uns darin sicher und geborgen fühlen. Wir existieren aus einer Welt des harmonischen und dynamischen Miteinanders aller Kräfte und Elemente heraus. Nur der Mensch hat die Macht, dieses Gleichgewicht zu beeinflussen. Er ist ein Wesen, welches seine eigene Evolution — zumindest teilweise — selbst bestimmen kann. Nun muss er lernen, dafür Verantwortung zu tragen.

Lebendigkeit versus Kontrolle

Die Vorstellung eines großen synergetischen Aufeinander-bezogen-Seins kann die Ethik, die in der patriarchalen Epoche gebildet wurde, nicht nachvollziehen. Sie ist ihr sogar wesensfremd, denn es ist eine Ethik der Trennung: Sie hat den Menschen von der „Natur“ getrennt, das Männliche vom Weiblichen, sie hat „Gut“ von „Böse“ getrennt, sie hat den Planeten mit imaginären Grenzen überzogen. Diese Ethik muss ausschließen, sie kann nicht inkludieren, was nicht zu ihr passt.

Diese Ethik verursacht aufs neue Angst: Wenn die persönliche Haltung oder Meinung außerhalb der aktuellen Maßstäbe dieser Ethik, des verordneten „Richtig“, liegt, erwarten uns Repressalien und gesellschaftlicher Ausschluss. Vielleicht steht sogar unsere wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel!

Kontrolle erzeugt Starrheit und Unbeweglichkeit. Leben aber ist Wandel und Veränderung. Alles Starre wird vom Leben auf Dauer zermalmt werden. Der Fluss des Lebens will Wachstum, keine Konsolidierung oder Fixierung. Die Evolution, die uns und alles andere hierhergebracht hat, hält keinen Sabbat. Sie „will“ weiter, und sie will Bewusstwerdung. Wir können in logischer Konsequenz postulieren: Wir sind die Verkörperung dieses Prozesses.

Wenn die Kur schlimmer ist als die Krankheit

Wie kann ich meiner Angst also begegnen? Kann ich sie auflösen, indem ich so viele Informationen wie möglich ansammle? Oder indem ich selbst informiere? Bedenke: Information hat noch nie zu einer umfassenden und allgemeingültigen Wahrheit geführt.

Angst kann nur dort existieren, wo Hilflosigkeit ist. Und die Hilflosigkeit gedeiht nur auf dem Boden des Vertrauensmangels. Dieser Formel folgt die Frage: Wem soll ich vertrauen?

Wir brauchen die „Religio“, die Rückanbindung an den schöpferischen Prozess, der lebendig ist, wachsen will und den wir selbst verkörpern. Dieser Prozess hat seinen Quellgrund in der „heiligen Matrix“, die immer das Leben will. Wie das Kind sich in die Geborgenheit elterlicher Stärke zurücklehnen kann, so muss sich der reife und wirklich erwachsene Mensch zurücklehnen in die Sicherheit der Existenz selbst.

Freiheit definieren

Die Freiheit, die dem Menschen ganz und gar gemäß ist, ist kein Privileg, welches uns von Instanzen der Kontroll-Ethik zugesprochen wird. Freiheit ist eine Eigenschaft des Bewusstseins, dessen Verkörperung und Träger wir als Menschen sind. Wir hatten sie zu keinem Zeitpunkt nicht.

Wir haben sie in genau dem Maße, in dem wir sie uns selbst zugestehen und erlauben. Diese Freiheit orientiert sich am Leben und an dem, was dem Leben förderlich ist. Diese Freiheit erkennt, dass wir nicht für das Leben sorgen müssen, sondern dass das Leben für uns sorgt, wenn wir mit ihm kooperieren. Jeder Spatz ist dazu besser in der Lage als wir Menschen.

Kontrolle kann also keine Sicherheit erzeugen. Das sehen wir in unserer Zeit klar und deutlich. Was sonst also kann Sicherheit erzeugen? Nur Vertrauen.

Wie geht Vertrauen?

Leider ist unsere Vorstellung von dem, was Vertrauen eigentlich ist, sehr von der patriarchalen Ethik deformiert worden. Das, was wir im Allgemeinen darunter verstehen, ist mehr ein „Deal“: Erst wenn ich weiß, was als Nächstes geschieht, wenn ich dich kalkulieren kann, dann kann ich diesen Schritt tun. Das ist allerdings kein Vertrauen.

Echtes Vertrauen hingegen besteht aus mehreren Ebenen.

Auf der ersten Ebene ist da zunächst die Hingabe an die Existenz an sich, die Existenz, die Leben ermöglicht hat und mich durchströmt. Alles ist eingebettet in etwas Größeres, was ich nie völlig erfassen kann.

In nächster Instanz ist Vertrauen das Wissen um meine Schöpferkraft, meine Natur als „Filiale Gottes“, in welcher ich immer und pausenlos durch Resonanz zwischen der Potentialität und meiner inneren Haltung meine eigene Wirklichkeit erzeuge. Das geschieht natürlich auch kollektiv.

Auf der dritten Ebene ist Vertrauen das uneingeschränkte „Ja“ zur Gegenwart. Ich erkenne an, dass diese Gegenwart die Kulmination aller vorangegangener Bedingungen ist. Damit kann ich meine BeWERTungen hintenanstellen.

Dem folgt die vierte Ebene des Vertrauens: Ich begegne der Welt mit diesem „Ja“ und versuche nicht, sie meinen Erwartungen gewaltsam anzupassen.

Jetzt erst kann ich wirklich Einfluss auf sie nehmen. Der Wille unterwirft sich und hört auf, gegen das Leben und das, was gerade ist, zu kämpfen. Er wirkt dann als Diener der schöpferischen Kraft, nicht als deren Kontrolle. Aus dem Herrn wird ein Werkzeug.

Vertrauen ist der aktive Affekt der Liebe. Liebe wiederum ist die Verbundenheit (mit) aller Schöpfung. Liebe ist also keine isolierte persönliche Erfahrungsqualität, Liebe ist eine alles durchdringende schöpferische Motivation, die Eigenschaft des Göttlichen beziehungsweise des Lebendigen im Kosmos.

Erst in diesem Aufeinander-bezogen-Sein ist echtes Wachstum und Gedeihen möglich, Lebendigkeit, und nicht nur reines Funktionieren, wie wir es aus unserer durchökonomisierten Welt kennen, in der wir uns so oft selbst leidvoll wiederfinden.

Lebendigkeit heißt: in Beziehung sein. In einem solchen Bezogen-Sein hat Angst keinen Boden.

Jetzt kann ich alles als sinnhafte Erfahrung erkennen, ich kann eine Haltung dazu entwickeln und erkenne meine mentale und sittliche Freiheit. Niemand kann sie mir zu- oder aberkennen. Von hier aus bin ich wirklich handlungsfähig. Daraus kann ich echte Dankbarkeit schöpfen: Die Angst löst sich auf, ich erkenne sie als Projektion meines Geistes, der ihr mit Kontrolle zu entkommen versuchte.

Dann können die Qualitäten der neuen Zeit entstehen: Eine neue Zärtlichkeit, mir selbst und dem feinen Gewebe alles Lebendigen gegenüber, eine neue Wertschätzung für mein Dasein, eine neue Hingabe, dem Leben und seinem Geschehen gegenüber.

Eine Neugier auf das, was geschieht, kann die Kontrolle ablösen, und ich kann geschehen lassen. Ein frisches Unwissen den Wundern des Lebens gegenüber darf den Zwang ablösen, alles erklären zu müssen. Eine neue Demut, die Raum für das Heilige lässt, darf sich herausbilden, ein neuer Sinn für das WIR, in dem das isolierte und verlorene Ich echte Heimat und Freiheit finden kann.

Eine Welt kann entstehen, die nicht durch Angst geprägt, sondern dem Gedeihen verpflichtet ist.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Klaus-Joachim Rossbroich: „Woher kommt und wohin geht Europa?“, wbg, 2019
(2) Henri Lefebvre in: Frankfurter Rundschau, Nr. 104, Mai 1979

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